Archiv der Kategorie: Schulpolitik-Bundesländer

Kein Jugendschutz auf dem Pausenhof

Smartphonenutzung an Schulen zwischen Privatsphäre und Jugendschutz

von Antje Pommerening, Lehrerin am Helmholtz-Gymnasium Karlsruhe

Fast alle Bundesländer überlassen es den einzelnen Schulen, wie sie die Smartphone-Nutzung an Schulen regeln. Einzig Bayern zeigt eine klare Linie: dort müssen Smartphones auf dem Schulgelände ausgeschaltet sein, in Ausnahmefällen kann der Lehrer z.B. zur Information der Eltern die Nutzung erlauben.

In Baden-Württemberg beispielsweise muss jede Schule selber die Smartphone-Nutzung regeln. Manche Schulen erlassen strenge Regeln, die die Nutzung verbieten oder einschränken, andere Schulen geben die Handynutzung in den Pausen komplett frei. In diesem Fall können Schüler in den Pausen nach Belieben ihren Handy-Spielen frönen, Nachrichten verschicken oder einander Video-Clips jeglichen Inhalts zeigen. Eine typische Beschäftigung von Sechstklässlern in den Pausen sieht dann so aus, dass einer das Handy in der Hand hält und vier weitere wie von Zauberhand festgenagelt mit gebeugtem Nacken verfolgen, was ihr Freund spielt. Der pädagogische Unwert einer solchen Pausenbeschäftigung liegt auf der Hand.

Neben harmlosen Spielen ermöglicht die freie Handyregelung aber auch, dass die Schüler einander Inhalte zeigen können, vor denen sie das Bundesjugendschutzgesetz schützen soll. Dieses verbietet es, Minderjährigen beispielsweise Bilder von sterbenden Menschen, Terrorpropaganda oder Pornographisches zu zeigen. All dies ist im Internet frei verfügbar, auf dem Pausenhof kann es gezeigt werden, während der Aufsicht führende Lehrer daneben steht.

Da das Smartphone zum Privatbereich des Schülers zählt, darf der Lehrer keinen Blick darauf werfen oder gar Inhalte abrufen. Ebenso wenig dürfte er ja einem Schüler über die Schulter schauen, wenn dieser in seinem Tagebuch liest. Der Schutz der Privatsphäre ist in unserer Rechtsordnung zu Recht ein sehr hohes Gut und verständlich. Nicht verständlich und absolut inakzeptabel ist es jedoch, wenn die Aufsicht führende Lehrkraft es daher bei freier Handynutzung hinnehmen muss, dass die Schüler einander jugendgefährdende Inhalte zeigen können. Nur wenn andere Schüler davon erzählen würden, dürfte der Lehrer einschreiten und das Handy einkassieren. Dann könnte die Polizei gerufen werden, die wiederum nur mit einem richterlichen Durchsuchungsbefehl autorisiert wäre, die Inhalte anzuschauen.

Der Jugendschutz, der im Internet kaum mehr existiert, ist auf dem Pausenhof der Schulen, die eine freie Handynutzung erlauben, im Ergebnis aufgehoben. Uns Lehrern sind die Kinder zwar anvertraut, wir haben aber keinerlei Möglichkeit, sie vor jugendgefährdenden Inhalten zu schützen.

Es ist, als hätten wir an der Schule einen Raum eingerichtet, den nur Schüler betreten dürfen, vor dessen Eingang ein Lehrer steht und sieht, dass die Schüler ihn gerne betreten und viele ihn glücklich verlassen, einige jedoch verstört herauskommen, ohne dass der Lehrer den Kopf in den Raum stecken könnte, um mal nach dem Rechten zu schauen. Niemand würde einen solchen aufsichtsfreien Raum in einer Schule dulden. Sobald es sich aber um einen virtuellen Raum handelt, werden alle Bedenken beiseitegeschoben.

Wer löscht die Bilder im Kopf?

Die Schule ist ein Schutzraum. Sowohl medienverwahrloste Kinder, die außerhalb der Schule alles sehen können, als auch behütete Kinder, die nur begrenzt Zugang zum Internet haben, dürfen nicht Gefahr laufen, dass sie auf dem Schulhof Video-Clips sehen von überfahrenen, sterbenden Tieren, von Hinrichtungen oder Terrorpropaganda. Es gibt keine Lösch-Taste für solche Bilder in der kindlichen Seele, sie brennen sich ein und die Kinder können sie sich nicht von der Seele kratzen. