Archiv der Kategorie: Schule und Unterricht

Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht

Die postulierte digitale Bildungsrevolution frisst ihre Kinder und Familien.

Warum digitales Lernen auch in Krisenzeiten nur ein Notstopfen bleibt.

Jochen Krautz

Prof. Dr. Jochen Krautz lehrt Kunstpädagogik an der Bergischen Univesität Wuppertal und ist Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen interessierte Kreise gerne versuchen, aus der Not Profit zu schlagen. Dieser Profit kann materieller oder ideologischer Natur sein. Im Falle der Corona-Krise gerieren sich die bekannten Befürworter der „Digitalisierung von Bildung“ als solche ideologischen und materiellen Krisengewinnler. Nun scheint endlich bewiesen, wie dringlich die Umstellung von Schule und Hochschule auf digital gestütztes Lehren und Lernen sei. Und seitens der Politik entblödet man sich nicht, dies auch noch zu forcieren.

Corona-Krise als Change-Instrument für Digitalisierung

So äußerte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, die selbst keine eigene Fachexpertise in beiden Bereichen nachweisen kann, auf die Frage, ob sich nun räche, „dass wir die Digitalisierung an den Schulen verschlafen haben?“: „Die Corona-Krise bietet Deutschland in Sachen digitaler Bildung eine große Chance: Wir können einen echten Mentalitätswandel schaffen. Wir sehen, wie nützlich digitale Lernangebote sein können. Alle sind jetzt bereit, es einfach mal auszuprobieren. Ich sehe eine neue Aufbruchsstimmung. (…) Aber auch nach der Krise muss die Digitalisierung der Schulen energischer vorangetrieben werden.“[1] Damit macht sie deutlich, worum es geht: Die Krise soll als Instrument genutzt werden, um Mentalität, also Einstellungen, Werte und Überzeugungen aufzuweichen und für den „Wandel“ zu öffnen. Dazu soll Euphorie erzeugt werden, die dann auch nach der Krise aufrechtzuerhalten und zu perpetuieren sei.

Damit referiert Karliczek lupenrein den Dreischritt des Change-Managements: Um Menschen manipulativ in ihren Überzeugungen zu verändern, erzeugt oder nutzt man eine Schocksituation, der eine Verunsicherung in den eigenen Überzeugungen bewirkt (unfreezing). Darauf forcieren Change-Agenten die Euphorie für das Neue, betonen dessen Alternativlosigkeit und geißeln alle Kritiker als rückständige Bedenkenträger (moving). Und schließlich soll der „Wandel“ verstetigt werden, so dass es keinen Weg dahinter zurück zu geben scheint (refreezing).[2] Die darin liegende antidemokratische Anmaßung wird der Ministerin kaum bewusst sein, da sie doch eher Diskurse reproduziert, von denen sie selbst beständig bombardiert wird. So etwa auch von „Mr. PISA“ Andreas Schleicher, der mit maoistisch-kulturrevolutionärer Rhetorik glänzt: „Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen.“[3]

Was das Arbeitsblatt nicht kann und die Eltern überfordert

Doch selbst Herr Schleicher gesteht gleich darauf ein: „Schule im Homeoffice (ist) dauerhaft keine gute Idee. Lernen ist ein Prozess, der viel mit der Beziehung von Lehrern und Schülern zu tun hat. Und für diese Beziehung braucht es echten Kontakt.“

Aber auch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Warum also braucht Lernen – und wir präzisieren – bildendes Lernen Schule und Unterricht in Realpräsenz? Warum sind Eltern damit auf Dauer grundsätzlich überfordert?[4] Und warum können dies auch Lehrerinnen und Lehrer beim besten Willen nicht über digitale Kommunikation leisten und Lernprogramme entsprechender Konzerne erst recht nicht?

Das liegt in der Natur des Arbeitsblattes, das per Mail als pdf ins Haus kommt, der im Chat kommunizierten Aufgabe, der im Download von Verlagen (generös kostenlos) verfügbaren Selbstlernmaterialien und auch avancierter interaktiver Lernprogramme. Sie alle können wie deren Vorläufer im „programmierten Lernen“ der 1970er Jahre nur schrittige Anweisungen geben, die aber keinen interpersonalen Dialog und keine empathische Resonanz ermöglichen. Die Techniken können so tun als ob und ein „Feedback“ vorsehen, das aber nicht auf die Verstehensvorgänge des einzelnen Schülers Bezug nehmen kann. Arbeitsmaterialien solcher Art sind also zunächst materialisierter Frontalunterricht der schlechten Art, wie man ihn dem Klassenunterricht der Schule gerne und zu Unrecht unterstellt: Hier wird doziert, auswendig gelernt, ggf. geübt und abgefragt. „Lernen“ heißt hier Informationsentnahme, -verarbeitung und ggf. -anwendung.

Mit nun auftretenden tatsächlichen Verstehensproblemen wenden sich die Kinder an ihre Eltern. Diese sind jedoch mit der Unterstützung schnell überfordert, weil ihnen die fachliche, didaktische und pädagogische Expertise fehlt, auf die Verstehensprobleme ihrer Kinder sachadäquat und altersgerecht einzugehen. Denn dazu müsste man das fachliche Problem nicht nur selbst beherrschen, sondern in seiner Problemstruktur verstanden haben, um es didaktisch auf die notwendigen fachlichen Voraussetzungen und Problemlagen analysieren zu können; man müsste Wege des fachlichen Verständnisses und auch Missverstehens kennen, deren mögliche Gründe einschätzen können und beim Kind mit Blick auf bisher Gearbeitetes und durch Gespräche eruieren, welchen fachlichen Grund eine Schwierigkeit hat. Zugleich müsste man die individuelle Lernhaltung des Kindes, den persönlichen Hintergrund und seine Lerngeschichte in diesem und anderen Fächern einschätzen, um dann sowohl fachlich wie didaktisch und pädagogisch angemessenen reagieren zu können.

All das können Eltern gewöhnlich nicht – und sie müssen es auch nicht können. Dafür sind Lehrerinnen und Lehrer da, dafür gibt es Schule und Unterricht. Dafür absolvieren Lehrkräfte ein langes Fachstudium, dafür erwerben sie pädagogische Expertise, dazu sammeln sie reflektierte Erfahrung in diesen Situationen, und deshalb können sie nach Jahren solche Prozesse im laufenden Unterrichtsgeschehen einer ganzen Klasse in Sekunden erfassen, abwägen, entscheiden und umsetzen. Eben das macht Unterrichten so anspruchsvoll und mitunter anstrengend – noch vor allen sonstigen Herausforderungen. Und zugleich ist das für die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer der eigentliche Grund ihres pädagogischen Engagements.

Legen wir nochmals den ambitionierten Wochenplan mit Arbeitsblättern, Lösungs- und Reflexionsbögen sowie Lerntagebuch und Leistungsportfolio daneben: Kinder sollen all das nun alleine leisten? Arbeitsblätter sollen dialogisch auf ihr Verstehen und Nichtverstehen eingehen? Feedbackbögen sollen ermutigen, ermahnen, Verständnis zeigen, mit Klarheit oder Humor zurück zur Sache leiten? Videochats sollen das gemeinsame und dialogische Hören, Sehen, Vorstellen, Überlegen, Nachdenken, Ideenfinden und –verwerfen in einer realen Klassengemeinschaft ersetzen? Das wird auch keine K.I. in Gestalt von Lehrrobotern jemals können.

Doch Eltern bemerken schmerzhaft, dass nun erstmalig die postulierte digitale Bildungsrevolution ihre Kinder und Familien frisst. Auch der „große Sprung nach vorn“ des großen Vorsitzenden endete in der Zerschlagung von kultureller Tradition, in der Entwurzelung von Millionen Menschen und einem ökonomischen Desaster. Brauchen wir das erneut im Gewand des schicken iPads?

Unterricht muss Verstehen anleiten

Die Schule ist deshalb ein geeigneterer Ort für die formulierten Aufgaben, weil im guten Falle der Unterricht die Sache in sozialer Gemeinschaft erschließt.[5] Unterricht, der auf Bildung zielt, versucht mit didaktischen und pädagogischen Mitteln, die Schülerinnen und Schüler zum selbstständigen Verstehen einer Sache anzuleiten.[6] Selbstständiges Verstehen ist aber nicht gleichzusetzen mit der vermeintlich selbstständigen Erledigung von wie digital auch immer übermittelten Arbeitsaufträgen oder gegoogelten Informationen. Damit ist die Sache noch nicht erschlossen, d.h. in ihren Gründen verstanden: Entscheidend ist nicht nur, dass eine mathematische Rechnung richtig ist, sondern warum sie das ist. Die Inhaltsangabe einer Fabel ist nur Voraussetzung, um ihren Gehalt zu interpretieren. Ein historisches Datum sagt noch nichts über dessen Bedeutung für uns heute. Ein biologisches Faktum zu benennen, heißt noch nicht seine Relevanz für Mensch, Tier, Welt und Wissenschaft verstanden zu haben. Und ein Kunstwerk zu beschreiben, sagt noch nichts über dessen historischen und gegenwärtigen Sinn.

