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Gesundheitsstadträte fordern umfassendes Handyverbot an Berliner Schulen

Mit einem offenen Brief [1] appellieren die Bezirksstadträtinnen und -räte für Gesundheit und Jugend von Marzahn-Hellersdorf (Gordon Lemm), Steglitz-Zehlendorf (Carolina Böhm) und Tempelhof-Schöneberg (Oliver Schworck) eindringlich an die Berliner Senatorin für Bildung, Katharina Günther-Wünsch, und die Senatorin für Gesundheit, Dr. Ina Czyborra, ein umfassendes Handyverbot an allgemeinbildenden Schulen zu erlassen.

Der Vorstoß zielt darauf ab, die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um Schulen bei der Reglementierung von Smartphones während des Schulaufenthalts zu unterstützen. Zum Schutz einer gesunden und angstfreien Entwicklung aller Kinder und Jugendlichen an Schulen sowie zur Schaffung einer förderlichen Lernumgebung sei dieser Schritt aus Sicht der Stadträte unumgänglich. Die Nachteile einer unkontrollierten Smartphone-Nutzung überwiegen die möglichen Vorteile bei weitem.

Aktuelle Studien, darunter eine repräsentative Umfrage der Barmer Krankenkasse, zeigen alarmierende Zahlen: Fast 40 % der Schülerinnen und Schüler sind bereits Opfer von Mobbing und insbesondere Cybermobbing geworden, wobei die Schule häufig der zentrale Ort des Geschehens ist. Die psychischen Belastungen, die mit Cybermobbing und dem freien Zugang zu nicht altersgerechten, verstörenden Inhalten einhergehen, können zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen. Ein Viertel der Opfer von Cybermobbing gab an, unter Suizidgedanken zu leiden.

Trotz bestehender Möglichkeiten, Handys während der Schulzeit in einzelnen Schulgemeinschaften zu untersagen, sind diese Maßnahmen oft unzureichend. Der öffentliche Brandbrief der Friedenauer Friedrich-Bergius-Schule, an der ein solches Handyverbot wirkungslos blieb, verdeutlicht die Dringlichkeit einer allgemeinen gesetzlichen Regelung. Auch viele Schulen und Eltern wünschen sich zum Schutz ihrer Kinder verbindliche Regelungen.

Das Land Brandenburg hat gezeigt, dass ein solcher Schritt möglich ist. Ein grundsätzliches Verbot von Smartphones sollte jedoch auf die gesamte Schulaufenthaltsdauer und ebenso auf die Ober- und berufsbildenden Schulen ausgeweitet werden. Während digitale Medien eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen, ist es entscheidend, die negativen Auswirkungen einer ungesteuerten Nutzung zu minimieren. Der Initiator der Initiative, Familien- und Gesundheitsstadtrat Gordon Lemm (SPD):

„Die inzwischen erkennbaren Auswirkungen eines unkontrollierten Smartphone-Gebrauchs durch Kinder und Jugendliche zwingen uns zum Handeln. Während die negativen Folgen völlig evident sind, schauen wir als Gesellschaft und Verantwortliche in der Politik weitestgehend tatenlos zu oder überlassen die Lösung der Probleme den Schulgemeinschaften. Sowohl Eltern als auch der Gesetzgeber tragen hier Verantwortung, um das gute, gesunde Aufwachsen unserer Kinder zu ermöglichen. Gerade in diesem Bereich ist der elterliche Einfluss aber überschaubar. Mehr als die Hälfte der in der Barmer-Studie befragten Eltern gaben an, ihren Kindern im Internet freie Hand zu lassen. Smartphones sind für uns alle wichtige Werkzeuge für Wissenserwerb, Kommunikation und Unterhaltung. Ein grundsätzliches Handyverbot an Schulen soll nicht im Widerspruch zum Erlernen von Medienkompetenz stehen, sondern diese ermöglichen. Über die negativen Folgen insbesondere für Heranwachsende wird aktuell nicht in ausreichendem Maße gesprochen oder gewarnt. Wenn es zutrifft, dass viele Kinder an Schulen verstörende und altersunangemessene Videos und Bilder sehen und teilen, die zunehmende Nutzung digitaler Medien zu Vereinsamung, Verrohung und Angstzuständen führen kann und Mobbing, Erpressung und Ausgrenzung inzwischen vornehmlich digital ausgetragen werden, ist es für mich völlig unverständlich, warum wir dies als Gesellschaft dulden sollten.

Es gibt kein Grundrecht auf Smartphone-Nutzung und -missbrauch während der Schulzeit.

Wir sollten hier ein klares Zeichen setzen und Kindern und Jugendlichen diesen einen Rückzugsort geben und damit zur psychosozialen Entlastung unserer Schülerinnen und Schüler beitragen. Ich glaube, dass ein Handyverbot an unseren Schulen nicht nur dem sozialen Klima und dem Lernerfolg helfen, sondern auch viele Eltern dazu animieren würde, sich ernsthafter mit den Gefahren und Risiken einer inhaltlich wie zeitlich unbeschränkten Nutzung von Smartphones auseinanderzusetzen.“

[1] Offener Brief zum Handyverbot an Schulen (mit weiteren Links)


Mehrheit der Jugendlichen für Handyverbot in Schulen

lautet die Überschrift einer Meldung in der Berliner Zeitung vom 24.9.2025. Aus der dort zitierten Jugendstudie „Zwischen Bildschirmzeit und Selbstregulation“ wird deutlich, dass eine Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland ein Handyverbot in Schulen befürwortet.

