Archiv der Kategorie: Schule und „Digitales Lernen“

Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“

Was macht die geplante digitale Schulreform mit unseren Kindern?

Vortrag von Peter Hensinger, M.A., gehalten bei der „Elterinitiative Schule-Bildung-Zukunft“, Stuttgart, 9.2.2019

Es ist tatsächlich das Topthema in der Politik: die digitale Transformation der Gesellschaft. Sie müsse schnell kommen, lesen wir überall, insbesondere die Smart City. Sonst hänge Deutschland ab. Digitalminister werden eingesetzt, die Bundesregierung beruft einen Digitalrat, veranstaltet Kongresse zur digitalen Bildung. Ein Erscheinungsbild der Digitalisierung können wir auf Schritt und Tritt beobachten: ob im Zug, in der S-Bahn oder auf der Straße: gebückt schweigende Menschen, die auf ihr Smartphone starren. Und sie nutzen es vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. In der JIM – Jugendstudie zur Mediennutzung von 1998 gab es noch kein Kapitel zu Handys. Heute ist es in der Studie ein Hauptthema. 2011 hatten 26% der Jugendlichen ein Smartphone, 2016 sind es schon 92 % (MPFS, JIM, 2016, S. 46). Die Veränderungen in der Gesellschaft sind enorm: das Kommunikationsverhalten hat sich völlig verändert, verändert hat sich die Werbung, neue Überwachungsmöglichkeiten heben die Privatsphäre auf, das Verhältnis der Menschen zur Natur ändert sich durch die Virtualisierung. Der Bildungsbegriff wird mit „Digitaler Bildung“ neu definiert, eine neue Sucht, die Internetsucht, ist entstanden, und mit dem Elektrosmog haben wir einen neuen medizinischen Risikofaktor. Die am 05.09.2018 veröffentliche Studie über das Freizeitverhalten dokumentiert die Veränderungen. (Stuttgarter Zeitung, 6.9.2018 und http://www.freizeitmonitor.de/)  

In nur 5 Jahren, von 2013 bis 2018 haben sich Freizeitaktivitäten so verändert:

  • Smartphonenutzung (ohne telefonieren): + 75% (28% auf 49%)
  • Internetnutzung: + 53% (51% auf 78%)
  • Social Media: + 53% (34% auf 52%)
  • E-Mails lesen: + 11% (56% auf 62%)
  • Mit Kindern spielen: – 13% (31% auf 27%)
  • Mit Eltern/Großeltern treffen: – 19% (21% auf 17%)
  • Mit Freunden zu Hause treffen: – 29% (24% auf 17%)
  • Einladen/eingeladen werden: – 42% (12% auf 7%)

Wohlgemerkt: alles als Freizeitbeschäftigung! Smartphones und TabletPCs haben das Zusammenleben also radikal verändert, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Tut das gut? Um für das Leben fit zu werden, braucht es eine gesunde Psyche, charakterlich gute Eigenschaften, aber auch Grundfertigkeiten: Schreiben, Lesen, Rechnen, Kommunizieren, logisches Denkvermögen, und v.a. Sozialkompetenz und Bildung. Die Grundlagen dafür werden in der Familie, in der Vorschulerziehung und der Schule gelegt. Dort können Weichen falsch gestellt werden. Wird unser Nachwuchs durch die Digitalisierung besser, schlechter – oder einfach anders? Über die Weichen, die gerade neu gestellt werden, im Elternhaus, Außerschulisch und Schulisch, und das muss man in seiner Wechselwirkung betrachten, werde ich zunächst sprechen. Denn die „Digitale Bildung“ soll ja schon an der KiTa beginnen.

Neue Sozialisationsbedingungen

Vorbemerkung 1: „Mein Kind muss das Smartphone beherrschen lernen, um in der digitalen Welt bestehen zu können!“ Diese Ansicht beherrscht die Diskussion, und lenkt sie bereits in eine falsche Richtung. Sie geht stillschweigend davon aus, dass ein Geschäftsmodell „Digitalisierung“ alternativlos ist und verhindert damit das Nachdenken.

lesen sie weiter: Vortrag als PDF-Datei

Bildschirme und bedrucktes Papier sind als Lesemedien nicht gleichwertig

Erklärung von 130 Forschern: Zur Zukunft des Lesens

F.A.Z., 22.01.2019, aus dem Englischen von Michael Bischoff

Bildschirme und bedrucktes Papier sind als Lesemedien nicht gleichwertig: Mehr als 130 Leseforscher aus ganz Europa haben eine Erklärung zur Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung unterzeichnet.

Wir leben in einer Zeit immer schnellerer und tiefergreifender Digitalisierung. Digitale Technologien bergen gewaltige Chancen für die Erzeugung, Nutzung, Speicherung und Übertragung von Information und stellen zugleich eine Herausforderung für eine Reihe alteingeführter Lesepraktiken dar. Seit vier Jahren erforscht eine Gruppe von Wissenschaftlern auf den Gebieten des Lesens, Schreibens und Publizierens aus ganz Europa den Einfluss der Digitalisierung auf die Lesepraxis.

Papier und Bildschirm erfordern je eigene Formen der Verarbeitung. In der hybriden Leseumgebung von Papier und Bildschirmen, in der wir heute leben, werden wir herausfinden müssen, wie wir die jeweiligen Vorteile des Papiers und der digitalen Technologien in unterschiedlichen Altersgruppen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen am besten nutzen können.

Die Forschung zeigt, dass Papier weiterhin das bevorzugte Lesemedium für einzelne längere Texte bleiben wird, vor allem, wenn es um ein tieferes Verständnis der Texte und um das Behalten geht. Außerdem ist Papier der beste Träger für das Lesen langer informativer Texte. Das Lesen langer Texte ist von unschätzbarem Wert für eine Reihe kognitiver Leistungen wie Konzentration, Aufbau eines Wortschatzes und Gedächtnis. Daher ist es wichtig, dass wir das Lesen langer Texte als eine unter mehreren Leseformen bewahren und fördern. Da das Bildschirmlesen weiter zunehmen wird, müssen wir dringend Möglichkeiten finden, das tiefe Lesen langer Texte in Bildschirmumgebungen zu erleichtern.

Zentrale Befunde

Individuelle Unterschiede in den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Veranlagungen sorgen für unterschiedliche Lernprofile, die Einfluss auf die Fähigkeit von Kindern haben, aus digitalen oder aber gedruckten Quellen zu lernen.