Verstehen meint also Sinnverstehen. Sinn meint dabei den Sinn der Sache und den Sinn für uns, die Lernenden. Was geht uns das an? Was bedeutet uns das? Erst dann kann Lernen bildend wirken. Und erst dann löst Schule den in den Verfassungen als Bildungsauftrag verankerten Anspruch der Aufklärung ein, dass junge Menschen lernen sollen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, also Selbsterkenntnis und Urteilskraft erwerben, und dass sie Werte wie Mitmenschlichkeit, Achtung und Friedfertigkeit als Haltungen ausbilden und begründen können – mit einem Wort: dass sie mündig werden.

Daher operieren Digitalisierungsbefürworter immer mit einem ungeklärten und reduktionistischen Lernbegriff, denn „digitales Lernen“ kann immer nur die Schrumpfform dieses Anspruchs sein. Es läuft letztlich darauf heraus, aufgrund von Reiz und Reaktion Informationen zu beschaffen, auszuwerten, zusammenzustellen, anzuwenden und/oder auswendig zu lernen. Das sind alles unverzichtbare und legitime Teilprozesse schulischen Lernens. Aber eben nur der notwendige Teil, um verantwortliche Selbstständigkeit im Denken und Urteilen, im Sagen und Handeln zu bilden. Dies aber ist per digitalen Medien nicht erreichbar. Auch wenn man diesen Reduktionismus nachsichtig dem Marketingeifer der Digitalbegeisterten zuschreiben mag, so ist er doch unpädagogisch, antiaufklärerisch und widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen.

Schule ist ein sozialer Raum

Die besondere Qualität solchen Verstehens ist dabei gebunden an das soziale Miteinander von leibhaftigen Personen. Es kann sich nur bilden, wenn sich Menschen wechselseitig wahrnehmen, wenn eine Klassengemeinschaft an einer Sache gemeinsam arbeitet, wenn Ideen entstehen, geäußert, diskutiert, begründet oder verworfen werden, wenn gezeigt, erklärt, mit Händen und Füßen vorgemacht und veranschaulicht wird, wenn zugleich gestritten und versöhnt wird, wenn Auseinandersetzungen geklärt, ein sozial konstruktiver Umgang angeleitet und die Klassengemeinschaft zu Kooperation, gegenseitiger Hilfe und Friedfertigkeit angeleitet wird. Kurz: Wenn im Vollsinne unterrichtet wird.[7]

Denn Unterricht bedeutet im Kern das Teilen und Mitteilen von Vorstellungen einer Sache.[8] Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich mit all den Mitteln, dass Schülerinnen und Schüler eine sachgemäße, aber doch immer auch individuell geprägte Vorstellung eines Sachverhalts bilden. Sie versuchen, diese Vorstellungsbildungen der Schüler zu verstehen, greifen sie auf, entwickeln sie weiter, leiten den Austausch der Schülerinnen und Schüler untereinander an und führen das gemeinsame Denken wieder zielführend zusammen, um gemeinsame Erkenntnisse zu formulieren. Insofern ist der Klassenraum ein Raum gemeinsam geteilter Vorstellung, in dem sich die Personen dialogisch miteinander und mit der Sache verbinden. Ja, in gewisser Weise entsteht ein Atommodell in Chemie, eine Raumvorstellung in Geografie, eine Formel in Mathematik oder eine Harmonie in Musik erst in und durch die gemeinsame Vorstellungsleistung. Darin wird Kultur konkret lebendig und von den Schülerinnen und Schülern je individuell reformuliert. Unterricht ist also – bei allem, was man aus soziologischer Sicht ansonsten über die Gründe und Probleme von Schule anführen mag – der spezielle Ort, an dem Menschen ihr kulturelles Leben weitergeben und neu befruchten. Diese spezifische Qualität des Klassenunterrichts kann ein isoliert zu bearbeitender Wochenplan und das digital vereinzelte Arbeiten prinzipiell niemals einholen. Dies spricht nicht gegen sachlich begründetes zeitweises Arbeiten in individuellen Lernformen oder mit digitalen Arbeitsmitteln – aber für deren sekundäre Bedeutung und v.a. gegen deren Verabsolutierung.

In dieser Hinsicht ist so verstandener Unterricht in sozialer Bezogenheit zudem immer auch ein Ort sozialen Ausgleichs, denn er spricht alle jungen Menschen gleichermaßen als lernfähige und bildsame Personen an. Daher ist aus pädagogisch-anthropologischer, lerntheoretischer und inzwischen auch empirischer Sicht klar, dass die Isolierung von Schülerinnen und Schülern in atomisierten Lernsettings die soziale Spaltung forciert. Darauf hat Hermann Giesecke schon früh hingewiesen:

„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. Sozial selektiert wird bereits mit dem ersten Schultag. ‚Offener Unterricht‘, überhaupt die Demontage des klassischen, lehrerbezogenen Unterrichts, die Wende vom Lehren zum Lernen und damit die übertriebene Subjektorientierung, die Verunklarung der Leistungsansprüche, Großzügigkeit bei der Beurteilung von Rechtschreibschwächen (…) hindern die Kinder mit von Hause aus geringem kulturellen Kapital daran, ihre Mängel auszugleichen, während sie den anderen kaum schaden. (…) Das einzige Kapital, das diese Kinder (Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien) von sich aus – ohne Hilfe ihres Milieus – vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie eine Schule, in der der Lehrer nicht nur ‚Moderator‘ für ‚selbstbestimmte Lernprozesse‘ ist, sondern die Führung übernimmt und die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“[9]

Rückkehr zu Schule und Unterricht

Es ist eine bittere Nebenwirkung des derzeit notfallmäßigen Home-Schoolings, dass dieser Effekt sozialer Spaltung jetzt noch verstärkt werden wird. Daran sind überforderte Eltern in keiner Weise schuld. Umso wichtiger ist aber nach der Rückkehr in den schulischen Normalbetrieb, dass Eltern und Lehrkräfte als Lehre aus der Krise gemeinsam fordern,

  • dass nicht mehr, sondern weniger digitalisiert wird,
  • dass Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Kollegien ihre Unterrichtsformen überdenken,
  • dass Universitäten und die zweite Lehrausbildungsphase Nachwuchslehrkräften wieder in die vollständige Kunst zu unterrichten theoretisch und praktisch einführen,
  • dass Ministerien den Schulen entsprechende Hinweise geben
  • und die Politik jene Digitaladventisten in die Schranken weist, die Corona für ihr Ostern und Pfingsten hielten.

Wenn dann nach der Bewältigung der Krise noch Geld verfügbar ist, das man in den Schulen nicht für dringende Dinge braucht wie etwa Lehrpersonal, Unterstützungsangebote für durch Home-Schooling benachteiligte Schüler, für Bücher, Sporthallen, Kunstwerkstätten, Musikinstrumente, Schulgebäude, funktionierende WCs und dichte Dächer – dann kann man Schule digitaltechnisch auf Grundlage von Open-Source-Lösungen und abgekoppelt vom Internet [10] sowie mit Stellen für Systemadministratoren ausstatten und es den Pädagoginnen und Pädagogen überlassen, wie damit pädagogisch, fachlich und didaktisch sinnvoll umzugehen ist. Denn es geht nicht um die Interessen der Hard- und Softwareindustrie, sondern es geht diesmal tatsächlich um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Fußnoten zu den Anmerkungen des Autors sind in der PDF-Datei nachzulesen. https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/04/Krautz-Bildendes-Lernen-braucht-Schule-und-Unterricht-pdf.pdf siehe auch: www.bildung-wissen.eu

Viele Kinder sind „eigentlich nicht beschulbar“

Der Grundschule werden immer mehr Erziehungsaufgaben aufgebürdet. Julia Petry ist gerne Grundschullehrerin. Doch die Schwierigkeiten würden immer mehr, sagt die Pädagogin. […]

Deutschlandfunk Kultur, 09.03.2020, Julia Petry im Gespräch mit Dieter Kassel

Eine Stunde mehr pro Woche sollen bayerische Grundschullehrerinnen und –lehrer nach dem Willen des bayerischen Kultusministeriums künftig unterrichten. Für die Grundschullehrerin Julia Petry war diese Ankündigung der Anlass, in einem offenen Brief auf Facebook ihren Unmut auszudrücken. Nicht nur über die aktuelle Maßnahme, sondern generell über die immer schwieriger werdende Situation von Grundschullehrern. […]

