Archiv der Kategorie: Schule und Lesen + Schreiben

„Es werden inkompetente Lehrer erzeugt“

Lehrerausbildung und zu viele Quereinsteiger sorgen für weniger Professionalität unter den Lehrern, kritisiert der Historiker und Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth, Humboldt-Universität zu Berlin

FAZ, 28.12.2017, Bildungswelten, Heike Schmoll im Interview mit Prof. Tenorth

[…] Heike Schmoll: In Sachsen und Berlin wird inzwischen der Grundschulunterricht mit über 50 Prozent Quer- bzw. Seiteneinsteiger in den Lehrerkollegien aufrechterhalten. Wo liegen die Gefahren des Unterrichtens ohne ausreichende didaktische und pädagogische Schulung?

Prof. Tenorth: Es fehlen vor allem die lehramtsspezifischen Fähigkeiten – für die Grund- oder Berufsschule – und die pädagogisch-psychologischen Kompetenzen. Es gibt zwar ein Fachwissen, aber nicht die Erfahrung, es einem Lehrplan zeitlich, sachlich und adressatenspezifisch zuzuordnen, anregende Aufgaben zu erfinden und qualifizierte Rückmeldungen zu geben. Die Lehrenden können die Erfahrungen, die sie machen, auch ihre Fehler, nicht angemessen zurechnen und selbstkritisch einordnen, sie schreiben Misserfolge den Schülern zu oder verzweifeln, was genauso verfehlt ist. Das ist besonders für die Grundschule fatal, weil damit Motivation und Neugier der Kinder enttäuscht und die Fundamente für alles weitere Lernen nicht aufgebaut werden.

Wie kommt man denn aus diesem Dilemma raus? Sind Coaching und berufsbegleitende Fortbildung nicht zu wenig?

Solch kurzfristigen Maßnahmen sind wenig erfolgreich, weil die Quereinsteiger viel zu früh viel zu viel Unterricht halten müssen und die Kollegen, die sie betreuen und einführen sollen, genauso überlastet sind. Wenn die Quereinsteiger in der Schule und im Kollegium lernen sollen und nicht in der Universität, fehlt richtige Unterstützung. Die betreuenden Mentoren werden nicht freigestellt, bekommen ihre Arbeit nicht honoriert, ihre Motivation wird systematisch zerstört, und man betreibt sehenden Auges eine Entprofessionalisierung des Lehrerberufs.

Zugleich ist die Botschaft aller Leistungsstudien, dass es auf die Professionalität der Lehrer und die Qualität des Unterrichts ankommt.

Ja, aber dann müssen Lehrer erstens Experten ihrer Fächer sein, zweitens Fachdidaktik gelernt haben, um Lernprozesse sach- und adressatenspezifisch organisieren zu können. Und sie müssen drittens pädagogisch-psychologisch kompetent sein, schon um mit den Schwierigkeiten im täglichen Unterricht fertig zu werden. Also mit Störungen, mit schwierigen Schülern, mit den Stundentakten, mit eigenen Enttäuschungen. Erst dann gibt es die Ruhe, trotz des alltäglichen Chaos handlungsfähig zu bleiben. All das fehlt den Quereinsteigern, und das ist in kurzer Frist nicht zu erlernen, das dauert acht bis zehn Jahre. […]

Gibt es für Sie eine Grenze der Heterogenität für einen gelingenden Unterricht, wenn Sie auf die aktuelle Flüchtlingswelle schauen?

Wir haben natürlich schon früher keine homogenen Lerngruppen gehabt. Es gibt immer, selbst an Gymnasien, unterschiedliche kognitive Voraussetzungen, unterschiedliche Schulerfahrungen, Differenzen der Geschlechter, des kulturellen Hintergrundes oder der Erwartungen der Peergroup oder der Eltern oder der Lernenden. Inklusionserwartungen und Migrationserfahrungen erweitern das Spektrum und erzeugen ganz neue Herausforderungen. Dann kann man nicht so tun, als könne man die Gruppe der aktuell kommenden Flüchtlinge rasch nachalphabetisieren oder unterrichtsfähig machen. Das überfordert die Arbeitsfähigkeit eindeutig, denn qualitativ, in den Kompetenzen, und quantitativ gibt es dafür gar kein Personal. Dann schadet man den Behinderten, indem man sie inkludiert, und das ist der harte Skandal. Für die zu integrierenden Flüchtlinge müsste man die Verkehrssprache, die entscheidende Kompetenz, aufbauen. Auf die Frage, wie viele Fachlehrer für Deutsch als Zweitsprache dafür in den Schulen präsent sind, werden die Kultusministerien nicht antworten, weil sie Angst haben, die blamable Realität offenzulegen. Einigermaßen gesichert ist aktuell nur die Kustodialfunktion der Schule, das heißt, sie bewahrt die Schüler auf, dort ist es warm und meist auch zivilisiert – das ist auch was wert.

Aber das ist doch ein bisschen wenig.

Ja, es ist zu wenig. Aber die pädagogischen Programme, die aus dieser Aufbewahrungsleistung etwas machen, fehlen. Viele Lehrer erleben stattdessen kurze Lernzeiten, raschen Wechsel der Schüler, immer neue Anforderungen, überhaupt keine Stetigkeit, ganz zu schweigen davon, dass kaum messbare Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben werden. Die Ganztagsschule wäre nützlich, sie war ja auch mit dem Versprechen angetreten, viele Defizite auszugleichen. Aber die Leistungsdimension fehlt schon in der großen Ganztagsschuluntersuchung. Die haben die Kultusminister – für sich selbst fürsorglich – einfach ausgespart. Gefragt wurde nur nach dem Wohlbefinden.

Die Hoffnung, durch die Ganztagsschule auch die sozial bedingten Unterschiede im Bildungserfolg ausgleichen zu können, ist also Utopie?