Digitale Texte bieten ausgezeichnete Möglichkeiten, die Textpräsentation auf individuelle Präferenzen und Bedürfnisse abzustimmen. Vorteile bei Verständnis und Motivation zeigen sich dort, wo die digitale Leseumgebung sorgfältig auf die jeweiligen Leser zugeschnitten wurde.

Digitale Umgebungen bereiten jedoch auch Probleme. Leser neigen beim Lesen digitaler Texte eher zu übersteigertem Vertrauen in ihre Verständnisfähigkeiten als beim Lesen gedruckter Texte, vor allem, wenn sie unter Druck stehen, was wiederum zum Überfliegen und zu geringerer Konzentration auf den Inhalt des Gelesenen führt.

Eine Metastudie von vierundfünfzig Studien mit zusammen mehr als 170000 Teilnehmern zeigt, dass das Verständnis langer Informationstexte beim Lesen auf Papier besser ist als beim Bildschirmlesen, insbesondere wenn die Leser unter Zeitdruck stehen. Bei narrativen Texten wurden keine Unterschiede festgestellt.

Entgegen den Erwartungen zum Verhalten von „digital natives“ hat diese Unterlegenheit des Bildschirms gegenüber dem Papier in den vergangenen Jahren eher noch zu- als abgenommen, und zwar unabhängig vom Alter und von Vorerfahrungen mit digitalen Umgebungen.

Unsere embodied cognition (wonach von Eigenschaften unseres gesamten physischen Leibes abhängt, was wir lernen, wissen und tun können) kann zu Unterschieden zwischen dem Lesen auf Papier und auf Bildschirmen hinsichtlich des Verstehens und Behaltens beitragen. Dieser Faktor wird von Lesern, Erziehern und sogar Forschern unterschätzt. Diese Befunde stimmen mit solchen in Ländern außerhalb Europas überein.

Im Lichte dieser Befunde geben wir folgende Empfehlungen

Es bedarf einer systematischen und sorgfältigen empirischen Erforschung der Bedingungen, die Lernen und Verständnis beim Lesen gedruckter Texte oder in digitalen Umgebungen fördern oder behindern.

Man sollte Schülern und Studenten Strategien beibringen, die sie nutzen können, damit ihnen tiefes Lesen und höherwertige Leseprozesse auf digitalen Geräten gelingen. Außerdem bleibt es wichtig, dass Schulen und Schulbibliotheken die Schüler weiterhin zur Lektüre gedruckter Bücher motivieren und in den Lehrplänen entsprechend Zeit dafür vorsehen.

Man sollte bei Lehrern und anderen Erziehern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der rasche und wahllose Ersatz von Druckwerken, Papier und Stift durch digitale Technologien im Primarbereich nicht folgenlos bleibt. Falls dieser Übergang nicht von sorgsam entwickelten digitalen Lerntools und Lerntechnologien begleitet ist, kann er zu einer Verzögerung in der Entwicklung des kindlichen Leseverständnisses und der Entwicklung kritischen Denkens führen.

Es bedarf geeigneter Maßnahmen, um bessere Leitlinien für die Einführung digitaler Technologien zu entwickeln, vor allem im Bildungsbereich, aber auch ganz allgemein im Bereich der Medien. Im Blick auf die Erziehung bedeutet dies zum Beispiel die Entwicklung eines empirisch validierten Unterrichts in digitalen Lesefertigkeiten (Auswahl, Bewertung und Integration der vorfindlichen digitalen Information sowie die Navigation in diesen Umgebungen). Solche digitalen Fähigkeiten werden in vielen Zusammenhängen anwendbar sein, zum Beispiel im Umgang mit staatlichen und anderen öffentlichen Informationsquellen.

Erzieher, Fachleute für das Lesen, Psychologen und Techniker sollten gemeinsam digitale Tools (samt der zugehörigen Software) entwickeln und dabei die Erkenntnisse aus der Forschung zur Verarbeitung digitaler und gedruckter Formate einschließlich der Rolle der embodied cognition für die Lesepraxis berücksichtigen.

Bei der weiteren Erforschung digitaler Lernmaterialien sollten Technologieentwickler, Geisteswissenschaftler und empirische Sozialforscher stärker zusammenarbeiten, um eine unvoreingenommene und evidenzbasierte öffentliche Debatte über den digitalen Wandel zu erleichtern.

Fragen zur künftigen Forschung

Angesichts der wachsenden Verwendung digitaler Materialien in der Schule wie auch bei der privaten Lektüre stellen sich wichtige Fragen zur Zukunft des Lesens, zur Pädagogik der Lese- und Schreibfähigkeit und zur langfristigen Bedeutung textueller Kommunikation:

In welchen Lesekontexten und bei welchen Lesern verspricht der Einsatz digitaler Texte den größten Nutzen?

Und umgekehrt, in welchen Bereichen des Lernens und literarischen Schreibens sollte das Medium Papier gefördert und bevorzugt werden?

Macht der tendenziell stärker fragmentierte, weniger konzentrierte und eine flachere Verarbeitung fördernde Charakter des Bildschirmlesens das Überfliegen zum Standardmodus des Lesens, der dann auch auf das Lesen gedruckter Texte übertragen wird?

Wird unsere Anfälligkeit für Fake News, Einseitigkeit und Vorurteile durch übersteigertes Vertrauen in unsere digitalen Lesefähigkeiten verstärkt?

Was können wir tun, um eine tiefere Verarbeitung von Texten generell und insbesondere von Bildschirmtexten zu fördern?

Wer sind wir?

Evolution of Reading in the Age of Digitisation (E-READ) ist eine europäische Forschungsinitiative, in der sich fast zweihundert auf den Gebieten des Lesens, des Publizierens und der Lese- und Schreibfähigkeit tätige Wissenschaftler aus ganz Europa zusammengeschlossen haben, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Lesepraxis zu erforschen. Ein Großteil unserer Forschungen konzentriert sich auf die Frage, wie Leser, vor allem Kinder und junge Erwachsene, Texte aufnehmen und behalten, wenn sie in gedruckter oder aber in digitaler Form dargeboten werden. Die Mitglieder und wichtige Vertreter dieses von der EU finanzierten COST-Forschungsnetzwerks trafen am 3. und 4.Oktober 2018 im norwegischen Stavanger zusammen, um über die wichtigsten Ergebnisse der vergangenen vier Jahre empirischer Forschungen und Debatten (2014 bis 2018) zu diskutieren. Die Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens ist die Zusammenfassung dieses Austauschs.