[I]n den letzten Jahren habe die Zahl der Kinder mit emotionalen oder sozialen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten extrem zugenommen: „Das heißt, sie können sich nicht konzentrieren, kaum zuhören, Stillsitzen fällt wahnsinnig schwer. Es gibt unglaublich viele Konflikte, die ausgetragen werden, und es fällt einfach diesen Kindern wahnsinnig schwer, sich zurückzunehmen.“

„Konnte man vielleicht in der Vergangenheit davon ausgehen, dass der überwiegende Teil der Schüler den Anforderungen der Schule gewachsen ist, so finden sich heute massiv viele Kinder in den Klassenzimmern, die in diesem Rahmen eigentlich nicht beschulbar sind. Sei es, dass Kind A von klein auf Stunde um Stunde vor der Playstation verbracht und keinerlei Lust auf den ‚anstrengenden‘ Unterricht hat, weil sein Gehirn, sein Belohnungszentrum bereits auf Videospiel-Niveau konditioniert ist. Sei es, weil Kind B zu Hause keine Zuneigung und Strukturen erfahren hat und dementsprechend in einem Sozialverbund, der Rücksichtnahme und Empathie erfordert, gänzlich verloren ist. Sei es, dass Kind C mit Eltern aufwächst, die nur vor dem Smartphone hängen – aus welchen Gründen auch immer – was beim Kind in einer extremen Sprachentwicklungsstörung resultiert. Hinzu kommen dann noch die Kinder, die – weil Erziehen nun durchaus eine anstrengende Sache ist – überhaupt keine Grenzen kennen und alles dürfen, die gar nicht gelernt haben, sich auch einmal zurückzunehmen. Diese Herausforderung wird nun in vielen Fällen auf die Schule übertragen und an die Lehrkraft übergeben, denn diese werde es schon richten, in der Schule werde das Kind schon Anstand lernen.“ (Aus Julia Petrys offenem Brief)

Petry vermutet die Ursache für diese Entwicklung in den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, vor allem in der Mediennutzung. „Ein Kind, was es jetzt beispielsweise gewöhnt ist, von klein auf die Zeit vor Fernseher und Tablet zu verbringen, wird natürlich eine andere Motivation vielleicht entwickeln für die Schule, andere Voraussetzungen entwickeln als ein Kind, dem regelmäßig vorgelesen wird oder das viel an der frischen Luft spielen kann.“

Verhaltensauffällige Kinder hätten Auswirkungen auf den gesamten Unterrichtsalltag, betont die Lehrerin. Denn man wolle sich natürlich diesen Kindern zuwenden und ihnen gerecht werden. „Aber auch den anderen Kindern muss man ja noch gerecht werden. Und das ist eigentlich das, was das Unterrichten gerade so schwierig macht.“

Die gesellschaftlichen Veränderungen spiegeln sich offenbar auch in der Elternarbeit wider. Auf der einen Seite gebe es die Eltern, für die es „sehr wichtig“ sei, was in der Schule passiere. „Viele Eltern fragen wöchentlich oder alle zwei Wochen nach, wie es steht“, sagt Petry. 

„Und auf der anderen Seite haben wir die Eltern, die vielleicht den Schwerpunkt zu Hause nicht so sehr auf die Schule setzen, wo dann die Elternarbeit deshalb schwierig wird, weil man sie erreichen muss – oder eben noch zusammen mit anderen Behörden zusammenwirken muss, um halt da die Kinder so richtig in die Schule mit einzubinden.“

„Elternarbeit: ‚Dafür gibt es doch die Sprechstunde‘, werden Sie sagen. Was aber, wenn Klein-Heinzi jeden Tag andere Kinder verprügelt und man deshalb täglich in den Pausen oder nach Schulschluss mit der Mutter telefonieren muss? Was aber, wenn Klein-Jutta schon morgens vor der Schule weint und man deshalb jeden Tag zusammen mit den Eltern eine Viertelstunde früher anfängt, um das Kind zu beruhigen? Was aber, wenn Klein-Ole mit der familiären Situation wegen Scheidung/ Trennung etc. überhaupt nicht zurecht kommt, dies in der Schule kompensiert und man darum ständig in Kontakt mit beiden Eltern, Jugendamt, Schulpsychologen ist? Was aber, wenn Klein-Mahmud schwer traumatisiert ist und man durch wöchentliche Treffen mit den Betreuern und den Eltern versucht, Hilfe zu organisieren? Was aber, wenn Klein-Heidi eine Vierfachdiagnose hat und man aus diesem Grund eigentlich jeden Tag mit dem Vater kommunizieren müsste und immer wieder Hilfeplangespräche mit anderen Behörden stattfinden?“ (Aus dem offenen Brief)

[E]s gibt Kollegen, die es noch härter trifft.

„Stichpunkt Inklusion: Sollte man – und dies betrifft mittlerweile keineswegs nur noch Ausnahmefälle – ein oder mehrere gehandicappte Schüler in der Klasse haben, darf man für dieses Kind/ diese Kinder eigene, mit den Klassenzielen nicht übereinstimmende Förderpläne schreiben, besonderes Unterrichtsmaterial erstellen, versuchen, im ohnehin schon randvoll gepackten Klassenraum in ohnehin schon randvoll gepackten Unterrichtsminuten zu unterstützen und zu fördern, und überdies noch mit der Schulbegleitung, dem Förderzentrum, dem Jugendamt etc. engstens kooperieren.
Vielleicht hat man dann noch das „Glück“, in einer Jahrgangsmischung zu unterrichten – einer Sparmaßnahme, die als tolles pädagogisches Projekt verkauft wird – bedeutet dies für den Lehrer aber vor allem sehr viel Mehrarbeit, schließlich muss ja der Unterricht für die 13 Erstklässler und die 15 Zweitklässler vorbereitet werden.“ (Aus dem offenen Brief)

Von den Behörden wünscht sich Petry mehr Sensibilität für die gestiegene Belastung. „Wir möchten allen Kindern gerecht werden“, betont sie. „Das ist natürlich immer eine schwierige Angelegenheit. Aber je schwieriger sozusagen die Voraussetzungen sind, umso weniger können wir eigentlich dieses hohe Ideal erfüllen, das wir uns alle gesetzt haben.“

aus: Deutschlandfunk Kultur, 09.03.2020, Julia Petry im Gespräch mit Dieter Kassel

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.

„Is doch nicht so wich tich“

Hören kann der Siebenjährige, den wir gebeten haben, die Überschrift zu schreiben, gut. Nur mit dem Schreiben hapert es.

Welt am Sonntag, 16.02.2020, von Freia Peters

Rechtschreibung beherrschen? Nein, findet Winfried Kretschmann. Oh doch, sagen Bildungsforscher und kritisieren: Noch immer wird in vielen Grundschulen gelehrt, nach Gehör zu schreiben. Dabei ist bewiesen, dass das Murks ist.

Satzzeichen können Leben retten.

„Wir essen, Opa!“
klingt gleich viel freundlicher als
„Wir essen Opa!“.

Man muss eben wissen, dass ein Komma in den Satz gehört, und auch noch die richtige Stelle dafür finden.

Mehr als ein Viertel der neunjährigen Jungen und Mädchen wüssten das wahrscheinlich nicht und würden wohl auch die Wörter falsch schreiben. Denn mehr als jeder fünfte Viertklässler erfüllt bei der Rechtschreibung laut einer Studie des Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin nicht die Mindeststandards. In den vergangenen Jahren hat sich die Rechtschreibfähigkeit der deutschen Kinder kontinuierlich verschlechtert – in 20 OECD- Staaten zeigen Grundschüler bessere Leistungen als in Deutschland. […]

Mit dem Ziel, es den Kindern leichter zu machen, hatte sich in den 90er-Jahren wie ein Lauffeuer das Konzept verbreitet, Erstklässlern zunächst die Laute der Buchstaben zu vermitteln und dann erst das Alphabet. Es war eine Gegenbewegung zum starren Unterricht der 70er-Jahre, in dem die Schüler hundert Mal dasselbe Wort schreiben mussten. Mit „Lesen durch Schreiben“ sollte sich jedes Kind die Schriftsprache seinem eigenen Tempo entsprechend erarbeiten, der Lehrer den Prozess nur wohlwollend begleiten. Mithilfe der Anlauttabelle (neben dem „A“ ist ein Apfel abgebildet, neben „G“ eine Gabel) sollten schon Erstklässler alle Worte nach Lauten schreiben können und nicht wie beim Fibellehrgang warten, bis sie die jeweiligen Buchstaben gelernt haben. Doch: So wird aus Mädchen „Metchen“, aus Fahrrad „Farat“, oder aus wichtig „wichtich“.