Angesichts der Realität von Ganztagsschulen ist es nicht utopisch, sondern blauäugig oder gar eine Täuschung der Öffentlichkeit. Das ginge nur in Ganztagsschulen, in denen auch ganztags gelernt wird, auch mit speziellen Förderprogrammen, reich differenziert. Betreuung allein kompensiert nicht. […]

Was müsste man tun, um das Dilemma zu lösen, dass es Grundschulen offenbar nicht gelingt, die kulturellen Basiskompetenzen so zu vermitteln, dass weiterführende Schulen darauf aufbauen können?

Für die Grundschullehrer müssten die Lernbereiche Deutsch und Mathematik obligatorisch sein. Noch gibt es Länder, in denen man wählen kann. Damit werden mutwillig inkompetente Lehrer erzeugt. Ich wehre mich allerdings dagegen, alle Dilemmata der Schule nur über die Lehrerbildung lösen zu wollen – Kooperation mit den Herkunftsmilieus ist notwendig. Quereinsteiger oder umgeschulte und enttäuschte Gymnasiallehrer sind nicht dazu geeignet, beispielsweise in das Lesen oder den Schriftspracherwerb einzuführen. Man braucht auch genügend Zeit für das Lesen, für das Üben, für das Anwenden. Die Grundschule garantiert die basale Grundbildung nicht, weder im Lesen, Schreiben und der Orthographie, noch für mathematische Basaloperationen oder naturwissenschaftliche Grundeinsichten im Sachunterricht. Wie kann ein Land, eine Schule, eine professionelle Lehrerschaft damit zufrieden sein oder mit dem Befund, dass sie im besten Fall zehn Prozent in den oberen Leistungsstufen hat? [ …]

Hier in Berlin könnte man bei der [Schul-]Verwaltung zuweilen den Eindruck haben, dass man Leistung gar nicht will.

In der Tat gibt es in der Grundschulpädagogik auch die Auffassung, dass man in der Primarstufe nicht leistungsdifferent arbeiten darf, weil das Enttäuschungen bereitet, die Kinder verletzt und ihre Zukunft verbaut – eine Kritik, die ich für aberwitzig halte. Es gibt aber immer noch die Befürworter des Schreibens nach Gehör, die Gegner der Leistungsbewertung und bei allen Bundesländern die Angst, wegen zu strenger Standards schlecht dazustehen. Iglu- und Pisa-Pressekonferenzen sind wohlgeplante Inszenierungen, weil die beteiligten Politiker wochenlang daran gearbeitet haben, nicht über das reden zu müssen, was sie schlecht aussehen lässt. Diese Strategie ist bei allen Bildungspolitikern, gleich welcher Couleur, stark ausgeprägt. Länder wie Bayern tragen das relativ gefasst, weil sie auch relativ gute Ergebnisse haben. Doch auch dort wird daran gefeilt, dass nirgendwo ein kritisches Wort steht, das ein Versäumnis der Bildungspolitik anzeigen könnte. […] Stattdessen hat die Politik ein permanentes Interventionsregime errichtet. Die Politik bejubelt sogar, dass nur noch sechs bis sieben Prozent kein Abschlusszeugnis haben, und ignoriert – gegen die eigenen Kompetenzmessungen –, dass mehr als zwanzig Prozent in der Schule nicht die Kompetenz erwerben, am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt teilzunehmen, und dass etwa 25 Prozent der Ausbildungsverträge nach kurzer Zeit wieder aufgelöst werden, weil elementare Fähigkeiten fehlen. Jetzt fangen die Betriebe an nachzualphabetisieren.

Was bedeutet das für die Abschlüsse?

Die symbolische Garantiefunktion der Abschlüsse ist zunehmend geschwächt. Wer ein Abiturzeugnis hat, ist nicht unbedingt studierfähig. Zeugnisse bescheinigen Kompetenzen, die gar nicht da sind. Die mit dem Zertifikat verbundenen Versprechen werden nicht eingelöst. Statt mit dem Berechtigungssystem Schule und Beruf, Schule und Hochschule, Fort- und Weiterbildung chancenfördernd zu verbinden, also die egalisierende Funktion schulischer Leistungsbewertung zu erhalten, kann es zu einer völligen Entwertung der schulischen Bildung und zu amerikanischen Verhältnissen kommen. […]

zum Artikel:  FAZ, 28.12.2017, Bildungswelten, Heike Schmoll im Interview mit Prof. Tenorth, Humboldt-Universität zu Berlin, Es werden inkompetente Lehrer erzeugt

Grundschulen als pädagogisches Experimentierfeld

Kommentar zur Bildungspolitik: Keine Experimente in der Grundschule

FAZ, 26.10.2017, von Heike Schmoll

Das Bildungsniveau an deutschen Grundschulen offenbart gravierende Mängel. Besonders Berlin fällt mit besonders schlechten Ergebnissen auf. Unterricht und Lehrerausbildung müssen dringend anspruchsvoller werden.

Lange Zeit galt die Grundschule als geradezu sakrosankt. Bildungsforscher und Politiker waren überzeugt davon, dass sie noch am besten mit den ganz unterschiedlichen Schülern und Leistungsständen zurechtkommt. Manche Kinder in der ersten Klasse können kaum einen Stift halten, andere lesen schon flüssig. Manche haben einen großen Wortschatz, andere hadern noch mit der Verständigung, weil sie zuhause eine andere Sprache sprechen. Hinzu kommen Kinder mit Behinderungen, Kinder aus gerade eingewanderten Familien. Es gibt also neben den schon immer vorhandenen Unterschieden eine politisch gewollte und verstärkte Heterogenität. Und nun sollen die Lehrer die Heterogenität auch noch als Gewinn verstehen, obwohl sie täglich mit so viel Anstrengung, Misserfolgserlebnissen für sie verbunden ist?