„60% der Befragten sprechen sich für ein Handyverbot im Unterricht oder Klassenzimmer aus.“

Hervorhebungen durch Schulforum-Berlin

Problem: Smartphones in der Schule

Der nachfolgende Text ist aus einem Interview des Tagesspiegels vom 10. Mai 2025 mit Wilfried Seiring. Als erster Landesschulamtsleiter war Seiring von 1990 – 1998 Vorgesetzter aller Lehrkräfte in Berlin. Im Interview nimmt er zu mehreren Themen Stellung, so auch zur Nutzung des Smartphones in der Schule. Interview: Susanne Vieth-Entus.

TSP: Sie erleben als Zeitzeuge in den Schulen, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Schülerinnen und Schüler abnimmt. Wie erklären Sie sich das?

Seiring: Das hat sicher mehrere Gründe, ich führe das zum großen Teil auf die Smartphones zurück. Wir haben dieses Problem überhaupt nicht im Griff, wobei das Problem viele Facetten hat. Die Schüler sagen mir, dass sie ungefähr vier bis fünf Stunden pro Tag ihre Handys nutzen, laut Studien sind es sogar mehr, und man sieht ja auch, dass die Kinder und Jugendlichen, wenn sie aus der Schule kommen, zwar nebeneinander hergehen, aber nicht miteinander sprechen.

Was soll man Ihres Erachtens dagegen tun?

Berlins Senatorin [für Bildung, Jugend und Familie, Katharina Günther-Wünsch] hat ja Verschiedenes angepackt, sie kann nicht alles schaffen. Aber ich denke, es ist falsch, dass sie die Bedingungen der Handynutzung den Schulen überlassen hat. Andere Länder sind da weiter. Ich finde, wichtig wäre ein Appell der Senatorin, der mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen zeigt, wie gefährlich die übermäßige Handynutzung ist. Es müsste in Richtung Handyverbot gehen. Das wäre auch ein Appell an die Elternschaft, selbst mehr auf ihre eigene Handynutzung zu achten – zu oft fehlt da ein beispielhaftes Modell.

Die Eltern sind ein Teil des Problems?

Auf jeden Fall. Eines der schlimmsten Erlebnisse ist für mich, wenn ich sehe, dass junge Mütter, deren Kinder im Kinderwagen den Augenkontakt suchen, die ganze Zeit, währen sie die Kinderwagen schieben, in ihre Handys gucken und Nachrichten senden.


Zum Thema Smartphones in der Schule nimmt am 2. Mai 2025 in einem Interview der taz mit der Überschrift „Nicht warten, dass der Staat etwas macht“ der Medienwissenschaftler an der Universität Erfurt, Danny Schmidt, Stellung. Interview Paula Schuhrbohm.

taz: Viele Schulen sind von der Social-Media-Nutzung im Schulalltag überfordert und reagieren mit einem Handyverbot. Ist das die Lösung?

Schmidt: Die Australier machen es gerade eindrucksvoll vor – Social-Media-Verbot für Jugendliche unter 16. Es ist wissenschaftlich belegt, unter anderem durch die aktuelle Studie der DAK aus dem Jahr 2025, dass der Konsum von Social Media für Jugendliche schädlich sein kann. Im Grunde haben wir es hier fast mit einem Fall für den Jugendschutz zu tun. Um einen Vergleich zu bemühen:

Bei Alkohol wissen wir als Gesellschaft, dass der Konsum besonders bei Jugendlichen Schäden verursachen kann. Die Folge: Wir verbieten den Konsum von Alkohol für Jugendliche unter 16 Jahren. Wir fangen nicht stattdessen an, an den Schulen Kompetenzworkshops über den verantwortungsvollen Konsum von Alkohol anzubieten.

Ein generelles Social-Media-Verbot bis zum 16. Lebensjahr ist also die Lösung?

Das wäre meine Empfehlung – und auch die vieler Kolleg:innen. Medienkompetenz kann sich dann Schritt für Schritt durch ein festes Schulfach und mit kompetenter Expertise von Lehrer:innen entwickeln. Durch schulische Medienbildung lernen die Schüler:innen nicht nur Medienkompetenz, sondern auch Lebenskompetenzen. Und das passt wunderbar zur Schule – einem Ort, der Menschen mit Lebenskompetenzen versorgen sollte.

Die Jugendlichen sind jetzt schon ständig von Social Media umgeben. Wie soll die Umsetzung funktionieren?

Es ist jetzt eine zivilgesellschaftliche Aktivierung gefragt. Also nicht zu sagen, man wartet, bis der Staat etwas tut, sondern selbstverantwortlich handeln. Man kann sich mit anderen Eltern zusammensetzen und als Gruppe das Problem lösen. Das Phänomen Social Media ist etwas mehr als 15 Jahre alt – beziehungsweise jung. Wir sind sozusagen teilnehmende Beobachter:innen eines laufenden „technologischen Experiments“ und kommen jetzt immer mehr zu dem Ergebnis, dass die Art, wie wir mit Social Media umgehen, schädlich ist – für die Individuen selbst und für die Gesellschaft als Ganzes. Vielleicht ist es an der Zeit zu sagen, dass wir aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse eine Pause machen sollten.

Textauswahl in den Interviews durch Schulforum-Berlin

siehe auch:

Handys im Unterricht – ein klares NEIN!

Weil das Angebot süchtig macht: Staaten müssen Kinder vor Social Media schützen

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Der lange Arm der Corona-Pandemie: So viele Schüler wie noch nie schaffen den Abschluss nicht

Die Pandemie und die damit einhergehenden Lockdowns haben das Bildungsproblem noch weiter verstärkt. Das zeigt sich bei den Abschlussprüfungen an einer Berliner Schule.

Ada M. Hipp

Berliner Zeitung, 09.04.2025. Dies ist ein Open-Source-Beitrag.  