Dabei hat eine groß angelegte Studie der Uni Bonn bewiesen, dass Kinder, die mit der klassischen Fibel lernen, die Rechtschreibung besser beherrschen. Mit ihrem Doktoranden Tobias Kuhl und rund 30 weiteren Nachwuchswissenschaftlern hat Una Röhr-Sendlmeier, Professorin für Pädagogische Psychologie, Leistungen von mehr als 3000 Kindern aus Nordrhein-Westfalen untersucht, die mit einer von drei verschiedenen Methoden schreiben lernten: Mit dem systematischen Fibelansatz, nach dem Buchstaben und Wörter schrittweise nach festen Vorgaben eingeführt werden. Nach der sogenannten Rechtschreibwerkstatt, gemäß der die Kinder selbstständig in individueller Reihenfolge und ohne zeitliche Vorgaben ihre Materialien bearbeiten. Und nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode.

Am Ende der vierten Klasse machten die Schüler der zuletzt genannten Gruppe 55 Prozent mehr Rechtschreibfehler, Werkstattschüler sogar 105 Prozent mehr als Fibelkinder. „Ein klar strukturierter, systematischer Unterricht vom Einfachen zum Komplexen, vom Häufigen zum Seltenen hat sich als klar überlegen erwiesen“, sagt Röhr-Sendlmeier. Das Problem mit der Anlauttabelle sei, dass unterschiedlich gehörte Laute gleich geschrieben werden, etwa Esel und Ente. „Der Ansatz ,Schreib wie du sprichst‘ kann nicht klappen“, sagt die Wissenschaftlerin. „Das ist eine Irreführung der Kinder.“ Die Tabelle als Kernmittel beim Schreibenlernen zu verwenden, sei fahrlässig. „Durch das Prinzip Versuch und Irrtum wird ein Kind niemals in vier Jahren schreiben lernen.“

Doch dieses Kernprinzip ist noch immer verbreitet. Laut einer Auswertung des Germanistik-Professors Albert Bremerich-Vos [Universität Duisburg-Essen] benutzen 71 Prozent der Viertklässler die Anlauttabelle. 47,9 Prozent der Lehrer setzen sie in ihrem Unterricht sogar intensiv ein. […]

Vor einem Jahr hat die Bonner Psychologin Röhr-Sendlmeier ihre Ergebnisse dem Schulministerium des Landes NRW vorgestellt. Infolgedessen gab im Sommer Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) eine Handreichung an alle Grundschulen des Landes heraus: Der Rechtschreibunterricht benötige mehr Systematik. Schon Erstklässler bräuchten Hinweise auf das normgerechte Schreiben, und sie müssten kurz, aber regelmäßig üben. Die Anlauttabelle könne nicht dem Erwerb der Rechtschreibung dienen, sondern nur ein Hilfsmittel sein. […]

Anne Deimel, Leiterin einer Grundschule und Verbandsvize des Lehrerverbandes VBE in NRW: „Seit etwa zehn Jahren wird der Unterricht in der Grundschule immer schwieriger“. „Die Vorerfahrungen, mit denen die meisten Kinder in die Schulen kommen, haben sich deutlich verändert. Die Klassen werden immer heterogener. Die Lehrkräfte reichen nicht aus.“

Während in den Grundschulen Ressourcen fehlen, entstehen anderswo neue: In den letzten Jahren ist ein riesiger Nachhilfemarkt entstanden. Wer es sich leisten kann, bezahlt seinem Kind die Nachhilfe oder unterrichtet es zusätzlich zu Hause. Das Nachsehen haben Kinder aus bildungsfernen Familien. „Nur bildungsnahe Eltern sind in der Lage, den Schaden von ihrem Kind abzuwenden“, bestätigt die Bonner Forscherin Röhr-Sendlmeier.

„Es ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal.“

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben sowie Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch folgender Beitrag: „Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden.“

Digitalisierung im Bildungsbereich

Der Philologenverband Baden-Württemberg hat im März 2019 ein Positionspapier zur Digitalisierung im Bildungsbereich vorgelegt. Nachfolgend ein Auszug daraus.

Welche Hoffnungen werden in der öffentlichen Diskussion mit der Digitalisierung im Bildungsbereich verbunden? Welche Risiken und Gefahren birgt sie?

Zunächst werden die oft genannten Vorteile und Chancen beschrieben (Kursivdruck). Danach wird dazu Stellung bezogen:

1. Lernen wird anschaulicher durch den Einsatz digitaler Medien (Audio, Video, Internet, Beamer, Smartboards), Virtual Reality, 3 D-Brillen usw. Schüler ‘erleben’ Lerngegenstände zum Beispiel im Sprach-, Geographie- oder Biologieunterricht hautnah, neuartige Einsatz- und Demonstrationsmöglichkeiten für Lehrkräfte und Schüler.

Ja, das Lernen kann durch den Einsatz digitaler Medien anschaulicher werden. Aber Anschaulichkeit ist kein Zweck an sich, sondern dient als Grundlage für darauf aufbauende Abstraktion. Wenn nur auf Anschaulichkeit gesetzt wird, verkümmert die eigene Vorstellungskraft und die gedankliche Abstraktionsfähigkeit. Verständnis beruht auch nicht nur auf visueller Anschaulichkeit, sondern dem Be-Greifen, feinmotorischem, körperlich-sinnlichem Lernen, anfassen, machen, schreiben. Virtuelle Realität ist kein vollwertiger Ersatz für Lernen in der realen Welt.

2. Lernen wird zum Spiel: Auf ‘Gamifizierung’ (‘Gamification’) beruhende Lernprogramme motivieren Schüler durch individuelle Belohnung und Lernanreize: ‘Du schaffst auch noch den nächsten Level!’

Ja, spielerische Elemente können den Unterricht bereichern und die Motivation steigern, gerade Jungen können durch den Wettbewerbscharakter von Spielen aktiviert werden. Aber Unterricht darf nicht ausschließlich oder zum größten Teil Spielcharakter haben und ‘Fun’ vermitteln, denn es geht um Lernen fürs Leben, und das Leben ist nun mal kein Spiel, keine Ponyhof-App, in der man immer mit viel Spaß das nächste Level erreicht. Für das Leben müssen Schüler auch Frustrationstoleranz lernen, die Fähigkeit, Aufgaben zu bewältigen, die nicht immer Spaß machen, die Erkenntnis gewinnen, dass die Freude beim Lernen auch durch die erfolgreiche Bewältigung schwieriger, ja auch langweiliger Aufgaben bestehen kann. Die Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit werden auch durch langweilige Arbeitsschritte trainiert, ständige Bespaßung lässt sie verkümmern.

3. Lernen wird individualisiert – Mit Heterogenität kann dadurch besser umgegangen werden, sodass alle Lerntypen, hochbegabte und schwächere Schüler, Schüler aus bildungsnahen und bildungsfernen Schichten optimal lernen: Lernsoftware geht durch ‘intelligente’ Algorithmen auf die individuellen Bedürfnisse, Stärken und Schwächen des Lerners ein. Der digitale Coach ist nie ungeduldig, hat immer Zeit, ist immer freundlich und ermutigend. Der Schüler kann gemäß seinen Bedürfnissen, auf individuellen Lernwegen und in seiner Geschwindigkeit lernen. Lehrkräfte werden entlastet und können sich besser um die Förderung einzelner Schüler kümmern.

Ja, Lernsoftware kann bestimmte Lern- bzw. Unterrichtsphasen durch automatisierte Individualisierung unterstützen, gerade in Übungsphasen basaler Kompetenzen in der Mathematik oder dem Fremdsprachenunterricht (Vokabellernen, Verbkonjugationen, Rechtschreibung …). Aber gerade gymnasialer Unterricht geht weit über den Erwerb, die Übung und Festigung basaler Kompetenzen hinaus: Er ist durch darauf aufbauenden Dialog, Diskussion und Reflexion von Schülern untereinander und mit dem Lehrer gekennzeichnet, was nicht durch Lernprogramme simuliert werden kann. Die Individualisierung ist auch kein Wert an sich, sie darf nicht zur Vereinzelung im persönlichen Lernatelier, zu einer Art Kaspar-Hauser-Pädagogik führen, die soziales Lernen in der Gruppe gefährdet. Eine weitere Gefahr besteht im Datenschutzbereich: Durch intelligente Lernsoftware fallen gewaltige Mengen personenbezogener Daten an, die von interessierter Seite für die Erstellung umfangreicher Persönlichkeits-, Lern- und Kompetenzprofile verwendet werden könnten. Dies muss kontrolliert bzw. von vornherein verhindert werden. Im Übrigen befördert effektive Individualisierung nicht unbedingt das, was gemeinhin unter Bildungsgerechtigkeit verstanden wird: Gut gemachte Individualisierung ermöglicht den stärkeren Schülern, die über mehr Vorwissen verfügen, ein noch schnelleres Voranschreiten als schwächeren, sodass die Leistungsschere in der Lerngruppe durch wirksame Individualisierung noch stärker auseinanderklaffen wird.