Dass sie an den Grundschulen zu einem nahezu unüberwindlichen Problem geworden ist und erst recht noch werden wird, hat der aktuelle Bildungstrend des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich gezeigt. Seine Ergebnisse sind niederschmetternd. Denn viel zu viele Schüler verlassen die Grundschule mit nur rudimentären Mathematikkenntnissen, können weder korrekt schreiben noch so gut zuhören, dass sie zum Wechsel an eine weiterführende Schule wirklich in der Lage wären. Und auch die Lesefähigkeiten sind verbesserungswürdig und haben sich in vielen Ländern verschlechtert. Dabei waren die neu hinzugekommenen Flüchtlingskinder, die größtenteils in der Grundschule ankommen, noch nicht einmal am Test beteiligt. Das heißt, dass der nächste Bildungstrend mit hoher Sicherheit noch ungünstiger ausfallen wird.

Ergebnisse in Berlin besonders schlecht

Ausgerechnet in Berlin, das sich noch immer eine sechsjährige Grundschule leistet, sind die Ergebnisse ähnlich wie in Bremen besonders schlecht. Dabei hätte jeder, der jemals eine Klasse für jahrgangsübergreifendes Lernen von der ersten bis zur dritten Klasse beobachtet hat, schon längst verstehen können, dass es selbst bei einem Lehrer und einer Erzieherin in der Lerngruppe Grenzen der Heterogenität gibt. Gerade in solchen Klassen bleibt den Lehrern oft nichts anderes übrig, als Schüler mit Arbeitsblättern zum Lernen und Üben anzuhalten. Das heißt aber, dass ausgerechnet das Sprachtraining im Unterrichtsgespräch viel zu kurz kommt. Korrigiert wird kaum und solange die Schüler sich aussuchen dürfen, woran sie gerade arbeiten wollen, werden sie üben, was sie schon können und ihre Schwachstellen meiden. Solch ein Unterricht ist mehr Aufbewahrung als sinnvolles Lernen.

Seit Jahrzehnten ist die Grundschule das pädagogische Experimentierfeld schlechthin. Das begann schon in den siebziger Jahren mit der unseligen Mengenlehre, hinzu kamen die flexible Einschulung fünf bis sieben Jahre alter Kinder, die Abschaffung der Ziffernoten in den ersten drei Klassen, das Schreiben nach Gehör und der ausgemachte Unsinn von Fächerverbünden, den auch Baden-Württemberg eingeführt hat. Fächerübergreifendes Lernen ist – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Basis im Fach stimmt. Der Grundwortschatz wurde reduziert und in vielen Ländern sank die Gesamtzahl der Unterrichtsstunden. Viel hilft zwar nicht viel, aber offenbar nutzen bayerische Grundschullehrer die zusätzlichen Unterrichtsstunden für gezieltes Üben. Für manche Schüler aus bildungsfernen Schichten sind die Sommerferien einfach zu lang. Viele von ihnen können ohnehin nicht wegfahren, für sie gilt es zusätzliche Angebote während der Sommerferien zu schaffen, damit nicht alles Gelernte in Vergessenheit gerät. […]

Auch wenn jedes Land andere Wege bei der Analyse und Mängelbearbeitung gehen muss, sollte der jüngste Bildungstrend Anlass genug sein, alles vorurteilsfrei auf den Prüfstand zu stellen. Die Grundschule muss den Leistungsgedanken wiederentdecken und sich ihrer Verantwortung für die Bildungsbiographie der Schüler bewusst werden. Der Unterricht wird also anspruchsvoller und die Lehrer werden besser ausgebildet sein müssen. Doch wer wird inzwischen noch Grundschullehrer? Und wer will schon die Schulleitung übernehmen?

zum Artikel:  Grundschulen in Deutschland haben gravierende Mängel

Kritik an den rot-rot-grünen Schulplänen in Berlin

Ein Lieblingsprojekt linker, grüner und sozialdemokratischer Bildungspolitik ist die Gemeinschaftsschule.

Im Tagesspiegel vom 13.10.2017 berichtet Susanne Vieth-Entus: Die rot–rot–grüne Koalition will die Gemeinschaftsschule als Regelangebot im Schulgesetz verankern. Die Gesetzesänderung wird gerade im Senat diskutiert.

In deren politischen Vorstellungen erhoffen sie sich durch die Gemeinschaftsschule mehr Chancengleichheit und -gerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen. Durch Unterstützung „individueller Lernwege“ und „selbstständigen Lernens“ der Schüler sollen maximale „Lernzuwächse“ erreicht und die „Trennung von Lernerfolg und sozialer Herkunft“ überwunden werden. Im „offenen“ Unterricht soll die Heterogenität der Schüler zum Vorteil werden.

Was die im Beitrag erwähnte bildungspolitische Sprecherin der Linken, Regina Kittler, nicht erwähnt, sind die im „lobenden Bericht der Universität Hamburg“ [Abschlussbericht: Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule, Stand: Juni 2016] genannten ernüchternden Aussagen von Lehrern der Berliner Gemeinschaftsschulen:

Mehr als die Hälfte von ihnen bewerten den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht. Abschlussbericht, S. 63, Abb. 40. In den Gemeinschaftsschulen werden die Schüler nicht nach Leistung in Lerngruppen aufgeteilt.

Abb. 40, Lehrerbefragung 2013 und 2014 – „Inwiefern wird Ihr Unterricht durch folgende Dinge beeinträchtigt…“

Siehe auch in Abb. 40 die steigende Tendenz der „wahrgenommenen erschwerenden Unterrichtsbedingungen von 2013 zu 2014“! Markierung in „gelb“ durch Schulforum-Berlin.