Während die Politik sich selbstzerfleischend versucht, die Corona-Zeit aufzuarbeiten, versuchen wir Lehrer derweil, das zu tun, was uns kaum gelingen mag: entstandene Bildungslücken zu schließen und unsere Schülerschaft zu erfolgreichen Abschlüssen zu führen.

Es ist ein Donnerstag im März, ein besonderer Tag. Es ist Prüfungstag. Im Schulgebäude ist es den ganzen Tag über ruhig. Nur hier und da hört man ein Flüstern.

Die siebten und achten Klassen sind außer Haus, der neunte Jahrgang schreibt eine Probe-BBR. Die Zehntklässler werden heute ihre erste Prüfung absolvieren. Es ist eine von vier Prüfungen im Rahmen der Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss. Sie nennt sich PibF, Prüfung in besonderer Form, allgemein hin bekannt als Präsentationsprüfung. Die Themen zu dieser Art von Prüfung können sich die Prüflinge selbst aussuchen. Sie können sie selbstständig zu Hause, in der Schule oder in der Bibliothek mit ihren Co-Prüflingen vorbereiten. Die PibF ist eine Gruppenprüfung.

Die Prüfungsergebnisse erfahren sie unmittelbar nach der Prüfung in einem Abschlussgespräch. An unserer Schule erhoffen sich alle Prüflinge mindestens die Note Drei, damit sie die Note Fünf, die die Mehrheit von ihnen in der schriftlichen Mathematik-Prüfung zum MSA erfahrungsgemäß voraussichtlich bekommen wird, ausgleichen und somit den Mittleren Schulabschluss erreichen können.

Keine Jubelschreie – was ist passiert?

Doch auch danach, nach mehreren abgelaufenen Prüfungen, ändert sich an der Ruhe im Haus nichts. Es bleibt still und leise, irgendwie bedrückend gar. Ungewöhnlich. Normalerweise hören wir nach den Prüfungen, vereinzelt zumindest, Jubelschreie, Lachen und freudig erregte Gespräche, in denen einander die guten Noten laut zugerufen werden. An diesem Tage nicht. Was ist passiert?

Die ersehnten Dreien wurden nicht so häufig erteilt, wie sich die Schüler das gewünscht hatten, geschweige denn Zweien oder gar Einsen. In diesem Jahr wurde gehäuft die Note Vier erteilt, manchmal sogar die Note Fünf. Die Betreffenden wissen, dass sie nun unter enormen Druck stehen, die schriftlichen Prüfungen in Mathematik, Deutsch und Englisch wenigstens mit der Note Vier bestehen zu müssen. Der Ausgleich einer Fünf, zum Beispiel im „Angstfach“ Mathematik, ist 25 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler in diesem Jahr nun nicht mehr möglich.

Der diesjährige Jahrgang ist der leistungsschwächste Jahrgang an unserer Schule seit der Einführung der Berliner Schulstrukturreform im Jahre 2010, die die vormaligen Haupt- und Realschulen zu Integrierten Sekundarschulen werden ließ.

80 Prozent der jetzigen Zehntklässler fiel bei den Prüfungen zur Berufsbildungsreife in Mathematik und Deutsch im Jahr 2024 durch. Das heißt im Klartext, dass diese 80 Prozent momentan keine Aussicht haben, die Schule mit der Mittleren Reife zu verlassen. Es sei denn, unter ihnen befinden sich diejenigen, die die PibF soeben mindestens mit der Note Drei bestanden haben.

Ein Novum im Brennpunkt

Einige Schülerinnen und Schüler wissen schon jetzt, dass sie die Schule wahrscheinlich ohne Abschluss verlassen werden. Ihre einzige Chance bestünde in der erfolgreichen Wiederholung der BBR-Prüfung. Zum Halbjahr hin hatten sie solch schlechte Noten, dass sie nicht zu den MSA-Prüfungen zugelassen werden konnten. Auch für uns an einer sogenannten Brennpunktschule ein Novum.

Nicht, dass unsere Schülerinnen und Schüler keinen Support von uns erfahren hätten. Im Gegenteil, wissend um die zum großen Teil prekären Lern- und Arbeitsbedingungen in ihrem häuslichen Umfeld, wissend um die oft fehlende Unterstützung im Elternhaus und wissend um ihren Mangel an notwendigen Kompetenzen, haben wir ihnen so weit Hilfe zukommen lassen, wie es gerade noch statthaft ist. Vor allem gaben wir Zeit.

Der Faktor Zeit spielt eine wichtige Rolle. Besonders in der Woche direkt vor den Prüfungen gaben Fachlehrkräfte ihre Unterrichtsstunden für die Prüfungsvorbereitungen her und verzichteten auf das Durchdrücken ihres Lehrstoffs.

Vertretungsstunden wurden mehrheitlich in den PC-Räumen verbracht. So konnten die Prüflinge in ihren Teams arbeiten, was ihnen in der Regel aufgrund fehlender privater Räumlichkeiten sonst verwehrt geblieben wäre. Sie bekamen auch die Gelegenheit, sich am Nachmittag in der Schule zusammenzusetzen und die Computer der Schule für die Recherche und das Erstellen einer Powerpoint-Präsentation zu nutzen.

Zudem gibt es an unserer Schule zu Beginn des Schuljahres einen einwöchigen Workshop zum Thema Präsentationsprüfung, in dem Schritt für Schritt notwendige Strategien für eine erfolgreiche Prüfung trainiert werden.

Ihnen fehlen schlichtweg die Worte

Nahezu 100 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Die einen leben in der dritten oder vierten Generation in Deutschland. Ihre Eltern sind zwar hier in die Schule gegangen, doch haben sie häufig aufgrund von Sprachbarrieren entweder einen sehr niedrigen Bildungsabschluss oder sie verließen das deutsche Bildungssystem ohne Abschluss. Andere wiederum haben Eltern, die in ihren Heimatländern nur wenige Jahre, manche sogar nie die Schule besuchten.