4. Lernen wird aktiver und kreativer: Schüler werden von Konsumenten der Lerninhalte zu Produzenten multimedialer Projekte und Präsentationen. Schüler reagieren nicht nur auf Fragen des Lehrers, sondern werden kreativ und können so ihre Talente und ihre Persönlichkeit besser entfalten.

Ja, gerade die Ergebnissicherung und Vertiefung von Unterrichtseinheiten durch kreatives Gestalten und die Motivation, die durch den Stolz auf ein gelungenes Produkt entsteht, sind eine enorme Bereicherung für den Unterricht. Projekt- und produktorientiertes Arbeiten (Referat, Wandzeitung, Plakat, szenisches Gestalten, musikalisches Gestalten) hat deshalb auch seit Jahrzehnten einen berechtigten, aber auch klar begrenzten Platz im gymnasialen Unterricht. Digitale Geräte und Anwendungen können natürlich gerade bei der Erstellung digitaler Projekte hervorragende Unterrichtsmedien sein. Aber Schüler können sich nicht alles selbst durch Projektarbeit beibringen: Gelungener Unterricht besteht aus einem breiten Mix vielfältiger Unterrichtsmethoden, Sozial- und Lernformen. Berücksichtigt werden muss auch der Zeitbedarf projektorientierten Arbeitens, sodass Aufwand und Ertrag in einem vertretbaren Verhältnis stehen müssen.

5. Bildungsgerechtigkeit, Demokratisierung, Aktualität: Informationen und Lernmedien werden in digitaler Form in Echtzeit einfach, kostengünstig für jedermann und global verfügbar.

Es gibt viele Bücher, Texte, Medien kostenlos und leicht zugänglich im Internet. Aber das Problem ist die Wertung, die nicht durch bloßes Vorhandensein der Medien gegeben, sondern nur durch Kompetenzerwerb des Nutzers ermöglicht wird, da es ebenso Fehlinformationen, Täuschungen, Manipulationsversuche etc. kostenlos global zugänglich gibt.

6. Lehrkräfte werden entlastet und können sich besser um einzelne Schüler kümmern: Schüler lernen selbstständig in digitalen Lernumgebungen, der Lehrer hat Zeit, sich im Unterricht um einzelne Schüler mit Unterstützungsbedarf zu kümmern.

Ja, in den sinnvollerweise begrenzten Phasen, in denen die Schüler, wie weiter oben beschrieben, selbstständig lernend oder produktiv mit digitalen Medien und Geräten arbeiten, bietet dies eine punktuelle Entlastung der Lehrkraft in der jeweiligen Unterrichtssituation. Allerdings ist dies nur eine Verlagerung der Lehrerarbeit, denn diese Selbstlernphasen müssen aufwendig von der Lehrkraft vor- und nachbereitet werden. Und zuallererst müssen erst einmal die notwendigen Voraussetzungen an den Schulen geschaffen werden! Dies erfordert für die Lehrkräfte an anderer Stelle enormen Zusatzaufwand durch die Planung und Ausrüstung der Schulen mit der notwendigen Infrastruktur und den entsprechenden Geräten, die ja auch regelmäßig gewartet und mit Updates versorgt, von bedenklichen Inhalten und Viren freigehalten und repariert werden müssen, ganz zu schweigen von den im Vorfeld zu erstellenden pädagogischen Konzepten zum didaktisch sinnvollen Einsatz der digitalen Möglichkeiten im Unterricht und entsprechenden Fortbildungsaufwand. Insgesamt entsteht durch die Digitalisierung schulischer Bildung erheblicher Mehraufwand für die Lehrkräfte, der durch eine Arbeitszeitsenkung bzw. die Aufstockung von Anrechnungsstunden für die mit der Digitalisierung verbundenen Zusatzaufgaben aufgefangen werden muss. Eine weitere Belastung entsteht durch die Entgrenzung der Arbeitszeit, wenn von Lehrkräften erwartet wird, schulische Aufgaben über digitale Informations- und Kommunikationsplattformen auch noch zuhause in der eigenen Freizeit zu erledigen. Wenn die Verwendung digitaler Endgeräte von Lehrkräften erwartet wird, müssen diese zuallererst vom Dienstherrn mit denselben für den Dienstgebrauch ausgestattet werden.

7. Lernen wird zeit- und ortsunabhängig: Schüler können auf Unterrichtsmaterialen auch von Zuhause zugreifen, angefangene Arbeiten beenden und im Krankheitsfall einfacher Versäumtes nachholen. Auch Vertretungsstunden können so besser vorbereitet werden.

Ja, Online-Lernvideos ermöglichen, dass sie auch die Erklärungen des Lehrers zum Beispiel vor einer Klassenarbeit noch einmal anhören können, in ihrem Tempo und so oft wie nötig. Am effektivsten sind dabei aber selbst erstellte Videos des eigenen Lehrers. Lernplattformen wie Moodle ermöglichen Schülern den Zugang zu Lernmaterialien von zuhause aus. Digitale Kommunikation ermöglicht Information und Beratung außerhalb der Schule und des Unterrichts. All dies darf aber nicht zur Entgrenzung der Arbeitszeit der Lehrkräfte führen.

8. Statt im Computerraum lernen Schüler im internetgestützten ‘Flipped Classroom’ außerhalb der Unterrichtszeit zuhause und wenden dann im Unterrichtselbständig das Gelernte an, während der Lehrer sich den individuellen Problemeneinzelner Schüler zuwendet. (Mit Tablets und W-LAN Anbindung kann injedem Raum der Schule digital gelernt werden.)

Das kennen wir schon. Früher nannte man das Hausaufgaben, d. h. es gibt schon immer die Möglichkeit, den Unterricht dadurch vorzuentlasten, dass Schüler zuhause nicht nur das im Unterricht Gelernte üben, sondern auch schon einmal für ein neues Thema erste Informationen selbst recherchieren, einem Text Informationen entnehmen usw. Das hat allerdings immer schon nur eingeschränkt funktioniert (welcher Schüler hat die Kurzgeschichte tatsächlich zuhause gelesen, die dann im Deutschunterricht behandelt werden soll?) Natürlich kann hierfür die Verwendung digitaler Geräte und Medien eingesetzt werden, wenn sie einen didaktischen Mehrwert haben. Allerdings ist dies an vielfältige Voraussetzungen und Ressourcen geknüpft: Schüler müssen die digitalen Geräte (Smartphone, Tablet, PC …) samt der erforderlichen Programme bzw. Apps samt breitbandigen Internetanschluss zur Verfügung haben (Wer finanziert das? Die Eltern? Die Schule? Die Gemeinde? Das Land?). BYOD (‘ Bring Your Own Device’ – Bring‘ dein eigenes Gerät mit) ist hier keine Lösung, sondern wirft die Frage der Chancengleichheit auf. Besonders problematisch wird es für die Lehrkräfte, wenn von ihnen erwartet wird, dass sie außerhalb der Schulzeit dann womöglich doch noch als Ansprechpartner für Fragen oder technische Probleme zur Verfügung stehen sollen (Entgrenzung der Arbeitszeit). Wenn die Schüler die digitalen Geräte und das Internet völlig selbständig zuhause nutzen, stellt sich die Frage nach der Aufsicht, des Jugendschutzes bzw. der Verhinderung von Medienmissbrauch.

9. Lehrkräfte werden zum ‘Lerncoach’, zum Begleiter des selbstständigen Lernens der Schüler: Sie haben nicht mehr die Rolle der ‘allwissenden’ Wissensvermittler,sondern begleiten und unterstützen individuelle Lernprozesse derSchüler.

Ja, der Lernprozess setzt natürlich die Aktivität und eine gewisse Selbstständigkeit des Schülers voraus. Dies kann in geeigneten Unterrichtssituationen durch Software und digitale Geräte unterstützt werden. Jeder Lehrer wusste aber schon immer, dass Lehrer sehr viel mehr als Lernbegleiter sind. Die Lehrperson ist zentral für den Lernprozess der Schüler: Lehrer verkörpern und vermitteln Unterrichtsinhalte, motivieren Schüler, gestalten und stützen aktiv Lernprozesse, minimieren Störungen usw. Dies zeigt auch die empirische Bildungsforschung, nicht erst seit der großen Meta-Studie ‘Visible Learning’ von John Hattie.

