Erklärung
von 130 Forschern: Zur Zukunft des Lesens
F.A.Z., 22.01.2019, aus dem Englischen von Michael Bischoff
Bildschirme und bedrucktes Papier sind als Lesemedien nicht
gleichwertig: Mehr als 130 Leseforscher aus ganz Europa haben eine Erklärung
zur Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung unterzeichnet.
Wir leben in einer Zeit immer schnellerer und
tiefergreifender Digitalisierung. Digitale Technologien bergen gewaltige
Chancen für die Erzeugung, Nutzung, Speicherung und Übertragung von Information
und stellen zugleich eine Herausforderung für eine Reihe alteingeführter
Lesepraktiken dar. Seit vier Jahren erforscht eine Gruppe von Wissenschaftlern
auf den Gebieten des Lesens, Schreibens und Publizierens aus ganz Europa den
Einfluss der Digitalisierung auf die Lesepraxis.
Papier
und Bildschirm erfordern je eigene Formen der Verarbeitung. In der hybriden
Leseumgebung von Papier und Bildschirmen, in der wir heute leben, werden wir
herausfinden müssen, wie wir die jeweiligen Vorteile des Papiers und der
digitalen Technologien in unterschiedlichen Altersgruppen und mit
unterschiedlichen Zielsetzungen am besten nutzen können.
Die
Forschung zeigt, dass Papier weiterhin das bevorzugte Lesemedium für einzelne
längere Texte bleiben wird, vor allem, wenn es um ein tieferes Verständnis der
Texte und um das Behalten geht. Außerdem ist Papier der beste Träger für das
Lesen langer informativer Texte. Das Lesen langer Texte ist von unschätzbarem
Wert für eine Reihe kognitiver Leistungen wie Konzentration, Aufbau eines
Wortschatzes und Gedächtnis. Daher ist es wichtig, dass wir das Lesen langer
Texte als eine unter mehreren Leseformen bewahren und fördern. Da das
Bildschirmlesen weiter zunehmen wird, müssen wir dringend Möglichkeiten finden,
das tiefe Lesen langer Texte in Bildschirmumgebungen zu erleichtern.
Zentrale Befunde
Individuelle
Unterschiede in den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Veranlagungen sorgen für
unterschiedliche Lernprofile, die Einfluss auf die Fähigkeit von Kindern haben,
aus digitalen oder aber gedruckten Quellen zu lernen.
Digitale
Texte bieten ausgezeichnete Möglichkeiten, die Textpräsentation auf
individuelle Präferenzen und Bedürfnisse abzustimmen. Vorteile bei Verständnis
und Motivation zeigen sich dort, wo die digitale Leseumgebung sorgfältig auf
die jeweiligen Leser zugeschnitten wurde.
Digitale
Umgebungen bereiten jedoch auch Probleme. Leser neigen beim Lesen digitaler
Texte eher zu übersteigertem Vertrauen in ihre Verständnisfähigkeiten als beim Lesen
gedruckter Texte, vor allem, wenn sie unter Druck stehen, was wiederum zum
Überfliegen und zu geringerer Konzentration auf den Inhalt des Gelesenen führt.
Eine
Metastudie von vierundfünfzig Studien mit zusammen mehr als 170000 Teilnehmern
zeigt, dass das Verständnis langer Informationstexte beim Lesen auf Papier
besser ist als beim Bildschirmlesen, insbesondere wenn die Leser unter
Zeitdruck stehen. Bei narrativen Texten wurden keine Unterschiede festgestellt.
Entgegen
den Erwartungen zum Verhalten von „digital natives“ hat diese Unterlegenheit
des Bildschirms gegenüber dem Papier in den vergangenen Jahren eher noch zu-
als abgenommen, und zwar unabhängig vom Alter und von Vorerfahrungen mit
digitalen Umgebungen.
Unsere embodied cognition (wonach von Eigenschaften unseres gesamten physischen Leibes abhängt, was wir lernen, wissen und tun können) kann zu Unterschieden zwischen dem Lesen auf Papier und auf Bildschirmen hinsichtlich des Verstehens und Behaltens beitragen. Dieser Faktor wird von Lesern, Erziehern und sogar Forschern unterschätzt. Diese Befunde stimmen mit solchen in Ländern außerhalb Europas überein.
Im Lichte dieser Befunde geben wir folgende Empfehlungen
Es
bedarf einer systematischen und sorgfältigen empirischen Erforschung der
Bedingungen, die Lernen und Verständnis beim Lesen gedruckter Texte oder in
digitalen Umgebungen fördern oder behindern.