Der oft einzige intellektuelle Input für die Kinder kommt vonseiten der Schule, manchmal kann es sogar TikTok oder Instagram sein. Schülerinnen haben hier mitunter Buchempfehlungen bekommen.

Die größte Schwierigkeit für unsere Schülerschaft besteht darin, Themen für die Prüfung zu finden. Die meisten von ihnen kommen aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern. Bücher im Haushalt sucht man hier vergeblich, gelesen wird oft nicht. Gemeinsame Gespräche am „Abendbrottisch“ finden nicht statt. Ihnen fehlen schlichtweg die Worte, mit denen es ihnen möglich wäre, eine ansprechende Präsentation zu entwickeln und zu gestalten. Das Thema Schule spielt im häuslichen Umfeld kaum eine Rolle. So auch in der Zeit der Pandemie.

Die Eltern waren zugleich Lehrkräfte

Der diesjährige zehnte Jahrgang besuchte die fünfte Klasse, als sich am 25. März 2020 die Schulen zum ersten Mal schlossen. Beschult wurden sie aus der Ferne, soweit möglich, soweit Eltern telefonischen Kontakt zu der Grundschullehrerin hatten, soweit Eltern per E-Mail, Arbeitsaufträge für ihre Kinder zugesandt werden konnten, soweit vereinzelt der Grundschullehrer auch mal persönlich bei ihnen vorbeikam und Arbeitsblätter in den Briefkasten warf, mit Anleitungen für die Eltern.

Denn sie waren es, die ihre Kinder zum Erledigen der Aufgaben brachten und sie unterstützten, sie waren es, die ihre Kinder dabei nicht nur beaufsichtigten, sondern Lehrkräfte sowie Eltern gleichzeitig waren. Zumindest bei bildungsnahen Elternhäusern oder solchen, denen die Wichtigkeit von Schule bewusst ist. Anders bei vielen unserer Schülerinnen und Schüler.

Wie sie uns damals erzählten, haben sie die Aufgaben der Grundschule eher selten bis gar nicht erledigt. Oft fehlte ihren Eltern eine eigene E-Mail-Adresse, manche Familien besaßen nur ein Handy, welches nicht immer Guthaben hatte.

In einigen Familien teilten sich bis zu sechs Kinder einen Laptop. Zu Hause waren sie auf sich allein gestellt, weil ihre Eltern ihnen nicht helfen konnten. Ältere Geschwister waren für sie oft die einzige schulische Unterstützung. Manchmal gab es auch Kontakte zu Mitschülern.

Versprechen der Politik wurde ad absurdum geführt

Nach den Sommerferien und Lockdown 1 sollte es keine Schulschließungen mehr geben. Die Pandemie schien durch die Sommerhitze gebannt zu sein. Folglich wurde beschlossen, dass die Schulen wieder für alle öffneten, d.h. Unterricht wie vor der Pandemie, alle Fächer in voll besetzten Klassenzimmern, allerdings mit AHA-L. Abstand, soweit im vollen Klassenraum überhaupt möglich, Hygiene unter Verwendung diverser Desinfektionsmittel, Atemschutzmaske sowie Lüften.

Da immer mehr Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte sich mit Corona ansteckten, konnten Schulen die Erlaubnis der Durchführung von Hybridunterricht – die eine Hälfte der Klasse hat Unterricht in der Schule und die andere Hälfte sollte online bzw. per Vergabe von Aufgaben und Arbeitsblättern zu Hause „beschult“ werden. SalzH wurde zum neuen Begriff: Schulisch angeleitetes Lernen zu Hause.

Am 16. Dezember 2020 schlossen die Schulen erneut. Der Lockdown light vom November reichte nicht aus, um die Pandemie einzudämmen. Das Versprechen der Politik, einen weiteren Lockdown für Schulen werde es nicht geben, wurde ad absurdum geführt.

Wieder mussten wir uns mit den Schülerinnen und Schülern online zum Unterricht verabreden, auch die neuen siebten Klassen waren dabei. Dieses Mal waren wir besser vorbereitet, alle hatten eine eigene, schulbezogene E-Mail-Adresse. Kontakte zueinander war über diverse, eigens eingerichtete Plattformen möglich geworden.

2021 wurden die Prüfungen ausgesetzt

Die Prüfungen zum MSA 2021 wurden ausgesetzt, genau wie im Jahr zuvor. In den Jahren 2022 und 2023 wurden die Prüfungen unter Reduzierung des Anforderungsniveaus eingeschränkt durchgeführt. Im Abschlussjahr 2024 sollten diese Einschränkungen nicht mehr gelten. Die Prüfungen zum MSA wurden wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie durchgeführt. Versäumte Unterrichtsstunden, der versäumte Lehrstoff aus den Jahren 2020, 2021 und 2022 seien … aufgeholt? Spiegeln das die Abschlüsse wider? Sollte jetzt alles wieder gut sein?

Bereits die Prüfungen zur Berufsbildungsreife 2023 lassen daran zweifeln. 63 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler erreichten die Berufsbildungsreife nicht. Es war unser erster „Coronajahrgang“ in Klasse 7. Den Mittleren Schulabschluss 2024 erreichten 30 Prozent.

Die Pandemie und die damit verbundenen Schulschließungen tragen eine Mitschuld daran, dass wir es nicht geschafft haben, entstandene Defizite aufzuholen. Sie hat letztlich zu Tage gebracht, was schon seit Jahren im Untergrund schwelt. Denn: Unzureichende frühkindliche Bildung, mangelhafte bis fehlende Förderung im Grundschulalter, wenig bis gar keine Unterstützung im (oft bildungsfernen) Elternhaus, massive Defizite u.a. in der Beherrschung der deutschen Sprache, im verstehenden Lesen und logischen Denken, all das gepaart (auch) mit geringfügiger Motivation und Lernbereitschaft, gab es schon vor der Pandemie. Mit dem Startchancen-Programm, kann es uns vielleicht gelingen, Kindern (endlich) Bildungsgerechtigkeit zukommen zu lassen.