10. Digitalisierung der Bildung muss möglichst früh einsetzen und kann auch in der Grundschule oder sogar schon im Vorschulbereich die Motivation erhöhen und Lernerfolge steigern.

Ja, digitale Geräte, Smartphones und Tablets üben zweifellos einen großen Reiz aus – gerade auch auf kleine Kinder. Zunächst müssen die Schüler aber erst einmal die grundlegenden Kulturtechniken (Lesen, Rechnen, Schreiben, verbundene Handschrift) erwerben. Dies ist auch Voraussetzung für den erfolgreichen Übergang auf weiterführende Schulen, insbesondere das allgemeinbildende Gymnasium. Digitale Medien und Geräte können in der Grundschule im Einzelfall, in wohlüberlegten und zeitlich begrenzten Unterrichtssituationen, zum Einsatz kommen. Lehrer und Eltern sind aber fürsorgepflichtig und müssen die zu frühe und vor allem übermäßige Konfrontation mit Medien und Geräten verhindern. Je jünger die Kinder sind, umso zurückhaltender sollten digitale Geräte eingesetzt werden. Gefahren durch Medienmissbrauch und Sucht dürfen nicht vernachlässigt werden. Steve Jobs, Chefmanager der Firma Apple und Erfinder des iPads, hatte laut Medienberichten seinen eigenen Kindern die Nutzung von Tablets verboten.

11. Schüler werden durch digitalisierte Bildung besser auf die Anforderungen der künftigen Arbeitswelt in der Wirtschaft 4.0 vorbereitet.

Gymnasiale Bildung darf nicht für die Zwecke bestimmter gesellschaftlicher Interessengruppen instrumentalisiert werden, zum Beispiel für die Bedürfnisse der Wirtschaft. Dies wäre eine unzulässige Verzweckung und Verengung unseres Bildungsverständnisses. Das Ziel gymnasialer Bildung liegt in der Person des Schülers, in der Entwicklung einer umfassend informierten, verantwortungsvollen und autonomen Persönlichkeit, die ein gelingendes Leben in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ermöglicht. Die Bildung selbst denkender, mündiger Bürger ist die Grundvoraussetzung für den Fortbestand unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Eine solche umfassende Bildung ist dann auch eine gute Grundlage für die anschließende berufliche Bildung – sei es im universitären oder im dualen Bereich. In dem Maße, in dem digitale Geräte und Medien einer solchen umfassenden Bildung wirksam dienen, sind sie am allgemeinbildenden Gymnasium hoch willkommen.

Zum gesamten Beitrag: https://www.phv-bw.de/images/download/2019/PhV_BW-Positionspapier Digitalisierung WEB.pdf

Zum Dossier der GEW: 2016 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) die Strategie “Bildung in der digitalen Welt” beschlossen. Die GEW fasst zentrale Aspekte der Strategie zusammen und ordnet diese vor dem Hintergrund ihrer bildungspolitischen Positionen ein.


Anmerkung zur Digitalisierung im Bildungsbereich von Schulforum-Berlin:

Digitale Schulen oder: Fortschritt ist eine Schnecke
Obwohl die boomende IT-Branche händeringend nach Fachkräften sucht, „schreiben unsere Kinder jedoch weiter auf Kreidetafeln“ und ohne „schnellen Internetanschluss“ wird die Schule zum „letzten Hort des Analogen“. So beschreibt Prof. Gesche Joost [1] die Schule in ihrem Beitrag im Tagesspiegel vom 15.11.2017 und stellt auch noch die rhetorische Frage: „Wie kann das sein?“ Als Lobbyistin der IT-Industrie kennt sie natürlich die Antwort und nimmt dazu eine Studie der Bertelsmann Stiftung zu Hilfe. Laut deren Darstellung müssten „2,8 Milliarden Euro für die digitale Infrastruktur jährlich in Schulen investiert werden“. Die digitale Bildung ist, so führt sie weiter aus, „nicht nur eine Frage der Hardware, sondern einer gemeinsamen Strategie, die Bildung des 21. Jahrhunderts neu erfinden kann“.

Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologie- und Softwareunternehmen im Hintergrund eine völlig neue Mission. Sie rollen, so auch Prof. Joost, unter großen Worten wie „Unterstützung der Inklusion“ und „Unterstützung der Vielfalt“ ein Trojanisches Pferd in die Schulen:  Das “digitalisierte Lernen“ samt Laptops und Zusatzequipment. Jedoch: „Unter der Oberfläche wirken mächtige ökonomische Interessen in Form von Absatzpotenzialen von Hard- und Software und Kundengewinnungsmaßnahmen“.

Dazu LobbyControl: „Schulen sind dafür ein besonders geeigneter Ort, denn die Beeinflussung von Kindern wirkt ein Leben lang. Schulen sind in diesen Fällen nur Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel ist die Politik, denn diese lässt sich einfacher für Konzern-Belange einspannen, wenn das Unternehmen auf Zustimmung in der Bevölkerung verweist.“ […]
Da die Unternehmen den Bereich „Digitalisierung in der Bildung“ als Einfallstor für ihre ökonomischen Interessen nutzen, „gilt es eine gesellschaftliche Debatte zu führen mit dem Ziel, Standards für eine Bildung in Zeiten der Digitalisierung festzulegen. Dazu gehören auch Fragen des Datenschutzes und der Abhängigkeit von einzelnen Herstellern. Wenn diese Debatte ausbleibt, überlässt die Gesellschaft es den IT-Konzernen darauf Antworten zu geben.“ [2]

LobbyControl spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass sich die Bildungsministerien – gerade bezüglich des Themas Digitalisierung – von „Konzernen vor sich hertreiben [lassen], anstatt demokratische Prozesse zum Umgang mit Digitalisierungsanforderungen an Schulen zu organisieren.“ Öffentliche Aufgaben würden zunehmend durch Private übernommen und dadurch „Teile der Bildung der demokratischen Kontrolle entzogen“. [3]

Vor Euphorie oder Zustimmung sei also gewarnt. Gerade beim “digitalen Lernen“ vor einem Bildschirm bleiben das Frontale und das Autoritäre erhalten, sie erscheinen nur in einer „coolen“ Form. Die Schüler werden von einem Algorithmus diktiert mit einem zum Coach bzw. Lernbegleiter degradierten Lehrer.
Bildung jedoch – auch im 21. Jahrhundert – ist ein „harmonisches Ganzes, das das Emotionale einbezieht, mit dem Ziel, dem Menschen die Ermächtigung zum Selberdenken zu geben. Nur das macht den Wissensträger mündig und unabhängig. Den Lehrer und den menschlichen Verstand ersetzen kann die digitale Technik nicht. Für die Erziehung zur Selbständigkeit, gerade in der politisch gewollten Heterogenität in den Schulklassen, braucht es besonders und immer mehr den analogen sozialen Verbund.“ [4]

[1] Internetbotschafterin der Bundesregierung bei der EU-Kommission von März 2014 bis Juni 2018. Seit Mai 2015 sitzt Joost auch im Aufsichtsrat der SAP SE.
[2] siehe LobbyControl
[3] Kaske/Kamella (2017): Lobbyismus an Schulen. S. 11,15. Siehe auch: „Who is who“ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda, Annina Förschler, Pädagogische Korrespondenz, 58/18, S. 31 – 52, (S. 48)
[4] NZZ, 26.05.2017, Claudia Wirz, Unser Lehrer Doktor Tablet
Vollständiger Beitrag und weitere Quellen siehe Schulforum-Berlin

„Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden“

Lehrmethoden: Fehler sollen wieder korrigiert werden

Bereits am 24.04.2019 schrieb Heike Schmoll zu diesem Thema in der FAZ:

Diesen Zettel hat eine Grundschülerin am Ende der ersten Klasse an ihre Zimmertür gehängt. Wenn Grundschulkinder auch nach fast einem Jahr Unterricht noch so schreiben wie sie hören, dann geht den Eltern der Hut hoch. Sie können einfach nicht nachvollziehen, dass nicht einmal die Vermittlung der kulturellen Basiskompetenzen zu gelingen scheint. Und sie halten es fast nicht aus, dass die Lehrer es ihnen auch noch verbieten, falsche Schreibungen zuhause zu korrigieren.