Nach Befragung von zwei Lehrerteams heißt es im Bericht weiter:

„Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt.“ In einigen Interviews sei, so der Bericht, deutlich geworden, „dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen.“ Abschlussbericht, S. 144 und 160

Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen, wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.) bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Das Ziel der Gemeinschaftsschule, Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden.

Es wird jedoch weiter auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge und auf Anweisung der Senatsbehörde experimentiert. Die Leidtragenden sind unsere Kinder und Jugendlichen! Der gerade erschienene IQB-Bildungstrend bestätigt dies:

„Bildungsniveau im Sinkflug“

Die Methode „Lesen durch Schreiben“ ist „unterlassene Hilfeleistung“

Sollten Schüler erst einmal so schreiben, wie sie wollen? – Nein!

Viele Schüler lernen heute nach der Methode „Schreiben nach Gehör“. Das ist eine Zumutung fürs Gehirn. Denn dem fällt es leichter zu üben, als Gelerntes zu korrigieren.

FAZ, Bildungswelten, 06.04.2017, von Rainer Werner, Berlin

Am 4. Mai 2017 werden sich in 400 Berliner Grundschulen 28.000 Schüler der dritten Klassen über ein Aufgabenblatt beugen, das ihnen eine einheitliche Schreibaufgabe abverlangt. An diesem Tag findet der landesweite Test „Vera 3“ im Fach Deutsch statt. Die Berliner Schulverwaltung wird ihn mit Bangen erwarten, und das hat gute Gründe. Beim Vera-3-Test im Schuljahr 2014/2015 waren die Ergebnisse für die Berliner Grundschüler verheerend. Die Hälfte der Drittklässler erfüllte nicht die Mindestanforderungen an die Rechtschreibung, wie sie die Kultusministerkonferenz (KMK) festgelegt hatte. Sie können, wie es im Kommentar des Instituts für Schulqualität (ISQ) hieß, gerade einmal „lautgetreu“ schreiben. Schüler bringen Wörter also so zu Papier, wie sie diese hören, nicht aber, wie sie korrekt geschrieben werden. Auch in den Folgejahren verbessern sich die Schreibleistungen der Schüler nicht, wie die schlechten Ergebnisse beim Deutsch-Test „Vera 8“ belegen.

Vermutlich verwenden viele Lehrer in der Grundschule die Lernmethode, die im Ruf steht, besonders schülerfreundlich zu sein, weil sie sie den Schülern ermöglicht, draufloszuschreiben, ohne sich um Rechtschreibregeln kümmern zu müssen. Es ist die umstrittene Methode „Schreiben nach Gehör“. Das dabei entstehende Textkauderwelsch ist oft nur schwer verständlich: „Di foirwer retete eine oile aus dem Stal.“ Linguisten haben vor diesem Verfahren schon immer gewarnt, weil es in den Köpfen der Kinder die falsche Schreibweise verfestigt, die man mühsam dem regelgerechten Schreiben anpassen muss – ein unsinniger Umweg. In Internetforen bezeichnen Eltern die Didaktik „Schreiben nach Gehör“, die an ihren Kindern ausprobiert wird, als „unterlassene Hilfeleistung“.

Die beiden klassischen Lernmethoden beim Schriftspracherwerb, die silbenanalytische (die Silbe dient als Grundlage der Wortbildung) und die analytisch-synthetische (sie lehrt die korrekte Laut-Buchstaben-Zuordnung), sind der phonetischen Methode deutlich überlegen. Vor allem bei der silbenanalytischen Methode zeigen sich, wie Studien belegen, schon im zweiten Schuljahr beim Lesen und Schreiben sehr gute Resultate. Eine Unterrichtsdidaktik sollte sich eigentlich am zu erzielenden Resultat ausrichten und nicht an psychologischen Kriterien, wie den vermeintlichen Schreibbarrieren der Schüler. Wenn eine Erleichterungsdidaktik zu Misserfolgen führt, dient sie nicht dem Kind. Sie sollte deshalb schleunigst korrigiert werden.

Warum sollte man das Drill nennen?

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Dabei haben sie oft nur die achtklassige „Volksschule“ besucht. Ihr korrektes Deutsch haben sie gelernt, weil das Üben der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als unmenschlichen Drill stigmatisieren. Vermutlich haben frühere Didaktiker mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung plädiert dafür, Merkfähigkeit vor allem durch beständiges Üben zu stärken. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Um die Ursachen für die schlechten Rechtschreibleistungen der Berliner Grundschüler zu ergründen, lohnt sich ein Blick in den gültigen Rahmenlehrplan Deutsch (2015). Obwohl sich in Berlin inzwischen im Schulsystem ein Zweisäulenmodell etabliert hat, beharrt der Senat darauf, allen Schulformen von Klasse 1 bis 10 einen einheitlichen Lehrplan zu verordnen. Vom Eigenwert gymnasialen Lernens ist nirgendwo die Rede. Bei der Lektüre des Plans springt sofort ins Auge, dass der Mündlichkeit ein unverhältnismäßig großer Stellenwert eingeräumt wird. Das ist nur schwer nachzuvollziehen, da das Schreiben doch die Fertigkeit ist, die Schüler an der Grundschule neu lernen sollen. Den mündlichen Sprachgebrauch bringen sie hingegen mit. Ich habe mich als Lehrer oft gewundert, warum Schüler, die im Unterrichtsgespräch gute Beiträge lieferten, beim Schreiben versagten.