Ada M. Hipp, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Berlin. Seit 1992 ist sie im Berliner Schuldienst tätig. Über ihre Erlebnisse und die ihrer Schülerinnen und Schüler während der Schulschließungen schrieb sie in ihrem Buch „Ich und du, Schule zu und digital im Nu“, erschienen im Novum-Verlag epubli.
Transparenzhinweis: Die Autorin verwendet ein Pseudonym, der wahre Name ist der Redaktion bekannt.


Hinweise von „Schulforum Berlin“ zum Text:

Berliner Schulstrukturreform: https://schulforum-berlin.de/?s=schulstrukturreform

Abschlüsse an den Integrierten Sekundarschulen nach der 9. und 10. Klasse: https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/pruefungen-und-abschluesse/abschluesse-an-der-iss-nach-klasse-9-und-10/ [10.04.2025]

Prüfungsaufgaben Berufsbildungsreife BBR: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/pruefungen/Materialsammlung_VA9_Maerz_2017.pdf [10.04.2025]

Prüfungsaufgaben Mittlerer Schulabschluss MSA: Prüfungsaufgaben MSA – Berlin.de

Startchancen-Programm: https://www.berlin.de/sen/bildung/unterstuetzung/startchancen-programm/ [10.04.2025]

Die Wirren der „Bildungs“-Stiftungen

Im Berliner „Tagesspiegel“ vom 17.07.2024[1] kommt der Geschäftsführer der „Wübben Stiftung Bildung“, Markus Warnke, in einem Interview zu maroden Schulen, fehlenden Plätzen, Schülern, die Mindeststandards nicht erfüllen, zu Wort. Im Interview bringt er das Gespräch auf die Einführung einer „Schüler-Identifikationsnummer“ sowie auf eine „datengestützte Unterrichtsentwicklung.“

Bei der Frage: Gibt es Bundesländer, in denen durch gute Bildungspolitik Erfolge erzielt werden? antwortet er: […] „In Hamburg wird [im Gegensatz zu Berlin] alles aus einer Hand gesteuert. Da ist die Schulbehörde nicht nur für die Lehrkräfte und den Unterricht verantwortlich, sondern auch für die Ausstattung, etwa mit digitalen Geräten.“

Damit ist er bei seinem eigentlichen Thema, was er voranbringen möchte, „Die Digitalisierung der Schule“. Um den Leser und zahlenden Bürger in seinen Ausführungen zu gewinnen, fährt er fort: „Das alles kostet nicht unbedingt viel Geld, die Ressourcen sind sowieso vorhanden, sie müssen nur effizienter genutzt werden“ – und zwar nach den Vorstellungen der „Stiftungen“. Die von Warnke als Geschäftsführer vertretene „Wübben Stiftung Bildung“ ist Mitglied im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“, zusammen mit weiteren Stiftungen wie der „Bertelsmann Stiftung“, „Deutsche Telekom Stiftung“, „Vodafone Stiftung Deutschland“ u.a. Deutlich wird: Hinter diesen Stiftungen stehen mächtige Unternehmen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Warnke in dem TSP-Interview vorschlägt, dass er von Kanada die „datengestützte Unterrichtsentwicklung“ sofort übernehmen würde, um anzuschließen: „Es kann doch nicht sein, dass der Schutz von Daten wichtiger ist als das gelingende Aufwachsen unserer Kinder.“ Wie zynisch!

Das „gelingende Aufwachsen“ mit einer Unzahl an gesammelten individuellen Schülerdaten sieht nicht nur der dänische Bildungsminister Mattias Tesfaye kontrovers. Für ihn hat die viele Zeit der Kinder und Jugendlichen am Bildschirm zur „Zerstörung der Bildung“ beigetragen. „Wir waren viel zu naiv und erstaunt darüber, was die größten Technologieunternehmen zu bieten haben“.[2]

Deutlich wird: Die hinter den Stiftungen stehenden Unternehmen wollen nicht nur den Verkauf der IT-Hard- und Software, sie wollen auch an die gespeicherten Schülerdaten – Big Brother is watching you!

Wiederholend und in aggressiver Form vertreten dies Mitglieder im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“[3]. So forderte bereits Jörg Dräger, bis Ende 2021 Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, eine „Pädagogische Revolution“, um die digitalen Medien der im Hintergrund der Stiftungen agierenden IT-Industrie in den Schulen unterzubringen – „Digitale“ Bildung ist ihr Geschäft, nicht Schüler-Lernhilfe!

Sørine Vesth Rasmussen von der Kinderschutzorganisation Børns Vilkår: Sie bekomme immer wieder mit, dass andere Länder sich am dänischen Modell der Digitalisierung in Schulen orientierten. „Tut das bloß nicht. Es ist eine Falle“, sagt sie. Es sei unglaublich schwer, einen Rückzieher zu machen, wenn man einmal Computer und Programme gekauft, Lehrer in deren Verwendung unterrichtet und ganze Schulsysteme in den Dienst kommerzieller Unternehmen gestellt habe.

Worum geht es? Dazu die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen: Es gehe darum, „für unsere Kinder einzustehen, bevor es zu spät ist.“

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin


[1] Tagesspiegel, 17.07.2024, Susanne Vieth-Entus u. Saara von Alten: „Es kann doch nicht sein, dass Datenschutz wichtiger ist als unsere Kinder“.