Aus dem Englischen von Michael Bischoff, http://ereadcost.eu/wp-content/uploads/2019/01/StavangerDeclarationPressRelease.pdf

zum Artikel: F.A.Z., 22.01.2019, Erklärung von 130 Forschern: Zur Zukunft des Lesens

Lesen Sie auch die nächsten beiden Beiträge zum Thema „Zukunft des Lesens“.

Zukunft des Lesens in Zeiten der allgemeinen Digitalisierung

Wie die Leseforscher gelesen werden

Friedensinitiative im Glaubenskrieg um die digitale Bildung: Politiker und Pädagogen antworten auf die Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens in Zeiten der allgemeinen Digitalisierung.

F.A.Z., 02.02.2019, Fridtjof Küchemann

Die Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens (F.A.Z. vom 22. Januar) ist die Frucht von vier Jahren interdisziplinären Austauschs unter Leseforschern aus ganz Europa und darüber hinaus. Von mehr als hundertdreißig Wissenschaftlern unterzeichnet, am 22. Januar veröffentlicht und in deutscher Übersetzung erstmals im Feuilleton dieser Zeitung gedruckt, spiegeln sich in ihr pädagogische und psychologische Forschung wie geisteswissenschaftliche Untersuchung, der Gewinn des Erkenntnisabgleichs über die institutionellen und fachlichen Grenzen hinaus wie die Erfahrung mit Versuchen, über die Ergebnisse der eigenen Arbeit mit Politikern und Praktikern in einen fruchtbaren Austausch zu treten.

Im Zeitalter der Digitalisierung lag der Schwerpunkt der im Netzwerk E-READ zusammengeschlossenen Forscher in der Erkundung der Unterschiede des Lesens auf Papier und auf den verschiedenen Bildschirmen – vom Smartphone über Tablets und E-Reader bis zu den Standbildschirmen von Tischrechnern. Ihr besonderes Augenmerk galt den Vorzügen der verschiedenen Medien, deren Optionen für die Entwicklung und den Erhalt von Lesekompetenzen. Ihre Sorge galt dem Ausgleich von Nachteilen, die sie beim Bildschirmlesen ausgemacht hatten.

Die Stavanger-Erklärung ist ein Thema für die Schulen und die Schulpolitik. Sie wird unter Lehrern, in Schulämtern, in Kultusministerien und Schulbuchverlagen diskutiert. Pädagogen und Politiker antworten auf die Erkenntnisse und Empfehlungen der Forscher und stellen den Bezug zu ihrer Arbeit her.

Bayerns Kultusminister Michael Piazolo etwa sieht im Lesen in digitalen Medien „eine erkannte, neue Herausforderung“ und in der Stavanger-Erklärung „eine wichtige Stimme für einen zentralen Diskurs“. Lesen bleibe die Schlüsselkompetenz für Lernen und Teilhabe an der Welt. Es gelte abzuwägen, wie die jeweiligen Vorteile des Papiers und der digitalen Technologien für das Lernen in unterschiedlichen Altersgruppen bestmöglich genutzt werden können. Der lange Weg zum kompetenten Leser führe weiterhin über den analogen, gedruckten Text, auch wenn digitale Leseumgebungen immer relevanter würden. „Insgesamt wird es immer wieder und in allen Bereichen darauf ankommen, dass wir die Digitalisierung in pädagogischer Verantwortung gestalten.“ In seinem Bundesland komme dem Einsatz von gedruckten Texten im Unterricht ein hoher Stellenwert zu. Allerdings müssten besonders mit Blick auf Nachrichten in digitalen Medien die Schüler auch im „sinnerfassenden, überfliegenden Lesen“ geschult und ihnen die Gelegenheit gegeben werden, Bewusstsein für eine kritische Auseinandersetzung und Beurteilung des Gelesenen zu schaffen: „ein wichtiger Beitrag zur politischen Bildung unserer Kinder und Jugendlichen“.

Seine Kollegin Yvonne Gebauer aus Nordrhein-Westfalen betont die neuen Chancen, die digitale Medien für die individuelle Gestaltung von Lernprozessen bieten. Auch sie stellt fest: „Dabei gilt der Grundsatz: Pädagogik vor Technik.“ Digitale Schulbücher sollten das gedruckte Buch nicht ersetzen, sondern ergänzen: „Es geht nicht um entweder/oder, sondern um sowohl/als auch. Wir brauchen das Beste aus beiden Welten.“ Die digitalen Medien veränderten unsere Lesegewohnheiten, sagt die Bildungsministerin. „Hier brauchen wir noch mehr gesicherte Erkenntnisse darüber, welche Auswirkungen das auf unsere Fähigkeit hat, Texte zu verstehen und zu memorieren, damit wir den Unterricht an unseren Schulen weiter verbessern können.“

Bernd Uwe Althaus, Schulamtsleiter in Nordthüringen, sieht die Schulen angesichts der Digitalisierung in der Defensive: Deren „nur von technologischer Machbarkeit beeinflusste Geschwindigkeit“ mache es Schulen schwer, fundiert zu reagieren. Die Stavanger-Erklärung nennt er ausgewogen und hilfreich. Dass ihre Empfehlungen die Verantwortung in die Hand der Pädagogen legen, sei „gut und angemessen“, Althaus verwahrt sich allerdings gegen den Eindruck, man müsse, wie es bei den Leseforschern heißt, „bei Lehrern und anderen Erziehern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der rasche und wahllose Ersatz von Druckwerken, Papier und Stift durch digitale Technologien im Primarbereich nicht folgenlos bleibt“. Dies verkenne das verantwortungsvolle Handeln der Pädagogen. Der Kommunikation mit Schülern, aber auch mit Eltern misst der Leiter eines Schulamts, das für etwa hundertsechzig Schulen aller Schularten verantwortlich ist, auch in Fragen der Digitalisierung besondere Bedeutung zu. Die Pädagogen sieht er zudem in der Pflicht, auch gegenüber Bildungsunternehmen Anforderungen und Ansprüche zu formulieren. „Wenn wir diese Rolle nicht wahrnehmen und den Prozess verantwortlich gestalten, überrollt uns die Digitalisierungswelle, und die rein kommerzielle Interessenlage gewinnt Oberhand. Das wird nachhaltig negative Folgen für die heranwachsende Generation und in Folge für unsere Gesellschaft haben.“

In Teilen kritisch sieht Torsten Larbig, Deutsch- und Religionslehrer an einem Frankfurter Gymnasium, die Stavanger-Erklärung. Er liest sie als politisches Statement, in dem er „belastbare Betrachtungen von komplexen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen“ vermisst. Gerade in den „Glaubenskriegen rund um das Lesen in analoger oder digitaler Form und um die Digitalisierung“ müsse die Forschung transparent machen, was empirische Befunde zeigen und welche Kausalitäten von diesen nicht abgeleitet werden können. Den Verfassern der Stavanger-Erklärung wirft er hingegen vor, vorrangig „Kausalitäten zu suchen, die dem eigenen Weltbild entsprechen“, und mit „scheinbar vorsichtigen Formulierungen“ dafür zu sorgen, „dass die Behauptung, Papier werde weiterhin das bevorzugte Lesemedium für einzelne längere Texte bleiben, in die Köpfe gepflanzt wird“.