Zwischen Eloquenz und Schreibfertigkeit klaffte eine Lücke. Offenbar verstärkte der tägliche Unterricht das, was die Schüler schon können, sich mündlich flüssig zu äußern, in einer Endlosschleife immer weiter. Die mühselige Entwicklung der Schreibfähigkeit wird von Lehrern um des lieben Friedens in der Klasse willen gerne vernachlässigt. Der Grammatik des Deutschen wird im Rahmenlehrplan Deutsch keine eigene Abteilung zugestanden. Sie wird unter „Rechtschreibung“ subsumiert, was fragwürdig ist. Ein Lernziel lautet: „(Die Schüler sollen) ihr grammatisches Wissen zur Identifikation von Fehlerschwerpunkten nutzen“. Die Grammatik hat also nur eine dienende Funktion zur Vermeidung von Rechtschreibfehlern, wird aber nicht als in sich logisches System verstanden und gelehrt. Zwei wesentliche Begriffe der Grammatik, Syntax und Semantik, kommen daher im Lehrplan gar nicht vor. Wie sollen Schüler aber stimmige Texte schreiben, wenn sie in der Satz- und Bedeutungslehre gar nicht unterrichtet worden sind? Müssen die Gymnasiasten darunter leiden, dass der Rahmenlehrplan das gymnasiale Niveau nicht mehr gesondert ausweisen darf?

Sternstunden des Deutschunterrichts

Die Schulbuchverlage sind dem modischen Trend, die Grammatik in anderen Themenfeldern aufgehen zu lassen, gefolgt. In den Deutschbüchern gibt es keinen eigenständigen Grammatikteil mehr. Grammatische Phänomene werden beiläufig bei der Interpretation literarischer Texte abgehandelt. Entsprechend nachlässig werden sie auch behandelt. Daran ändert auch der euphemistische Begriff des „verbundenen Grammatikunterrichts“ nichts. Ich habe am Gymnasium immer reine Grammatikstunden gehalten. Mal standen die Satzglieder auf dem Programm, mal die Gliedsatzarten oder der Konjunktiv. Kein Schüler hat solche Stunden als geistlose Abrichtung empfunden. Es gab immer Schüler, denen es eine intellektuelle Freude bereitete, in die Geheimnisse der deutschen Grammatik einzudringen. Sie entwickelten einen sportlichen Ehrgeiz, ein präpositionales Objekt von einer adverbialen Bestimmung zu unterscheiden. Das sind doch Sternstunden des Deutschunterrichts.

Wenn schon der Verzicht auf einen eigenständigen Grammatikunterricht die Gymnasialschüler unterfordert, ist das bei der Prüfung zum Mittleren Schulabschluss (MSA) erst recht der Fall. In Deutsch besteht sie aus der Beantwortung von Lesefragen nach dem Multiple-Choice-Prinzip. Das Multiple-Choice-Verfahren ist ein Relikt der sechziger Jahre. Im Deutschunterricht der Gesamtschulen hat man es eingeführt, um Nachteile für Kinder aus Unterschichtfamilien, die beim Schreiben nur über einen „restringierten Code“ verfügen, gegenüber den „elaboriert“ schreibenden Kindern aus der Mittelschicht auszugleichen. Bald kam man von diesem soziolinguistischen Postulat wieder ab, weil man erkannte, dass das Ankreuzen von Kästchen die Entwicklung einer Schreibfähigkeit eher behindert. Mustergültig sind die Deutsch-Prüfungsaufgaben in Bayern, weil sie den Schülern in allen Schulformen einen zusammenhängenden Text abverlangen. Gymnasiasten vorformulierte Antworten ankreuzen zu lassen kann man durchaus als Zumutung empfinden. Die für die für Gymnasiasten überflüssige MSA-Prüfung aufgewandte Zeit könnte man sinnvoller für die Einübung von Arbeitsweisen der gymnasialen Oberstufe verwenden. Dies scheint gerade in Berlin, wo der gymnasiale Bildungsgang nur sechs Schuljahre umfasst, dringend geboten.

Der Senat von Berlin sollte den Rahmenlehrplan Deutsch 1 bis 10 grundlegend überarbeiten. Das Gymnasium muss dabei ein eigenes Leistungsprofil erhalten, das der Besonderheit gymnasialen Lernens gerecht wird. In Grundschule, Sekundarschule und Gymnasium muss der Schriftlichkeit höchste Priorität eingeräumt werden. Dabei sollten den Scharnierstellen der schulischen Laufbahn – Klasse 4, Klasse 6 und Klasse 10 – verbindliche Standards des schriftlichen Sprachgebrauchs zugeordnet werden. Sie müssten in altersgerechter Steigerung die unverzichtbaren Schreibformen umfassen, Inhaltsangabe, Textanalyse und Erörterung. Was auf dem Spiele steht, hat der Sprachforscher Christian Lehmann deutlich formuliert: „Wegen ihres Bildungscharakters hat Schriftsprache in allen Gesellschaften mit einer traditionellen Schriftkultur einen höheren Wert als die gesprochene Sprache.“

Zum Artikel und zur web-Seite des Autors

Der Autor ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.


Wenn also nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode mit der Anlauttabelle unterrichtet wird, „dann ist es so, dass die Kinder einen Weg in die Schriftsprache gewiesen bekommen, der grundsätzlich einseitig und auch fehlerhaft ist. Man sollte ihnen vom ersten Tag an das anbieten, was richtig ist,“ sagt Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam. Damit scheint sie dem 8-jährigen Jan aus der Seele zu sprechen.

„Also ich würde sagen, dass man schon anfängt, die Fehler zu korrigieren in der Ersten, weil sonst hat man sich da dran gewöhnt zum Beispiel Blatt hinten nur mit einem t zu schreiben. Da kommt auf einmal jemand in der Zwei und sagt, das ist falsch, und das ist falsch. Da kriegt man irgendwie so ein ganz trauriges Gefühl.“

Aus: Deutschlandfunk, 28.08.2014, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Streit um die richtige Methode 

Weitere Artikel zu diesem Thema siehe an der Seitenleiste unter: Schule und Lesen + Schreiben

„Schreiben nach Gehör“ ist keine Methode, sondern unterlassene Hilfeleistung

„von Raichtuum und Amuut“

Im Dilemma zwischen Wortschatz und Wortwahl, Schreiben und Tippen, Pflicht und Kür.