Die Methode „Lesen durch Schreiben“ […] ist noch fragwürdiger geworden, seit eine Bonner Studie [siehe Kasten], die auch eine Langzeitbeobachtung umfasste, die klare Überlegenheit des Fibel-Einsatzes mit einem systematischen Rechtschreiberwerb belegt hat.

Die meisten Bundesländer haben deshalb die Reißleine gezogen und den Grundschulen nahegelegt, von Anfang an orthographisch richtige Schreibweisen zu lehren und Fehler zu korrigieren. Branden­burg etwa reagierte unmittelbar auf die Bonner Studie und untersagte den Grundschullehrern, die Methode „Lesen durch Schreiben“ noch anzuwenden.

Studie der Universität Bonn: Rechtschreiberfolg nach unterschiedlichen Didaktiken – eine kombinierte Längsschnitt-Querschnittstudie in der Grundschule
Theorie:  „Basierend auf empirischen psychologischen und linguistischen Forschungsbefunden (Schründer-Lenzen, 2013) wird der Frage nachgegangen, ob der Unterricht nach verschiedenen Rechtschreibdidaktiken zu unterschiedlichen Lernleistungen im Verlauf der Grundschule führt. Die Rechtschreibleistungen von Grundschulkindern, die entweder mit einem systematischen Fibelansatz, dem freien Konzept Lesen durch Schreiben oder mit der Rechtschreibwerkstatt unterrichtet wurden, wurden analysiert, wobei letztere den Spracherfahrungsansatz verfolgen. Es interessierte ferner, ob sich zwischen den Didaktikgruppen die intrinsische Schreib- und Lesemotivation unterschied, da Vertreter des Spracherfahrungsansatzes hier einen Vorteil ihrer Methode gegenüber dem Fibelansatz postulieren.“
Diskussion:  Die Ergebnisse der Studie „sprechen deutlich für die Überlegenheit des Unterrichts mit einem Fibelansatz. Nicht nur waren die Rechtschreibleistungen der systematisch angeleiteten Kinder besser als die der anderen Didaktikgruppen, und zwar mit überwiegend großem Effekt; sondern auch die Streuung der Werte war in der Fibelgruppe weit geringer. Sehr viele Kinder scheinen demnach von dieser Lehrmethode zu profitieren, obwohl sie zu Beginn der Schulzeit weniger Vorkenntnisse hatten als die Lesen-durch-Schreiben-Kinder. Die in der Studie ermittelten Ergebnisse der Rechtschreibtestungen wurden aus ethischen Gründen an die Schulen zurückgemeldet. Dies betrifft jedoch alle untersuchten Kinder gleichermaßen. Sowohl die intrinsische Schreib- als auch die intrinsische Lesemotivation der Fibelkinder waren jeweils nicht geringer als die der Kinder, die nach einem der beiden Spracherfahrungsansätze unterrichtet worden waren. Die vorliegenden Daten widerlegen die Grundannnahme des Spracherfahrungsansatzes, ein frühes Korrigieren von Rechtschreibfehlern demotiviere die Kinder, sich mit Schriftsprache auseinanderzusetzen.
Insgesamt kann basierend auf den Ergebnissen dieser längsschnittlichen wie querschnittlichen Analysen ein Rechtschreibunterricht mit den beiden Didaktiken des Spracherfahrungsansatzes – Lesen durch Schreiben oder Rechtschreibwerkstatt – nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Die Didaktik Rechtschreibwerkstatt führt bei vielen Kindern in der vorliegenden Stich­probe nachweislich zu besonders geringen Rechtschreibleistungen.“ […]
Tobias Kuhl & Una M. Röhr-Sendlmeier, Universität Bonn, Institut für Psychologie

Nun hat auch Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer die Konsequenzen gezogen und eine neue Handreichung für die Grundschullehrer [siehe Kasten] herausgegeben. „Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden“, sagt Gebauer.

Auszug aus der neuen Handreichung für Grundschullehrer:

Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW – Handreichung (Juni 2019)
Damit alle Kinder richtig schreiben lernen können, bedarf es eines systematischen und anregenden Rechtschreibunterrichts in der Grundschule, der Sicherheit beim Schreiben vermittelt und die Erfahrung ermöglicht, dass das richtige Schreiben machbar, sinnvoll und notwendig ist. Dies gilt auch für die erste Klasse, denn schon Schreibanfängerinnen und Schreibanfänger brauchen Hinweise auf normgerechte Schreibungen und Anregungen, dem System unserer Orthografie auf die Spur zu kommen, damit sie nicht denken, dass man „schreibt wie man spricht“. […] Damit trägt die Schule eine besondere Verantwortung, Schülerinnen und Schüler bestmöglich bei der Entwicklung ihrer Rechtschreibkompetenz zu unterstützen, unabhängig davon, wie man deren gesellschaftliche Bedeutung bewerten mag. Diese Verantwortung wird auch angesichts aktueller Befunde über sinkende Rechtschreibkompetenzen am Ende der Grundschulzeit deutlich. (S. 6)

Bereits in der ersten Klasse, also für viele Kinder zu Beginn des Schriftspracherwerbs, hat Rechtschreibunterricht seinen Platz: als integrativer Bestandteil einer vielseitigen Beschäftigung mit Schrift. Guter (Recht-)Schreibunterricht zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass die Kinder sowohl selbständig Wörter, Sätze, Texte zu persönlich sinnvollen Schreibanlässen konstruieren und lesen (Schriftgebrauch), als auch richtig geschriebene Wörter abschreiben, dadurch üben und sie im Hinblick auf Rechtschreibphänomene erkunden (Schriftorientierung). […] Die ersten Schulwochen sind entscheidend für das weitere Lernen: die Kinder erfahren, inwiefern der Unterricht mit ihnen als Personen und mit ihren bisherigen Erfahrungen mit Schrift und Schriftgebrauch etwas zu tun hat. Sie prägen die Vorstellung der Kinder von Schule und Unterricht. (S. 25)

In Hamburg, Schleswig-Holstein, sowie in Bayern und Baden-Württemberg sollen die Grundschullehrer ebenfalls von Anfang an korrekte Schreibweisen beibringen, in den ostdeutschen Ländern hat man ohnehin wenig Gebrauch von reformpädagogischen Modellen gemacht.

Zur Berliner Schulsituation

Der Berliner Tagesspiegel vom 31.05.2018, hat folgende Überschrift:
Scheeres will „Schreiben nach Gehör“ beibehalten.
Am 10.09.2019 haben sich ca. 60 Grundschullehrerinnen bei einer Regionalen Fortbildung der Schulverwaltung für das Thema: „Drei Didaktiken des Rechtschreiblernens – nur Fibelunterricht wirkt?“ mit Frau Professor Dr. Una Röhr-Sendlmeier angemeldet.
Frau Röhr-Sendlmeier stellte zunächst die Ergebnisse der Studie “Der Verlauf des Rechtschreib-Lernens – drei Didaktiken und Ihre Auswirkungen auf Orthographie und Motivation in der Grundschule“ vor. In der Diskussion wurden die Inhalte vertieft und die eigene Praxis im Unterricht reflektiert. Für eine weitere Bearbeitung des Themas und Unterrichtshilfe hat Fau Professor Röhr-Sendlmeier auf die neu erstellte Handreichung „Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW“ hingewiesen [siehe Link am Beitragsende]. Eine Lehrerin kannte die Handreichung aus NRW bereits und wies darauf hin, dass die Grundschullehrer endlich ein wissenschaftliches Fundament für den Rechtschreibunterricht an die Hand bekommen. Von den ca. 60 Teilnehmerinnen unterrichtet eine Lehrerin nach einem systematischen Fibelansatz, keine nach der Methode der Rechtschreibwerkstatt. Die Mehrheit der Anwesenden unterrichten nach dem freien Konzept Lesen durch Schreiben. Eine Übersicht, wie viele und welche Grundschulen in Berlin welche Methode unterrichten, ist nicht bekannt, jedoch die Ergebnisse aus Vera 3 (Vergleichsabeiten in der 3. Klasse). Im Tagesspiegel vom 20.07.2019 ist zu lesen: Berliner Drittklässler können viel zu wenig. Die Ergebnisse sind seit Jahren miserabel: Mehr als die Hälfte der Schüler kann nicht ausreichend lesen und rechnen.“ In der Rechtschreibprüfung von 2017 erfüllte knapp die Hälfte der Schüler nicht einmal die Mindestanforderungen.