Bislang gebe es an Schulen einen starken Druck, bei Lektüren auf gedruckte Ausgaben zurückzugreifen, schon weil die digitalen in Klassenarbeiten und Klausuren nicht benutzt werden dürfen. „Schüler, die mit Hilfe digitaler Texte zu besseren Ergebnissen beim Verstehen von Texten gelangen, kommen in der aktuellen Schulwirklichkeit oft zu kurz.“ Hier fordert Larbig, der neben seiner Schultätigkeit Mediendidaktik an der TU Darmstadt unterrichtet, einen unvoreingenommenen und offenen Umgang: „Schule sollte die Aufgabe haben, Strategien des Erkenntnisgewinns zu entwickeln, die Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Lernprofilen ermöglichen, den für sie besten Weg zu finden und zu gehen.“

Von einer die Lehrenden unterstützenden Unterrichtsforschung erwartet er zudem, dass sie sich nicht allein auf Lesefertigkeiten bezieht, „sondern Themen wie den Zusammenhang von Digitalisierung und Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken sowie von Problemlösungsfähigkeiten“ berücksichtigt. Dabei müsse die Frage des Lesens allerdings zentral sein.

Während die Stavanger-Erklärung stark zwischen dem Lesen gedruckter und digitaler Texte trenne, gehe in der Praxis beides oft ineinander über, mische und ergänze sich, sagt Mark van Mierle, Leiter des Schulbuchverlags Cornelsen. Digitale Technologien böten dabei „eine große Chance, denn sie ermöglichen differenziertere Angebote und unterschiedliche Lern- und Unterrichtsszenarien“. Texte allerdings nur digital anzubieten, sei zu kurz gegriffen: „Einsatzszenarien, Aufbereitung und Ablenkungsgefahren müssen im didaktischen Konzept berücksichtigt werden.“ Für das sinnvolle Zusammenspiel von gedruckten und digitalen Medien arbeite sein Unternehmen gleichermaßen mit IT-Spezialisten und Lernexperten wie mit Lernenden zusammen. Die Arbeit der Leseforscher sei wichtig, denn „wir brauchen mehr Erkenntnisse, wie wirksam gelernt wird“. [!] [Der Bildungsforscher John Hattie hat in seinem viel beachteten Buch „Lernen sichtbar machen“ (Visible Learning, siehe Bücherliste) aufgezeigt, welche Faktoren den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern beeinflussen, und damit lebhafte Diskussionen im Bildungsbereich angestoßen.] 

Abwägen statt Aktionismus, eine sorgfältige didaktische Einbettung digitaler Unterrichtsmaterialien und ihre Anerkennung als Bereicherung, dazu das Vertrauen in die Verantwortung der Pädagogen: wenn man die hier versammelten Positionen als Schlaglicht auf die hiesige Diskussion gelten ließe, gäbe es Grund zur Hoffnung auf einen ausgewogenen, konstruktiven Austausch. Was hier fehlt, sind die Extremisten — diejenigen, denen dem schon vor Jahrzehnten prophezeiten papierlosen Büro entsprechend ein papierloses Klassenzimmer als einzige Möglichkeit erscheint, mit der Digitalisierung Schritt zu halten, wie auch diejenigen, die allein in einem analogen Klassenzimmer die idealen Lernvoraussetzungen für unsere Kinder gesichert sehen. Auch wenn dieser Vorwurf — Stichwort Kreidezeit — im allgemeinen am liebsten gegen die zweite Position erhoben wird: Weltfremdheit kann man getrost beiden einseitigen Forderungen zuschreiben. Sie für einflussreiche Stimmen in der Digitalisierungsdebatte zu halten ist indes alles andere als weltfremd: Noch im Herbst 2017 hatte eine Forscherin bei einer E-READ-Konferenz resigniert berichtet, welche Wertschätzung das Bildungsministerium ihres Landes der Expertise von neun Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen entgegengebracht hatte. Es hatte sie um Einschätzungen der Idee gebeten, alle Schulbücher künftig nur noch digital – als PDF – anzubieten. Alle neun Experten hätten abgeraten – und das Ministerium den Schritt trotzdem beschlossen.

zum Artikel: F.A.Z., 02.02.2019, Fridtjof Küchemann, Wie die Leseforscher gelesen werden

Lesen Sie auch den nächsten Beitrag zum Thema „Zukunft des Lesens“.

Computerspiele: Subtile Digitalisierung

Wie wir spielend beeinflusst werden

Computerspiele gewöhnen Nutzer daran, sich von undurchschaubaren Apparaten steuern zu lassen. Das ist ein Vorgeschmack auf die digitalisierte Gesellschaft.

Tagesspiegel, 13.01.2019, ein Gastbeitrag von Gregor Engelmeier

Der Autor ist Informatiker und Leiter der Produktentwicklung in einer Berliner Firma, die Programme zur Aus- und Weiterbildung entwickelt.

Hauptsache: Weitermachen! Computerspiele sind eine Speerspitze der Verhaltensmodifikationsforschung.

Das Wort „Digitalisierung“ wird spätestens seit 2010 – als auch die Regierung es zu verwenden begann – benutzt, um einen alle betreffenden, aber allenfalls vage verstandenen Veränderungsprozess zu beschreiben. Wie wird es also aussehen, das „digitalisierte“ Leben? Einen Blick in eine mögliche Zukunft ermöglicht die Welt der Computerspiele. Computerspiel-Communities zeigen schon heute, wie die ganz realen technischen und sozialen Mechanismen einer Gesellschaft nach ihrer vollständigen Durchdringung mit digitalen Technologien aussehen könnten. Sie sind viel mehr als bloßer Zeitvertreib für junge Leute – sie sind ein Labor für soziale Technologien.