Sabine Stahl, Auszüge aus: BILDUNGBEWEGT, NR. 27, 3/2015

Profil BildungBewegt, Nr.27, 3.2015

(…) Die Sprache, das Lesen und das Schreiben muten wie ein Triptychon an, in dessen Mitte die Sprache ruht. Jedes einzelne Element ist detailreich, aber erst im gemeinsamen Zusammenspiel erschließt sich das kommunikative Potenzial. (…)

Schreiben zu lernen bedeutet schon rein motorisch betrachtet mehr, als lediglich Buchstaben zu malen oder miteinander zu verknüpfen. Der Prozess ist hochkomplex, anspruchsvoll, zeugt von Rhythmik und erfordert Feinmotorik. Bei der Aneignung der Schrift sind Gehirn und Hand, Kognition und Koordination eng miteinander verbunden. Denn das Erlernen komplexer Schreibbewegungen stellt eine koordinative Höchstleistung dar. Seit Längerem ist bekannt, dass händisches Schreiben Lern- und Behaltensprozesse erleichtert und unterstützt. (…)

Die Reaktionen auf die Nachricht, dass Finnland die Schreibschrift mehr oder weniger aufgeben möchte, reichen von fassungslos bis bestürzt. „Bessere Lesbarkeit, die nur technisch erzeugt wird, taugt nicht als Lernziel in der Schule“, kritisiert der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung vbe, Udo Beckmann, diese Entwicklung. Das PISA-Siegerland Finnland stellt es seinen Grundschulen ab dem Herbst 2016 frei, ob sie die Schreibschrift noch lehren möchten. Die Entscheidung darüber liegt beim persönlichen Wollen jeder einzelnen Lehrkraft. Die Kinder sollen mehr tippen, weil das fließende Tippen auf der Tastatur grundständig gelernt werden soll – quasi als nationale Zukunftskompetenz im digitalen Zeitalter. (…)

[Dagegen berichten US-Forscher] im Fachblatt „Psychological Science“, dass händisches Notieren den bewussten Umgang mit Lerninhalten fördert und damit auch die Verstehens- und Gedächtnisleistung verbessert. Schreiben ist eine Kulturtechnik, die zur gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe und zur Erhaltung einer Kultur notwendig ist. Kulturtechniken werden durch Erziehung, Unterricht und Sozialisation weitergegeben. Techniken müssen geübt werden, um sie zu vervollkommnen. Das ist beim Schreiben nicht anders als beim Sport. Ist es den Kindern tatsächlich nicht zumutbar, komplexe Fertigkeiten zu erlernen? (…)

Wer jetzt den Finger warnend hebt und denkt, die Entwicklung werde an der Bundesrepublik vorbeigehen, den lehrt ein Blick in die Bundesländer eines Besseren. So hat die Hansestadt Hamburg bereits eine Grundschrift eingeführt, die wie eine Variante der Druckschrift aussieht. Auch in Thüringen und in Nordrhein-Westfalen dominiert die Druckbuchstabenschrift. Und dies, obwohl sich Anzeichen mehren, die die positiven Auswirkungen einer verbundenen Handschrift auf das sprachliche Können und die Rechtschreibkompetenz von Kindern zeigen (vgl. SCHEER 2015).

Die Handschrift ist Ausdruck der Persönlichkeit. Sie ist auch ein Zugang zur Identitätsfindung und ein einzigartiger Informationsträger. Dennoch plädieren nicht wenige für die Abschaffung der verbundenen Schreibschrift. Die Argumente lauten: Man wolle es den Kindern nicht unnötig schwer machen. (…) Inzwischen macht sich allerdings zunehmend die Sorge breit, ob gutgemeinte Vereinfachungen möglicherweise mit Nachteilen für die Lernenden verbunden sein könnten.

US-Forscher hatten im vergangenen Jahr in einer Studie festgestellt, dass Lernstoff besser memoriert wird, wenn er mit der Hand analog und nicht digital notiert wird. Während in der Vergangenheit viele Studien eher die Frage untersucht hatten, ob und inwieweit elektronische Hilfsmittel ablenken und die Konzentration stören, hat diese Studie den Lerneffekt verglichen, der sich beim Mitschreiben bzw. beim Eintippen per Tastatur beobachten lässt. Das Ergebnis: Wer sich mit der Hand Notizen macht, behält die Inhalte von Vorträgen besser und auch länger als tippende Vergleichsprobandinnen und -probanden. Der Effekt ist umso stärker, je komplexer Sachverhalte sind und je mehr Verstehensprozesse oder gedankliche Transferleistungen im Vordergrund stehen. (…)

Das Schreibschrift-Üben hat mit Muße, Sinnlichkeit, Komplexität, Aufmerksamkeit und Anspruch zu tun. Es bedeutet auch, das am höchsten differenzierte menschliche Bewegungsorgan zu nutzen: die Hand. Das hat Folgen. Da beim Schreiben(-lernen) sensomotorische, visuelle, emotionale und sogar auditive Prozesse ineinandergreifen, werden alle Hirnstrukturen auf besondere Weise gefordert. (…) Bei täglicher Übung und Perfektionierung zeigen sich stabile, langfristige Veränderungen der neuronalen Netzwerke und der Gehirnstruktur. Hand und Gehirn beeinflussen sich demnach wechselseitig. Auch die untrainierte Hand profitiert, denn beim Lernvorgang wird das Bewegungsmuster gewissermaßen auf andere Gliedmaßen übertragen. Wenn das kein Plädoyer für das Erlernen einer verbundenen, komplexen Schreibschrift ist! (…)

In Hirnscans konnte aufgezeigt werden, dass das Schreiben per Hand das Gehirn auf besondere Weise beschäftigt und völlig andere Erregungsmuster generiert, als wenn der gleiche Inhalt per Tastatur eingegeben wird. „Der größere motorische Aufwand beim handschriftlichen Notieren führt zu komplexeren und somit stabileren Verknüpfungen im Gedächtnis“ (PASCHEK 2012, S. 26).