Der Leistungsvergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gibt den restriktiven Ländern, die für korrekten Schreiberwerb plädieren, recht: Mehr als jeder fünfte Viertklässler in Deutschland erfüllt die Mindeststandards in der Rechtschreibung nicht. Das ist insofern katastrophal, als weiterführende Schulen darauf setzen müssen, dass die Rechtschreibung beherrscht wird. Denn die Lehrer dieser Schulen sind gar nicht darauf vorbereitet, Orthographie zu unterrichten. […]

Ein wichtiges Argument gegen den Einsatz der Methode „Lesen durch Schreiben“ ist der wachsende Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund. Wer Deutsch als Zweitsprache gelernt hat, kann nicht auch noch zweimal Rechtschreibung lernen. Deshalb sollten auch wieder Diktate geschrieben werden. Auch schwächere muttersprachliche Schüler werden unter dem Rechtschreib-Hin- und Her nur leiden. Am wenigsten schaden solche Experimente denen, die immer durchkommen: den überdurchschnittlich Begabten. Die Aufgabe der Grundschule ist es aber, alle so mit den Basistechniken Lesen, Schreiben, Rechnen auszustatten, dass ihnen unabhängig von ihrer Herkunft alle Schulbildungswege offen stehen. Schon deshalb ist es eine Frage der Gerechtigkeit, von Anfang an korrektes Schreiben zu lehren.

Textauswahl der grau unterlegten Einschübe und Texthervorhebung im gelben Kasten durch Schulforum-Berlin.

Zum Artikel:  F.A.Z., 24.04.2019, Heike Schmoll, Berlin, Lehrmethoden: Fehler sollen wieder korrigiert werden

Zur PDF-Datei einer vierseitigen Zusammenfassung der Handreichung zum Download
Zur PDF-Datei der Handreichung: „Hinweise und Materialien für einen systematischen Rechtschreibunterricht in der Primarstufe in NRW

Die Glaubwürdigkeit der Lehrperson

„Karl, das kannst du!“

Von Carl Bossard

Erwartung ist ein wirkungsstarkes Wort. Nicht als flinke Phrase formuliert, sondern als echtes Feedback artikuliert und mit Lernhilfen intensiviert. Eine pädagogische Grundhaltung ist die Basis.

Sechste Klasse, strenge Zeit! Der Übertritt steht bevor. Doch die Welt hält noch anderes bereit als nur Unterricht. Da ist beispielsweise das Mädchen in der Parallelklasse. Schule wird zur Nebensache; Kraft und Konzentration kanalisieren sich neu. Ich weiss noch, wie ich in dieser Zeit einen schluderig formulierten Text abgegeben habe. Unser Lehrer hat jeden Aufsatz eigenhändig korrigiert – elf in der fünften, elf in der sechsten Klasse – und ihn mit jedem Einzelnen besprochen. Kurz. Klar. Konzentriert. Ich stand vor ihm am Pult. Hinter seiner Strenge leuchtete etwas. Er zeigte mir die Korrektur und sagte lediglich den einen Satz: „Karl, das kannst du!“ Mehr nicht.

Lehrererwartungen wirken

Die Aussage traf mich; die wenigen Worte wirkten: Der Lehrer traute mir Besseres zu; er erwartete mehr, als ich im Moment lieferte. Unbewusst nahm ich wahr: Er wollte den Brotkorb hoch hängen, damit sich mein geistiger Hals recke. Und er traute es mir zu; er vertraute mir.

Vertrauen ist der Anfang von allem. Auch in der Pädagogik – in diesem subtilen intersubjektiven Geschehen zwischen Lehrpersonen und ihren Kindern und Jugendlichen. Vertrauen, dieses kleine Wort mit neun Buchstaben, ist gebunden an Glaubwürdigkeit. Es bedarf kaum vieler empirischer Daten, um zu erkennen, welchen Einfluss das Vertrauen und die damit verknüpfte Glaubwürdigkeit im menschlichen Miteinander haben.

Glaubwürdigkeit als Kern einer intakten Lehrer-Schüler-Beziehung

Ohne Glaubwürdigkeit sind Kooperation und Kommunikation nur erschwert möglich. Das haben viele schon erfahren. Darum überrascht es nicht, dass John Hatties wegweisende Studie dem Faktor „Glaubwürdigkeit“ der Lehrperson eine der höchsten Effektstärken zuordnet. [1] Ihre Glaubwürdigkeit beeinflusst den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler positiv. Viele Daten zeigen es.

Glaubwürdigkeit basiert auf ehrlichem, intensivem Feedback und klarer, konkreter Sprache. Beiden Aspekten kommt – nicht überraschend – ebenfalls ein großer Wirkwert zu. Klarheit braucht pädagogischen Mut. Fehler beschönigen oder sie gar verschweigen versperrt Lernwege und schwächt das Vertrauen. Die Lernenden wissen meist um ihre Schwächen; sie können sie aber nicht präzis benennen. Oberflächliches Feedback kratzt darum an der Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Eine differenzierte, sachlich unerbittliche Rückmeldung, menschlich wohlwollend und zuversichtlich formuliert, stärkt die Lehrer-Schüler-Beziehung.

Lernen braucht intakte Beziehungen

Mein Text aus der sechsten Klasse war schlampig verfasst; irgendwie wusste ich es. Doch der Lehrer sagte nicht: „Das ist unbrauchbar! Das kannst du nicht!“ Er verwies mich lautlos auf die Korrektur und meinte nur: „Karl, das kannst du!“

Wie Rückkoppelungen formuliert werden und wirken, ist wissenschaftlich gut untersucht. [2] Entscheidend im Feedback-Verhalten sind Sprache und Ausdruck. Spürt die Schülerin die Zuversicht der Lehrperson? Erfährt der Schüler eine wertschätzende Haltung des Vertrauens und Zutrauens? Erkennt der junge Mensch die Differenz zwischen Sein und Sollen? Und weiss er, was der Lehrer von ihm erwartet?

Unterricht ist im Kern Beziehungsarbeit

Lernen braucht eine intakte Lehrer-Schüler-Beziehung und eine angstfreie, lernförderliche Atmosphäre der Zuversicht. Der Schlüssel dazu ist die Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse.

Neu ist die viel höhere Effektgrösse, die John Hattie heute dem Faktor „Lehrererwartung“ zuordnet, dies im Vergleich zu seiner Ursprungspublikation von 2009. [3] Zahlreiche zusätzliche Studien bestätigten in der Zwischenzeit, wie wichtig dieser Aspekt ist. Sie verstärkten den Wirkwert der Lehrererwartung. Das lässt aufhorchen.

Pygmalion-Effekt mit Langzeitwirkung

Bekannt geworden ist dieser Effekt durch die berühmte Studie „Pygmalion im Unterricht“ von Robert Rosenthal und Leonore F. Jacobson. [4] Die beiden Forscher wiesen 1968 nach: Wenn Lehrpersonen ein positives Bild von Lernenden haben und viel von ihnen erwarten, fördern sie diese Jugendlichen stärker als deren Mitschülerinnen und Mitschüler. Das zeigt sich beispielsweise an der Intensität der Zuwendung oder an der Geduld bei Lernprozessen. Winfried Kronig, Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Freiburg, konnte nachweisen, dass die Erwartungshaltung der Lehrperson aus der zweiten Klasse die Leistung in der 6. Klasse noch immer beeinflusst – dies über eine Zeitachse von vier Schuljahren.

Der Pygmalion-Effekt zählt zu den bestuntersuchten pädagogischen Wirkfaktoren. Prototypisches Beispiel ist der Phonetiker Higgins im Musical „My Fair Lady“, verfilmt mit Audrey Hepburn und Rex Harrison. Higgins glaubt an das Blumenmädchen Eliza Doolittle und traut ihr das blütenreine Oberklassen-Englisch zu. Eliza schafft es und besteht beim Ball des Botschafters als angebliche Herzogin.

Sich der Erwartungen an die Schüler bewusst sein

Umgekehrt lässt der Pygmalion-Effekt auch den Schluss zu, dass gleichgültige oder gar negative Lehrererwartungen zu schwächeren Lernleistungen führen können. Darum müssen sich Lehrinnen und Lehrer ihrer Erwartungshaltung bewusst werden. Die „self-fulfilling prophecy“, die selbsterfüllende Prophezeiung, gilt für positive wie für negative Erwartungen.

Ob unser 5./6.-Klasslehrer den Phonetikprofessor Higgins gekannt hat, weiss ich nicht. Der Film erschien jedenfalls erst nach meiner Primarschulzeit. Ich weiss nur: Er erwartete eine bessere Lernleistung und traute sie mir zu. Mein Primarlehrer wirkte – im positiven Sinne. Noch heute höre ich seinen Satz: „Karl, das kannst du!“

Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans (Schweiz), Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen.

Zum Artikel und den Literaturhinweisen: https://www.journal21.ch/karl-das-kannst-du

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.