Die „Communities“ moderner Onlinespiele greifen aus in die Welt der Schulhöfe, der Wohnzimmer, der Bildschirme aller Art, der Messen und Kongresse, der Schüler und Manager, der Avatare, E-Sportler, künstlichen Intelligenzen und der verhaltensmodifizierenden Algorithmen.

Laut dem Statistikportal „Statista“ nutzen 41 Prozent der Gesamtbevölkerung Computerspiele. Drei Viertel der Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und 19 Jahren in Deutschland – 5,8 Millionen – sind „User“ von Computerspielen, und oft stehen die Eltern ratlos daneben. Sie können zwar die Spiele der Kinder spielen, aber deren Faszination nicht nachvollziehen. Sie bemerken zwar die Einbettung des Gamings in die soziale Welt, nehmen aber die essentielle Rolle dieser Verflechtung der virtuellen mit der realen Welt für den Erfolg der Spiele nicht wahr. Dieser blinde Fleck in der Wahrnehmung ist symptomatisch: Noch immer versucht die Elterngeneration, die mit „Digitalisierung“ verbundenen Phänomene aus einer Art von Vogelperspektive zu kartieren, und übersieht dabei, dass wir längst in der neuen „digitalisierten“ Welt angekommen sind. Und so fehlen in den entstehenden Karten dann die wesentlichen Faktoren des Geschehens.

Aufhören ist das Schlimmste, was ein Nutzer tun kann

Microsoft unterhält zur Unterstützung der Entwickler von Spielen auf seiner beliebten Xbox eine eigene Forschungsgruppe von 26 Personen, von denen die Mehrzahl einen – in der Regel durch Doktortitel namhafter US-amerikanischer Universitäten ausgewiesenen – Hintergrund in Psychologie oder Kognitionswissenschaften haben. Die Gruppe schreibt: „[Wir liefern]… für unsere Spiele, Beteiligungsunternehmen und Plattformen wirkungsvolle Analysen und strategische Anleitungen, die fortgesetztes Gamer Engagement sichern“. Eltern, die den Gamingkonsum ihrer Kinder einzuschränken versuchen, stehen also einer Speerspitze der aktuellen psychologischen Forschung in Sachen Verhaltensmodifikation gegenüber. Mentor dieser technischen Anwendung der psychologischen Wissenschaften ist B.J. Fogg von der Stanford University. Er taufte das Gebiet schon 1993 „Persuasive Technologies“ und genießt im Silicon Valley den Ruf eines „Millionärsmachers“. So nahm beispielsweise einer der Gründer von Instagram an seinen Kursen teil.

„Fortnite“ Screenshot

Beispiel „Fortnite“: In aktuell populären Onlinespielen wie „Fortnite“ sind die Bildschirme mit Daten über Erfolge und Misserfolge des Nutzers gespickt. Stets aktualisiert und hochgradig sozial vernetzt. So wie die Nutzer von Instagram oder Facebook „Likes“ oder „Views“ sammeln, sammeln die Spieler moderner Onlinegames statistische Messgrößen ihrer „Skills“. Jede Verbesserung der Statistik eine kleine Belohnung, jeder Verlust eine kleine Frustration. In Teamspielen sorgen die Mitspieler dafür, dass der Spieler dabeibleibt, weil irgendeiner immer weitermachen will. Aufzuhören ist überhaupt das Schlimmste, was der Spieler tun kann: Schließlich kann nur ein spielender Nutzer Umsatz generieren. Es wird geschätzt, dass der Hersteller von „Fortnite“ so im Jahr 2018 einen Gewinn von rund drei Milliarden US-Dollar erzielte. „Fortnite“ selbst kostet nichts, man kann aber Outfits („Skins“) und andere Dinge kaufen.

So weit, so „spielerisch“. Aber längst haben in der Spieleindustrie entwickelte Motivationstechniken den Weg ins reale Leben gefunden: Das Schlagwort für Methoden aus der Schnittmenge von Informatik, Psychologie und Anthropologie heißt „Gamification“. Soziale Plattformen wie Instagram oder Snapchat nutzen die Motivationsstrategien durch Spielelemente, Fitness-Apps überreden ihre Nutzer so dazu, noch ein paar tausend Schritte zu laufen. Der Fahrdienst „Uber“ nutzt Gamification-Techniken in seiner App dazu, die Fahrer in Stoßzeiten dazu zu bringen, länger als von ihnen geplant zu fahren, und Portale wie Tripadvisor erhalten durch den Einsatz von Gamificationelementen von ihren Nutzern kostenlos wertvolle Inhalte.

Ist doch freiwillig!, sagen die Nutzer. Ist es das?

Gamification ist ein freundliches Wort für die subtile Beeinflussung der Nutzer im Sinne der Zwecke, für die ein System eingerichtet wurde. System deshalb, weil der Spieler letztlich immer eine komplexe Anordnung von sehr vielen miteinander kooperierenden Teilen bedient. So findet das oft schwammig benutzte Wort von der „Digitalisierung“ in der Welt der Computerspiele einen konkreten Inhalt als Anordnung von technischen und sozialen Komponenten, in der die virtuell-technische und die real soziale Ebene gemeinsam ausschließlich auf den Erfolg des Systems ausgerichtet werden.

Befragt man Nutzer solcher Systeme, ob sie diese teilweise Aufgabe von Selbstbestimmung durch das Sich-Ausliefern an eine solche Umgebung nicht störe, so bekommt man häufig zur Antwort, dass die Teilnahme ja freiwillig sei. Beobachtet man ihre obsessive Beschäftigung mit dem Spiel und die Schwierigkeiten, die Eltern haben, den Spiel-Konsum ihrer Kinder einzudämmen, so sind Zweifel erlaubt. Für den Uber-Fahrer ist die „freiwillige“ Teilnahme bereits ernster Broterwerb.