Man
sollte Schülern und Studenten Strategien beibringen, die sie nutzen können,
damit ihnen tiefes Lesen und höherwertige Leseprozesse auf digitalen Geräten
gelingen. Außerdem bleibt es wichtig, dass Schulen und Schulbibliotheken die
Schüler weiterhin zur Lektüre gedruckter Bücher motivieren und in den
Lehrplänen entsprechend Zeit dafür vorsehen.
Man
sollte bei Lehrern und anderen Erziehern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass
der rasche und wahllose Ersatz von Druckwerken, Papier und Stift durch digitale
Technologien im Primarbereich nicht folgenlos bleibt. Falls dieser Übergang
nicht von sorgsam entwickelten digitalen Lerntools und Lerntechnologien
begleitet ist, kann er zu einer Verzögerung in der Entwicklung des kindlichen
Leseverständnisses und der Entwicklung kritischen Denkens führen.
Es
bedarf geeigneter Maßnahmen, um bessere Leitlinien für die Einführung digitaler
Technologien zu entwickeln, vor allem im Bildungsbereich, aber auch ganz
allgemein im Bereich der Medien. Im Blick auf die Erziehung bedeutet dies zum
Beispiel die Entwicklung eines empirisch validierten Unterrichts in digitalen
Lesefertigkeiten (Auswahl, Bewertung und Integration der vorfindlichen
digitalen Information sowie die Navigation in diesen Umgebungen). Solche
digitalen Fähigkeiten werden in vielen Zusammenhängen anwendbar sein, zum
Beispiel im Umgang mit staatlichen und anderen öffentlichen
Informationsquellen.
Erzieher,
Fachleute für das Lesen, Psychologen und Techniker sollten gemeinsam digitale
Tools (samt der zugehörigen Software) entwickeln und dabei die Erkenntnisse aus
der Forschung zur Verarbeitung digitaler und gedruckter Formate einschließlich
der Rolle der embodied cognition für die Lesepraxis berücksichtigen.
Bei
der weiteren Erforschung digitaler Lernmaterialien sollten
Technologieentwickler, Geisteswissenschaftler und empirische Sozialforscher
stärker zusammenarbeiten, um eine unvoreingenommene und evidenzbasierte
öffentliche Debatte über den digitalen Wandel zu erleichtern.
Fragen zur
künftigen Forschung
Angesichts
der wachsenden Verwendung digitaler Materialien in der Schule wie auch bei der
privaten Lektüre stellen sich wichtige Fragen zur Zukunft des Lesens, zur
Pädagogik der Lese- und Schreibfähigkeit und zur langfristigen Bedeutung
textueller Kommunikation:
In
welchen Lesekontexten und bei welchen Lesern verspricht der Einsatz digitaler
Texte den größten Nutzen?
Und
umgekehrt, in welchen Bereichen des Lernens und literarischen Schreibens sollte
das Medium Papier gefördert und bevorzugt werden?
Macht
der tendenziell stärker fragmentierte, weniger konzentrierte und eine flachere
Verarbeitung fördernde Charakter des Bildschirmlesens das Überfliegen zum Standardmodus
des Lesens, der dann auch auf das Lesen gedruckter Texte übertragen wird?
Wird
unsere Anfälligkeit für Fake News, Einseitigkeit und Vorurteile durch
übersteigertes Vertrauen in unsere digitalen Lesefähigkeiten verstärkt?
Was
können wir tun, um eine tiefere Verarbeitung von Texten generell und
insbesondere von Bildschirmtexten zu fördern?
Wer sind
wir?
Evolution of Reading in the Age of Digitisation (E-READ) ist eine europäische Forschungsinitiative, in der sich fast zweihundert auf den Gebieten des Lesens, des Publizierens und der Lese- und Schreibfähigkeit tätige Wissenschaftler aus ganz Europa zusammengeschlossen haben, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Lesepraxis zu erforschen. Ein Großteil unserer Forschungen konzentriert sich auf die Frage, wie Leser, vor allem Kinder und junge Erwachsene, Texte aufnehmen und behalten, wenn sie in gedruckter oder aber in digitaler Form dargeboten werden. Die Mitglieder und wichtige Vertreter dieses von der EU finanzierten COST-Forschungsnetzwerks trafen am 3. und 4.Oktober 2018 im norwegischen Stavanger zusammen, um über die wichtigsten Ergebnisse der vergangenen vier Jahre empirischer Forschungen und Debatten (2014 bis 2018) zu diskutieren. Die Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens ist die Zusammenfassung dieses Austauschs.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff, http://ereadcost.eu/wp-content/uploads/2019/01/StavangerDeclarationPressRelease.pdf
zum Artikel: F.A.Z., 22.01.2019, Erklärung von 130 Forschern: Zur Zukunft des Lesens
Lesen Sie auch die nächsten beiden Beiträge zum Thema „Zukunft des Lesens“.