Schreiben stellt eine motorische und eine kognitive Fähigkeit dar. Anders als andere menschliche Fähigkeiten ist es evolutiv nicht angelegt und muss als Kulturtechnik erlernt, erprobt und geschult werden. Die Schrift leistet dabei deutlich mehr als nur Informationen weiterzugeben. Zu ihrer Charakteristik gehört es, dass sie regelhaften Mustern folgt. Regeln wiederum lassen sich einüben und anwenden. Ergo lassen sich korrektes Schreiben und auch das Vermögen, sich präzise auszudrücken, erlernen und beherrschen. Dabei hat der Eingang in das Reich der Literatur seinen Preis, wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt. Gerade weil das „Entziffern und Arrangieren“ von Buchstaben nicht von Natur aus gegeben ist, erfordert es eine „Disziplinierung der Sinne und des Körpers“ wie kein anderes Medium (vgl. LIESSMANN 2014). Als Belohnung winken Weltaneignung und Welterzeugung. (…)

Vor diesem Hintergrund verdient eine Längsschnittstudie Aufmerksamkeit, in der die Schreibfähigkeit von Viertklässlern untersucht wurde. Wolfgang Steinig, Germanistikprofessor aus Siegen, hat dort in mehreren Zyklen erhoben, wie sich die Fähigkeiten der Grundschülerinnen und Grundschüler in Sachen Zeichensetzung, Grammatik, Textgestaltung und Wortschatz über Jahrzehnte hinweg verändert haben. Dabei kam heraus, dass sich die Zahl der Rechtschreibverstöße, der Flexions- und der Satzbaufehler von der ersten Messung im Jahr 1972 bis zur dritten Messung im Jahr 2012 deutlich erhöht hat. Machten die Schülerinnen und Schüler in den 70er Jahren etwa sieben Rechtschreibfehler pro 100 Wortformen, waren es 2002 rund zwölf und im Jahr 2012 bereits 17 Fehler. (…)

Einen Grund für die Veränderungen in der Fehlerart sieht der Professor in methodischen Umwälzungen im Anfangsunterricht der Grundschule. Während vor den 70er Jahren die geschriebene und die gesprochene Sprache möglichst von Beginn an mit der korrekten Schreibweise verbunden gelehrt wurden, wird das Schreiben in vielen Bundesländern mittlerweile nach Gehör mithilfe von Anlauttabellen unterrichtet. Die Fehlertoleranz ist enorm hoch. Diese Lehrmethode geht vom gesprochenen Wort aus, bei dem Kinder jene Wörter laut aussprechen, die sie aufschreiben wollen. Anschließend suchen sie sich die entsprechenden Buchstaben aus der Anlauttabelle heraus und schreiben die Buchstaben nacheinander ab. Dies führt zu interessanten Wortgebilden. Uhr heißt dann Ua, Butter sieht aus wie buta, der Tiger liest sich geschrieben wie Tieger. Das Prinzip der Regeltreue wird so zunächst aus den Angeln gehoben. Steinig sieht in genau diesem Unterricht und in der Art, wie Rechtschreibung vermittelt wird, eine Ursache der größeren Fehlerhäufigkeit und nicht darin, dass „die Kinder in den letzten 40 Jahren dümmer geworden sind“ (STEINIG 2013). Allerdings konstatiert der Germanistikprofessor auch, dass die Texte der Kinder inzwischen meinungsfreudiger und fantasievoller geworden seien und einen stärker kommentierenden Charakter hätten. Die Befürworter der Lehrmethode des Schreibens nach Gehör mithilfe der Anlauttabelle argumentieren, dass Kinder beim „Lesenlernen durch Schreiben“ nicht von formgebenden Regeln wie Orthografie, Grammatik oder Semantik gehindert oder gestört werden. Wie es richtig geht, können sie später immer noch lernen. (…)

Wenn also nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode mit der Anlauttabelle unterrichtet wird, „dann ist es so, dass die Kinder einen Weg in die Schriftsprache gewiesen bekommen, der grundsätzlich einseitig und auch fehlerhaft ist. Man sollte ihnen vom ersten Tag an das anbieten, was richtig ist,“ sagt Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam. Damit scheint sie dem 8-jährigen Jan aus der Seele zu sprechen.

„Also ich würde sagen, dass man schon anfängt, die Fehler zu korrigieren in der Ersten, weil sonst hat man sich da dran gewöhnt zum Beispiel Blatt hinten nur mit einem t zu schreiben. Da kommt auf einmal jemand in der Zwei und sagt, das ist falsch, und das ist falsch. Da kriegt man irgendwie so ein ganz trauriges Gefühl.“

Aus: Deutschlandfunk, 28.08.2014, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Streit um die richtige Methode  [Eingefügt durch Schulforum-Berlin]

Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann konstatiert zur Tatsache, dass grundlegende Kulturtechniken nicht mehr beherrscht werden: „Volkskrankheit Analphabetismus“! Er sieht darin „den Skandal der modernen Zivilisation schlechthin“. Schreiben nach Gehör sowie das Ansinnen, Texte immer weiter zu vereinfachen, um die Lesefähigkeit zu verbessern oder auch die Vereinfachung der Schrift zählen für ihn zu hochproblematischen Methoden und Strategien (LIESSMANN 2014). (…) Die Tatsache, dass der Erwerb von Kulturtechniken nicht jedem leicht fällt, kann daher nicht als Grund herhalten, „das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren“. „Wenn etwas schwerfällt, bieten die Didaktiker Erleichterungen an. Doch wo alle Schwierigkeiten umgangen werden, herrscht eine Praxis der Unbildung“ (LIESSMANN 2014). Damit auch weiterhin in und mit Sprache gedacht, argumentiert, artikuliert oder abgewogen und fein nuanciert wird, solle lieber alles Erdenkliche unternommen werden, damit auch jene mit Schwierigkeiten wirklich Schreiben und Lesen lernen.