Ein zweiter – vielleicht noch ernsterer – Aspekt, der derart spaßig daherkommenden gesellschaftlichen Digitalisierung, ist die Verschiebung der Mentalitäten der Nutzer dieser Systeme: Die Spieler geben für die Teilnahme am Spielsystem die Vorbehalte dagegen auf, sich von einem für sie undurchschaubaren Apparat steuern zu lassen. Kombiniert man eine so vorbereitete Nutzerschaft mit sozial-technologischen Zwangsbewertungssystemen für bürgerschaftliches Wohlverhalten, wie sie etwa in China als „Social Credit System“ implementiert werden, so bekommt man eine Ahnung von der Bedeutung, die diese neuen Mittel für die Lenkung moderner Gesellschaften haben können. Rachel Botsman von der Saïd Business School in Oxford schrieb dazu 2017 im Magazin „Wired“: „Tatsächlich ist das Social Credit System der Regierung im Grunde eine gamifizierte und auf Big Data aufbauende Version der Überwachungsmethoden der Kommunistischen Partei.“

Ob politisch Handelnde in Deutschland, die nicht müde werden, die Digitalisierung zu beschwören, diese Möglichkeiten oder Gefahren bereits erkannt haben, kann man nur vermuten. Zumindest bekommen Äußerungen wie die der Bundeskanzlerin „Es wird alles digitalisiert werden, was digitalisiert werden kann“ so gesehen einen anderen Klang. Es sollte uns nicht wundern, wenn uns immer mehr der in Gaming-Communities industriell erprobten Methoden der Beeinflussung im Alltag widerfahren. Online-Computerspiele und die von ihnen erzeugte soziale Sphäre könnten Anschauungsobjekte einer durch-digitalisierten Zukunft sein, und die Jugendlichen würden sich dann – wie zu allen Zeiten – spielend auf diese vorbereiten.

„Wir rechnen EUCH aus!“

Bereits am 28. Dezember 2018 berichtete der Tagesspiegel unter der Überschrift: „Wir rechnen euch aus“ über den Besuch des 13-jährigen Schülers und seiner Mutter auf der weltgrößten Computerspielemesse Gamescom in Köln. Der Informatiker Gregor Engelmeier verrät einem „Fortnite“-Spieler die Tricks der Branche.

Computerspiele: „Unser Spiel heißt Geld machen, und ihr seid darin nur eine Zahl“

Der Sohn zockt „Fortnite“, die Mutter will verstehen, was den Jungen so fasziniert und fährt mit ihm nach Köln zur Gamescom. Auf der weltgrößten Computerspielmesse will sie eine Verbindung zu dem 13-Jährigen herstellen.

„Fortnite“ ist unter Eltern umstritten, weil man einerseits Gegner tötet, andererseits aber alles ganz bonbonbunt und optisch harmlos im Vergleich zu klassischen Gewalt- und Ballerspielen daherkommt. Das Spiel gewann binnen eines Jahres nach Erscheinen über 100 Millionen Spieler und generiert Rekordumsätze. „Fortnite“ selbst kostet nichts, man kann aber Outfits („Skins“) und andere Dinge kaufen.

Über den Verlauf des Versuchs berichteten Mutter und Sohn in getrennten Texten, jeder aus seiner Perspektive, in der Tagesspiegel-Sonntagsausgabe vom 26. August 2018. Kurz darauf bekamen beide Post. Ein Informatiker schrieb getrennt an Mutter und Sohn. Seinen Brief an den Sohn fanden wir so interessant, dass wir ihn nachfolgend drucken.

Hallo Arthur,  ich habe Deinen Bericht von der Gamescom wirklich mit Vergnügen gelesen. Das war ja Dein erster Besuch auf einer Computermesse (wie das früher hieß), und das erste Mal ist ja angeblich immer am aufregendsten. Du hast natürlich Recht: Die Gamescom ist nicht wirklich cool. Eine Messe ist eben ein Meeting von Erwachsenen, auf dem sie Euch brauchen, um irgendetwas cool erscheinen zu lassen. Zum Beispiel ein Game wie Fortnite. Komisch ist allerdings, dass Du dich über deine Mutter, die verstehen will, was Du da machst, so halb lustig machst. An einer Stelle schreibst Du, dass sie in „Fortnite“ total versagt habe (ich glaube Du wähltest da ein anderes Wort…). Das ist deshalb lustig, weil aus der Sichtweise eines Informatikers natürlich jeder, der sich seine Zeit von solchen Programmen stehlen lässt, verliert: Er verliert Aufmerksamkeitszeit, die wir dann in unseren Dashboards sammeln. Das sind unsere „kills“. Mega Geil!

Da ich zu denen gehöre, die schon auf vielen Messen waren und die seit Jahren damit beschäftigt sind, Programme zu schreiben, die die Aufmerksamkeit von Leuten fesseln, will ich Dir auch verraten, welches Spiel die Erwachsenen cool finden: „Geld machen“. Das ist das Spiel, das wir wirklich spielen. Mit Euch als Spielfiguren. Ihr erscheint in unseren Statistiken, und Euer Verhalten wollen wir steuern, so wie Du Deine Characters in Fortnite steuerst.

Um mit Games Geld zu machen, brauchen wir Eure Aufmerksamkeit. Seit vielen Jahren haben wir rumgetüftelt, wie wir Euch kriegen – inzwischen haben wir es so ziemlich raus. Wir nennen das „Persuasive Technology“ („Überredende Technologie“, eigentlich eher „manipulierende Technik“). Auf die Gefahr hin, dass Du beleidigt bist zu erfahren, dass Du noch nicht mal ein Character bist, erzähle ich Dir jetzt, wie wir aus Gamern Spielfiguren machen, okay?

Wir haben dazu verschiedene Mittel gefunden, die für die meisten Menschen unwiderstehlich sind. Hier einige davon (es gibt noch mehr):

(1) Reputation (Status) – Deine Mutter hat das sofort erkannt: Ihr Gamer fahrt auf soziale Reputation ab (also auf Status, auf „Ich bin Erster“, „Ich bin einziger“, auf „Ich habe die meisten kills“). Dein Spiel Fortnite hat gleich mehrere solche Trigger eingebaut (Das Spielprinzip – last man standing – die „Moves“ und „Skins“… you name it…). Die Youtuber helfen uns dabei, indem sie Vorbilder sind und ihre eigenen, auf unsere Spiele konzentrierten Communities bauen. Sie sind wie die Reporter, ohne die ein Sportereignis ja auch nur etwas für die paar Mitspieler ist. Durch die Youtuber werden die Games Teil Eures Alltags.

(2) „Ludic Loop“ (die „Spielschleife“) – Wir setzen Euch Ziele, die immer nur etwas jenseits dessen sind, was ihr gerade erreicht habt. So halten wir Euch im Spiel. Nur noch dieses Gadget, nur noch diese Waffe, nur noch ein paar Ammos – kennst Du das? Das haben wir gemacht, damit ihr weiter spielt, und weiter, und immer weiter… Wir nennen das die „Spielschleife“ oder – in der Sprache der Gamedesigner – die „ludic loop“.