[2] FAZ, 16.07.2024, Julian Staib: Die Kinder Retten, bevor es zu spät ist. Kaum ein Land ist so digital wie Dänemark. Doch nun ruft die Regierung zum Kampf gegen soziale Netzwerke auf und will an den Schulen zurück zu Büchern, Papier und Stift. Immer mehr Länder in Europa und Übersee ziehen die Notbremse bei der Anwendung digitaler Technik in Schulen.

[3] Zu den Aktivitäten der „Bildungs“-Stiftungen siehe auch: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildungsgipfel-zwischen-wunsch-und-wirklichkeit.html

Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

Artikel als PDF-Beitrag


[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

Selbstlernkultur führt nicht zum Erfolg

In deutschen Klassenzimmern hat sich eine Unterrichtskultur durchgesetzt, die das Selbstlernen betont. Effektive Lernmethoden, wie das Unterrichtsgespräch, wurden als zu lehrerdominiert und autoritär aussortiert – mit schlimmen Folgen. In allen Bundesländern sind die Leistungen der Grundschüler zurückgegangen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf erfolgreiche Lernmethoden.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 5. Dezember 2022, von Rainer Werner

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) über die Leistungen unserer Grundschüler in Mathematik und Deutsch (2021) hat alarmierende Befunde gebracht. In allen 16 Bundesländern sind die Leistungen gegenüber den Testergebnissen von 2011 (in Rechtschreibung: 2016) zurückgegangen. Alarmierend ist vor allem, dass die Zahl leistungsstarker Schüler genauso abgenommen hat wie die Zahl derer, die den Regelstandard erreichen. Bayern und Sachsen behaupten zwar weiterhin die Spitze, allerdings haben sich auch in diesen Ländern die Schülerleistungen verschlechtert. Die Rote Laterne teilen sich wie schon in den Vorjahren Bremen und Berlin. Zu den beiden notorischen Verliererländern gesellt sich neuerdings Brandenburg. Seine Schüler sind auf den Leistungsstand der beiden Schlusslichter abgesunken. Wie krass das Versagen der Grundschüler ist, zeigen die Ergebnisse in Rechtschreibung. In Bremen erreichen 42,0 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard, in Berlin sind es 46,1 Prozent und in Brandenburg 45,7 Prozent. Der Mindeststandard in Orthografie markiert die Scheidelinie zum Analphabetismus.

Studie ohne Ursachenforschung

Über die Ursachen für das bundesweite Versagen der Grundschüler gibt die Studie keine Auskunft, weil sie, wie die Studienleiterin Petra Stanat vom IQB betont, kein Erklärungswissen liefere, sondern nur den reinen Leistungsbefund. Sucht man anhand der Studienergebnisse selbst nach Erklärungen, stößt man bald an Grenzen. So ist die Stundenzahl, mit der in den Grundschulen Deutsch unterrichtet wird, in den Ländern unterschiedlich hoch. Sie korrespondiert jedoch nicht mit dem jeweiligen Rang des Bundeslandes bei den Schülerleistungen. Wenn der Leistungsabfall alle Bundesländer erfasst hat und selbst die langjährigen Siegerländer Bayern und Sachsen in den Abwärtssog geraten sind, muss ein mächtiger Trend am Werke sein, der sich in den Klassenzimmern unserer Schulen mit Macht durchgesetzt hat. Ich vermute, dass er mit dem hedonistischen Kulturwandel zu tun hat, in dessen Gefolge das schülerfreundliche Lernen eingeführt wurde. Dabei machte ein Pronomen mächtig Karriere: „selbst“. In keinem Schulbuch und keiner pädagogischen Handreichung dürfen Wortkombinationen mit diesem Zauberwort fehlen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit. Das „selbstorganisierte Lernen“ hat pädagogische und politische Fürsprecher zuhauf, wobei nie getestet wurde, ob die pädagogische Verheißung, die es verspricht, auch eingelöst wird. Die Qualitätsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegen das Gegenteil. Mit Friedrich Schiller könnte man sagen: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ („Wallensteins Tod“)

Mit der Heterogenität überfordert

Was ist los mit unseren Grundschulen? Warum schaffen sie es nicht, der Mehrheit der Schüler ein solides Wissensfundament in Deutsch und Mathematik zu vermitteln? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick in die Eingangsklassen werfen. Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, drücken dort Kinder unterschiedlichster Auffassungsgabe, intellektueller Begabung und Lerneinstellung gemeinsam die Schulbank. Die Kluft reicht von Elisa aus einer Akademikerfamilie, die schon bei der Einschulung lesen und schreiben kann, bis zu Tarek aus einer syrischen Familie, der des Deutschen nur in Bruchstücken mächtig ist. Hinzu kommt, dass bei den Schülern die Sekundärtugenden unterschiedlich ausgeprägt sind. Konzentration auf die Sache und Ausdauer auch bei schwierigen Herausforderungen haben nicht alle Kinder im Elternhaus gelernt. Disziplin, Fleiß und Ordnungssinn sind auch nicht jedem Kind mit auf den Weg gegeben worden. Auch die Fähigkeit, sich in der Gruppe zurückzunehmen, das eigene Ego zu zügeln, hängt sehr stark vom Erziehungsstil der Eltern ab. Wie die Lernforschung weiß, sind es aber gerade diese „weichen Faktoren“, die über den Lernerfolg entscheiden.