Die Publikation BILDUNGBEWEGT des Hessischen Kultusministeriums für Lehrerbildung – wird nicht mehr aufgelegt!

siehe auch: „Der Schreibvielfalt sind je nach dialektaler Färbung keine Grenzen gesetzt“

siehe auch: Die Hälfte der Drittklässler erfüllt nicht einmal die Mindeststandards, Schreiben ungenügend

Neue Vorgaben für den Rechtschreibunterricht in BW

Die Grundschulen in Baden-Württemberg sollen künftig von Anfang an auf korrekte Rechtschreibung der Schülerinnen und Schüler achten. Das kündigte Kultusministerin Susanne Eisenmann in einem Brief an die Schulen an. Sie erteilt damit Lernmethoden wie Schreiben nach Gehör eine Absage.

Im Rechtschreibunterricht an den Grundschulen in Baden-Württemberg soll wieder mehr darauf geachtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler von Anfang ihrer Schulzeit an korrekt schreiben. „Richtiges Schreiben ist ebenso wie Lesen und Rechnen eine Schlüsselkompetenz, die wieder gestärkt werden muss“, teilt die Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann mit.

Deren Erwerb dürfe weder vernachlässigt noch nebenbei erfolgen. Systematisches (Ein-)üben sei ebenso wichtig wie Kontinuität. „Deshalb ist es wichtig“, sagt die Ministerin, „dass richtiges Schreiben nicht erst zum Ende der zweiten oder in der dritten Klasse, sondern von Beginn der Grundschulzeit an konsequent unterrichtet wird.“ (…)  „Auf Fehler hinzuweisen ist unabdingbar. Die Schülerinnen und Schüler wollen wissen, was richtig oder falsch ist“, sagte die Ministerin. Gleiches gelte für die Eltern in Bezug auf die Beurteilung der Leistung ihrer Kinder.

Das richtige Schreiben von Wörtern habe in unserer Gesellschaft nicht mehr den Stellenwert, der ihm als Kulturgut zukommen sollte. Man denke nur an die „schreib-und-tipp-wie-du-sprichst-“Methode, die über das Mobiltelefon und den Computer Einzug gehalten habe. Sie hob aber auch einen anderen Aspekt hervor: „Eine Unterrichtsmethodik und -didaktik, die der Rechtschreibung nicht den zentralen Stellenwert gibt oder diese zu spät berücksichtigt, ist wenig hilfreich“, so Eisenmann in ihrem Brief. An dieser Stelle müsse gegengesteuert und Rechtschreibung von Anfang an gezielt geübt werden. Das Erlernen der Rechtschreibung soll laut der Kultusministerin außerdem in jedem Fachunterricht verankert werden. „Wenn korrektes Lernen bereits in der ersten Klasse beginnt, dann hilft dies den Mädchen und Jungen auch an den weiterführenden Schulen, wenn es in Fächern wie Physik oder Chemie um exaktes Arbeiten geht“, erläuterte die Ministerin. (…)

In den vergangenen Jahren [unter Rot-Grüner Regierung in BW] hätten sich andere Unterrichtskonzepte durchgesetzt. (…) So seien eine Vielzahl an „individuellen Schreibungen“ eines Wortes feststellbar, wodurch das Einüben der korrekten Schreibweise erschwert werde. „Deshalb ist es aus meiner Sicht zwingend erforderlich, dass orthografische Fehler von Anfang an konsequent korrigiert werden“, so die Ministerin. Methoden, bei denen Kinder monate- beziehungsweise jahrelang nicht auf die richtige Rechtschreibung achten müssen, seien nicht mehr zu praktizieren.

Eisenmann kündigte an, dass das Ministerium die Schulen bei der Weiterentwicklung des Rechtschreibunterrichts durch Maßnahmen wie Handreichungen, verstärkte Fortbildungsangebote und Fachtage unterstützen werde. „Ziel ist, gemeinsam die Qualität des Unterrichts durch die verstärkte Vermittlung von Rechtschreibtechniken zu verbessern“, so Eisenmann.

siehe Pressemitteilung, 15.12.2016, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg


Die politischen Reaktionen darauf:

„Statt sich in die Arbeit der pädagogischen Profis mit wenig Sachverstand einzumischen, sollte sie lieber die Schulen ordentlich ausstatten“, wettert die Lehrergewerkschaft GEW. Die Ministerin kenne offenbar „weder die kritisierte Methode, noch den Forschungsstand“.

Sandra Boser, bildungspolitische Sprecherin der Grünen, warnt davor, den Lehrern die pädagogischen Freiheiten zu nehmen, die ihnen der Bildungsplan gewähre, „um erfolgreiche Konzepte zum Erlernen der Rechtschreibung zu entwickeln“.

aus:  Rhein-Neckar-Zeitung, 16.12.2016, Sören S. Sgries, Kultusministerin Eisenmann sorgt sich um die Rechtschreibkompetenz, „Schüler wollen wissen, was richtig oder falsch ist“: Brief an Grundschullehrer, kein „Schreiben nach Gehör“ mehr.