(3) Continuity (Immer weiter) – Das schlimmste, was der Spieler – also Du – aus unserer Sicht tun kann, ist aufzuhören. Daher machen wir es für Dich so einfach wie möglich, weiter zu spielen. Tatsächlich wollen wir, dass Du möglichst nie aufhörst. Wenn ein Spiel vorbei ist, fängt das nächste mit einem einzigen Klick an.

(4) Peer group pressure (Gruppendruck) – Unsere besten Verbündeten sind deine „Freunde“ im Spiel. Irgendwer will immer weiterspielen, und der zieht die anderen mit. Da ist wenig, was Du dagegen tun kannst. Du willst ja nichts verpassen und deine Freunde im Spiel nicht hängen lassen („Deine Squad braucht Dich…“). Das sind nur ein paar von den Mitteln, die eingesetzt werden. Es gibt mehr, raffiniertere, geheimere, wirkungsvollere.

Was ich Dir sagen will ist: Wir rechnen es aus. Wir rechnen EUCH aus… Jeder Klick, jede Interaktion, jedes noch so kleine Detail verrät, wie ihr tickt. Vielleicht findest Du es blöd, wenn ich so über Dein Hobby spreche, aber glaube mir – das ist das Spiel, für das so etwas wie die Gamescom und die „eSports“ veranstaltet werden.

Und in diesem Spiel seid ihr eben leider nicht die Helden. Ihr seid noch nicht einmal wirklich cool, ihr seid noch nicht einmal Personen – ihr seid nur ein kleiner Teil einer Zahl in den Highscorelisten der Kollegen Informatiker.

Man kann sich übrigens entscheiden, in welchem Spiel man mitspielen will. Man kann sich sogar entscheiden, in keinem der beiden Spiele mitzuspielen und einfach was ganz anderes zu machen. Dafür müsstet ihr allerdings wissen, was es so gibt. Und glaub mir – dafür lässt Dir die Gaming-Industrie keine Zeit. Aber ich glaube auch, das ist ein bisschen viel verlangt. Ich schreibe Dir das eigentlich nur, weil ich finde, ein intelligenter Mensch sollte wissen was er tut, und womit er jede Minute seiner Freizeit verbringt. Viele Grüße, Gregor Engelmeier

zum Artikel: https://www.tagesspiegel.de/berlin/computerspiele-unser-spiel-heisst-geld-machen-und-ihr-seid-darin-nur-eine-zahl/23808444.html

Smartphones und Apps haben bis heute keine realen Schulprobleme gelöst

Digitale Medien gehören nicht in die Grundschule, davon ist Digital-Kritiker Prof. Dr. Gerald Lembke überzeugt.

Im Interview mit Andreas Müllauer bemängelt er die „unsinnige“ Digitalisierung deutscher Klassenzimmer und fordert gezieltere Investitionen im Bildungsbereich.

„BEGEGNUNG– Deutsche schulische Arbeit im Ausland“, 2-2018, Andreas Müllauer

Prof. Dr. Gerald Lembke ist Studiengangsleiter für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Mannheim und Präsident des Bundesverbands für Medien und Marketing. Lembke ist Mit-Initiator des Bündnisses für humane Bildung, das sich für einen altersangemessenen und differenzierten Einsatz von analogen wie digitalen Lehr- und Lernmedien im Unterricht einsetzt.

Herr Prof. Lembke, Sie fordern, dass die Computer „raus aus der Schule“ sollen. Wieso? 

Man muss differenzieren. Ich sage nicht grundsätzlich raus aus allen Schulformen, das wäre Irrsinn. Sondern ich sage: Raus aus den Grundschuljahren und den vorherigen Kita-Stufen. Für den Lernprozess gibt es hinreichend wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass der Einsatz digitaler Medien in den Altersgruppen von sechs bis ca. zwölf Jahren den Lernerfolg nicht fördert. Da muss man sich fragen, ob die Milliarden für digitale Medien in den unteren Schulformen tatsächlich richtig investiert werden. Man sollte dieses Geld ab der ca. 6. Klasse und aufwärts weiter verdichten, um im Hinblick auf Lehrerbildung und fachdidaktische Bildung mehr Nutzen für die Kinder und Jugendlichen zu erzeugen.

Andererseits haben deutsche Jugendliche in puncto Medien- und Digitalkompetenz noch Aufholbedarf, das besagen verschiedene Studien. Wäre ein früher mediengestützter Unterricht dementsprechend nicht sinnvoll? 

Man denkt, dass der frühestmögliche Einsatz die Medienkompetenz erhöht, aber es wird nur eine Anwendungskompetenz erhöht. Die Kinder sind aufgrund ihrer kognitiven und neurophysiologischen Entwicklung nicht in der Lage, mit diesen Medien effektiv und zielgerichtet im Lernprozess umzugehen. Wenn die aktuelle Studienlage länderübergreifend zeigt, dass dieKinder noch nicht einmal richtig lesen, rechnen und schreiben können, halte ich es persönlich für wichtiger, diese originären Fähigkeiten zu erlernen und auf Tablets zu verzichten. Kinder lernen vornehmlich durch Erfahrungen aus der realen Welt. Wenn sie durch schulische Hilfe dazu gebracht werden, sich mehr in den virtuellen Welten zu bewegen, wo sie keine realen Erfahrungen machen können, dann halte ich das für die persönliche und kognitive Entwicklung für kontraproduktiv.

Wie stehen Sie zum angedachten Digitalpakt zwischen Bund und Ländern, der von der ehemaligen Bildungsministerin Johanna Wanka initiiert wurde? 

Eigentlich ist er eine Mogelpackung. Der Digitalpakt sollle letztendlich die länderspezifischen Entscheidungen im Bundesbildungsministerium zentralisieren. Er sieht in der inhaltlichen Ausgestaltung vornehmlich eine technische Ausstattung vor. Das heißt, man möchte mit den Investitionen die Schulen mit Technik, W-LAN, Computern und Tablets ausstatten. Im Kern verfolgt die Regierung damit eine Strategie des frühestmöglichen Heranführens an die digitalen Medien, ohne wissenschaftliche Erkenntnisse zu besitzen, ob diese Geräte tatsächlich den Lernerfolg und die Entwicklung von Kindern positiv fördern. 

Wo sollen Jugendliche Medienkompetenz lernen, wenn nicht in der Schule?