Das Elternhaus verteilt die Startchancen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und viel diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Problematische Lernmethoden

Die entscheidende Frage für die Eltern ist: Kann die Grundschule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was wir über kompensatorische Bildung wissen, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht, wenn die Lehrkräfte zu didaktischen Konzepten greifen, die wenig Erfolg versprechen. Auch dem Nichtfachmann leuchtet ein, dass der Unterricht in der Grundschule differenziert werden muss, weil die Lernvoraussetzungen der Kinder zu unterschiedlich sind. Das modische Prinzip des individuellen Lernens – jeder Schüler arbeitet die Aufgaben selbstständig ab – eignet sich freilich nur für Schüler, denen ein wacher Verstand und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, gegeben sind. Die schwachen Lerner kommen bei der Selbstlernmethode unter die Räder, weil sie die Unterstützung der Lehrkraft benötigen, die sie Schritt für Schritt zur Lösung der Aufgaben führt. Auch das „Jahrgangsübergreifende Lernen“ (JüL) ist in Verruf geraten. Vor allem Grundschulen in Problemvierteln haben es wieder aufgegeben, weil die älteren Schüler in der Lehrerrolle überfordert waren und selbst nur noch geringe Lernfortschritte machten. Die beste Differenzierungsmethode, die Zusammenfassung von Schülern gleicher Begabung in homogenen Lerngruppen, wird zu selten angewandt, weil sie bei progressiven Bildungspolitikern und Pädagogen unter dem Verdacht der „Selektion“ steht.

Individualisiertes Lernen wird überschätzt

Beim individuellen Lernen sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert“ lernen. Lehrkräfte werden nur noch als Lernbegleiter und Animatoren gebraucht. Die wichtige Lehrer-Schülerbeziehung bleibt auf der Strecke, die Klassengemeinschaft verkümmert, die Kinder werden zu Einzelkämpfern. Skeptische Wissenschaftler konstatieren, dass von den Selbstlernmethoden nur die Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren, weil sie über das nötige Vorwissen verfügen und den Lernprozess eigenständig organisieren können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen hingegen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Der 2021 verstorbene Nestor der deutschen Didaktik Hermann Giesecke fällt ein kritisches Urteil: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu (…) Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ Diese Kritik wird auch von vielen Lehrern geteilt. Sie kritisieren, dass die Selbstlernmethoden den Unterricht entpersonalisieren und ihn seiner wichtigsten Produktivkraft – der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung – berauben. Der didaktische Trend hat eine wichtige Lernform, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, nahezu eliminiert. Bei dieser Lernform begegnet die Lehrkraft den Schülern als kompetenter, fachlich und pädagogisch versierter Experte. Er erklärt einen Sachverhalt anschaulich und bestärkt die Schüler bei ihren Lernbemühungen, die sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit absolvieren. Die Kritik der Eltern an den Selbstlernkonzepten geht in die gleiche Richtung. Sie berichten, dass sich ihre Kinder bei dieser Lernform über weite Strecken allein gelassen fühlen. Schwächere Schüler sind durch die schnellen Lerner, die sich im Lernmaterial flink durch die Anspruchsniveaus hangeln, so eingeschüchtert, dass sie aus Scham darauf verzichten, die Hilfe der Lehrkraft in Anspruch zu nehmen. Anscheinend haben die vielen begeisterten Fürsprecher des offenen Unterrichts nicht bemerkt, dass sie ein Eliteprojekt bejubeln.

„Es ist die Sprache, Dummerchen!“

Landauf, landab verkünden Bildungsexperten und -politiker, das Beherrschen der deutschen Sprache sei der Schlüssel für den Schulerfolg. Niemand wird dieser Erkenntnis ernsthaft widersprechen. Zu erdrückend sind die Beweise, dass Schüler, die bei ihrer Einschulung nur gebrochen deutsch sprechen, in ihrer schulischen Laufbahn erheblich benachteiligt sind. Sie schneiden in allen Fächern schlechter ab, als ihre Intelligenz vermuten lässt, weil Deutsch in allen Fächern mit Ausnahme der Fremdsprachen die Unterrichtssprache ist. Trotz dieses Befunds gehen einige Bundesländer nachlässig mit dem frühkindlichen Erwerb der deutschen Sprache um. Alle Bundesländer bis auf Hamburg haben die Vorschule abgeschafft, welche die Schüler mit sprachlichen Defiziten ein Jahr lang gezielt auf die Einschulung vorbereitete. Die Kindergärten sollten fortan die kompensatorische Funktion der Vorschule übernehmen. Bremen wollte 2021 nach dem schlechten Abschneiden seiner Schüler bei Vergleichstests die Vorschule wieder einführen. Der Widerstand in der SPD war jedoch zu groß. Erhellend ist das Argument der Vorschulgegner: „Aus unserer Sicht widerspricht dieser Vorschlag dem Grundgedanken der Inklusion, der zentral für den Charakter des Bremer Bildungssystems ist. Vorschulen würde eine neue Selektion aufgrund der Leistung darstellen.“ (Jungsozialisten, 2021). Das Totschlagargument der Selektion muss herhalten, um eine sinnvolle Fördermaßnahme zu sabotieren. Dabei wäre es gerade in Bremen dringend nötig, die Startchancen für Migrantenkinder zu verbessern. Bayern geht auch hier einen erfolgreichen Weg. Nach dem Wegfall der Vorschule wurde eine spezielle Deutschförderung in „Vorkursen“ eingeführt, an denen Kinder ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse verpflichtend teilnehmen. Ein Trauerspiel gab es – wie sollte es anders sein – in Berlin. Laut Schulgesetz müssen Kinder, die keine Kita besuchen, einen Sprachtest absolvieren. Wenn dieser einen Förderbedarf feststellt, müssen die Kinder täglich an einer dreistündigen Sprachförderung teilnehmen. 2018 nahmen von 2000 Kindern, deren Eltern angeschrieben worden waren, nur 650 am Sprachtest teil. Von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, landeten zum Schluss nur 50 in der sprachlichen Förderung. Großer Aufwand, geringer Ertrag. Gegen die säumigen Eltern wurde kein einziges Bußgeld verhängt. Ätzend war die Kritik der Hauptstadtpresse: Typisch Berlin! Der Verstoß gegen ein Gesetz bleibt wieder einmal ohne Konsequenzen.