Ich sage ja nicht, dass man die nicht in der Schule erlernen soll. Ich bin dafür, dass die finanziellen Mittel des Bundesbildungsministeriums nicht in die Grundschulen in Form von unsinniger Hardware gepumpt werden sollen, sondern in die weiterführenden Schulen – dort aber konzentriert. Ich kann mir prima vorstellen, dass man beispielsweise ab der 6. Klasse themenspezifische Technik-Räume einsetzt, um Schüler in Arbeitsgruppen an speziellen Themen experimentieren zu lassen, um sie an diese Themenfelder heranzuführen. Zum Fünf-Milliarden-Paket der ehemaligen Ministerin Wanka: Sie wollte für jede Schule in einer Laufzeit von drei Jahren pro Jahr umgerechnet 25.000 Euro bereitstellen. Davon bekommt man doch nicht einmal Computer für jede Schule. Ich plädiere dafür: Lasst den Kindern in den frühen Jahren die reale Welt, denn da werden sie sich ohnehin entwickeln. Verbessern wir lieber den Unterricht durch High-Tech-Labore in den späteren Jahren.

Wie würde für Sie der perfekte Unterricht aussehen, um junge Menschen auf die digitalisierte Welt vorzubereiten? 

Ich plädiere für einen altersgerechten Einsatz: Wenn die Jugendlichen in der Schule mit digitalen Medien konfrontiert werden, um sie dann auch tatsächlich für Projektarbeiten einzusetzen, finde ich das absolut klasse. Das muss aber altersabhängig und in Abhängigkeit von ihrer kognitiven und persönlichen Entwicklung geschehen. Wir sehen, dass Spielsucht und Internetsucht nach der aktuellen medizinischen Studienlage insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren sehr hoch ausgeprägt sind. Man kann also nicht automatisch davon ausgehen, dass das Vorhandensein eines Computers oder eines Smartphones zu einer höheren Medienkompetenz führt. Ich plädiere dafür, dass man einen gesunden Ausgleich zwischen realer und virtueller Welt findet. Es spricht nichts dagegen, wenn man in der 9. Klasse eine Projektarbeit anfertigt, dafür das Smartphone zur Hand nimmt und die Arbeit beispielsweise in einer Cloud mit seinen Mitschülern teilt. Wichtig ist dabei die fachdidaktische Begleitung. Ich möchte nicht als Lehrer in einer Schule stehen, wo die Kinder den ganzen Vormittag nur auf dem Handy herumspielen. Aber ich sollte sie so früh wie möglich in Präventionsprogrammen über die Risiken aufklären und später über die Sinnhaftigkeit von Digitalmedien sprechen. Momentan gibt es aber nur eine Chancendiskussion: „Wir müssen über die Chancen von Smartphones aufklären“, heißt es. Das machen die Kids aber schon selbst, sie nutzen die Chancen, sieben Stunden am Tag im Durchschnitt. Ist das etwa zu wenig Zeit täglich? Insofern muss mir erstmal jemand erklären, warum diese Geräte vom Steuerzahler finanziert in die Schule sollen und die Lehrer nun das Fehlverhalten auslöffeln sollen. Deswegen sollte man das klar in Form von Präventionsprogrammen in alle Schulformen integrieren. 

Welche Rolle spielen die Lehrkräfte, um die Schüler fachdidaktisch adäquat zu begleiten?  

Ich denke, die Herausforderung bei den Lehrkräften ist, dass sie von Fachpädagogen zu Fachdidaktikern werden. Fachdidaktik heißt in diesem Fall, dass man sich fragt: Welche Rolle spielen in der Auswahl der pädagogischen Mittel die neuen digitalen Medien? Eine aktuelle Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bestätigt: Unterricht wird allein durch das Vorhandensein digitaler Medien nicht besser. Aber die Studie besagt auch, dass sehr guter Unterricht durch den Einsatz digitaler Medien noch etwas besser werden kann. Es geht weniger darum, alle Lehrer im Hinblick auf die digitale Entwicklung zu Digital-Lehrern oder zu Digital-Fachdidaktikern zu entwickeln, sondern Lehrer dahin zu leiten, dass sie ihren Unterricht besser machen. Denn nur ein sehr guter analoger Unterricht bietet die Chancen eines sinnvollen Digitaleinsatzes. Auf dem Weg dorthin brauchen Lehrer aber nicht die digitalen Medien, sondern eine gehörige Portion Selbstreflexion und Entwicklungsmotivation. Was zurzeit passiert, ist aber genau das Gegenteil. Man haut die Klassen in der Erwartung mit Technologien voll, dass jetzt alles besser werde, die pädagogischen Probleme gelöst wären – und das wird nicht passieren. 

Können herkömmliche Unterrichtsmaterialien und -methoden alles leisten, was digitale Geräte im Unterricht beitragen könnten? 

Digitale Geräte sind immer Mittel zum Zweck. Um Programmieren zu lernen, bedarf es zunächst keines Computers. Da müssen Logik und Algorithmen verstanden werden. Das ist ganz viel Theorie, die man im Kopf kognitiv entwickeln muss. Erst in der späteren praktischen Anwendung ist dann ein Computer natürlich hilfreich. Wenn es darum geht, die reale Welt zu gestalten, bin ich dafür, Unterrichtsprobleme mit Methoden der realen Welt zu lösen. Smartphones und Apps haben bis heute keine realen Probleme gelöst. Das muss mir erstmal jemand beweisen. 

Würden Sie sagen, dass die Diskussion um den Einsatz digitaler Medien in der Schule eher ideologisch als didaktisch geprägt ist? 

Ja, vorwiegend ideologisch. Es geht überhaupt nicht um die Kinder, den Lernerfolg oder die individuelle Entwicklung. Das spielt überhaupt keine Rolle. Es geht seitens der Politik ausschließlich um Lobby-Interessen. Das finde ich sehr dramatisch. Wir erleben in der Diskussion um das sogenannte digitalorientierte Lernen zwei Lager: Ein Lager, das keine Risiken sieht und nur Chancen sowie ein Lager, das sowohl die Risiken als auch die Chancen sieht. Und ich gehöre zum zweiten.

Das Smartphone hat das Leben von Milliarden Menschen in den letzten zehn Jahren mehr verändert als kaum eine technische Neuerung zuvor. Viele sehen die positiven Seiten, wenige machen sich Gedanken um die negativen Auswirkungen für unser Denken, Fühlen und Handeln, unsere Gesundheit und unsere Gesellschaft.