Üben wird als Drill verpönt

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20.  Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Oft haben sie nur die „Volksschule“ (so hieß damals die Grundschule) mit nur acht Schuljahren besucht. Sie haben ein korrektes Deutsch gelernt, weil das Üben der Regeln der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als Drill oder unmenschliche Abrichtung stigmatisieren würden. Vielleicht haben die Didaktiker der alten Zeit mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst oder geahnt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung vertritt nämlich die Ansicht, dass das, was wir Merkfähigkeit nennen, durch die Stimulation der Synapsen, der Schaltstellen zwischen den Gehirnzellen, entsteht. Die Merkfähigkeit hängt dabei nicht nur von der Stärke des Lernimpulses ab, sondern auch von dessen Häufigkeit. In die Sprache der Didaktik übersetzt heißt das, dass man nachhaltiges Lernen durch anschauliche Lehrmethoden bewirken kann, aber auch durch beständiges wiederholendes Üben des schon Gelernten. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Problemfach Mathematik

Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM haben Grundschülern folgende Aufgabe gestellt: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?  76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dabei kamen die meisten auf 36 Jahre. Das Beispiel zeigt, dass diesen Kindern das mathematische Verständnis fehlte, dass sie stattdessen blind mit den gegebenen Zahlen hantierten und diese zu einer unlogischen Rechnung vermengten. Warum scheitern so viele Grundschulkinder in Mathematik? Mathe verlangt logisches Denken, es geht um richtig und falsch. Dabei ist die richtige Lösung nicht verhandelbar. Dies ist für viele Schüler befremdlich, weil sie sich in den meisten Fächern daran gewöhnt haben, dass man es so oder so sehen kann. Auch Spaßkonzepte, die in den anderen Fächern so beliebt sind, funktionieren in der Mathematik nicht. Denn hier gilt es zu denken, und das ist mit Mühe verbunden. Eine Kultur der Anstrengung ist aber im schulischen Lernen seit Jahren auf dem Rückzug. Der Mathelehrer und Autor Michael Felten führt die schwachen Leistungen der Schüler in diesem Fach auf eine Verzärtelung zurück, die im Elternhaus ihren Anfang nimmt und sich in der Schule fortsetzt. Felten spricht von „seelischer Verwöhnung“ und meint damit „die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.“ In der Mathematik gehe es aber darum, in einer geistigen Anstrengung etwas auszuprobieren und dabei auch Irrwege und Enttäuschungen in Kauf zu nehmen. Diese Anstrengungsbereitschaft müsse im Elternhaus durch eine intellektuell anregende Erziehung erzeugt werden. Als wenig hilfreich hat sich auch die Haltung vieler Eltern erwiesen, vor ihren Kindern mit ihren schwachen Mathe-Leistungen zu kokettieren. Damit setzt sich beim Nachwuchs die Auffassung fest, auf Mathe komme es letztlich nicht an, weil man auch ohne gute Leistungen in diesem Fach prima durchs Leben kommt.

In allen PISA-Studien schnitten japanische Schüler in Mathematik besonders gut ab. Deutsche Bildungsexperten versuchten dem Geheimnis dieses Erfolgs auf die Spur zu kommen und wurden fündig. In der japanischen Grundschule unterrichten nur hervorragend ausgebildete Lehrkräfte. Fachfremd zu unterrichten ist im Gegensatz zu uns verpönt. Alle Aufgaben enthalten eine anspruchsvolle Problemstellung, die einen Bezug zur Realität aufweist. Lösungswege zu finden und auszuprobieren ist genauso wichtig wie die Lösung selbst. Auf diese Weise wird bei den Kindern mathematisches Verständnis geweckt. Während in Deutschland Schulen mit dem Versprechen werben, bei ihnen seien Hausaufgaben abgeschafft, ist in Japans Schulen das Hausaufgabenpensum groß. Die Kinder erhalten dabei viel Unterstützung durch die Eltern und Geschwister. Ohne beharrliches Üben sind Mathewunder eben nicht zu erwarten.

Wissenschaftliche Evidenz ist gefragt

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Therapien und Medikamente ständig verbessert werden, um bei den Patienten den besten Heilungserfolg zu erzielen. Heerscharen von Wissenschaftlern forschen an universitären oder privatwirtschaftlichen Instituten nach optimalen Produkten. Warum hat es die pädagogische Wissenschaft bis heute nicht geschafft, die Glaubenssätze, die in der Bildungspolitik das Handeln bestimmen, durch valide Fakten zu widerlegen? Lehrer wissen aus Erfahrung, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser ausfallen als in heterogenen. Sie wissen auch, dass die Selbstlernmethoden bei der Mehrzahl der Schüler nicht zum erwünschten Erfolg führen. Die Wissenschaft könnte diesem Erfahrungswissen das Siegel der Evidenz verleihen. Kein Bildungspolitiker könnte den Schülern dann noch Lernmethoden zumuten, die beim Evidenztest durchgefallen sind. Gewinner wären die Schüler. Wenn Kinder schon in der Grundschule Misserfolge erleben, wird ihnen das Lernen auf Dauer verleidet. Ein Versagen am Beginn ihrer Schullaufbahn bürdet ihnen eine Last auf, die sie bis zur Ausschulung – viel zu oft ohne Abschluss – mit sich herumschleppen. Wir sollten alles tun, um den Unterricht in der Grundschule so zu verbessern, dass man von einer wirklichen Grundlegung für die schulische Laufbahn der Schüler reden kann.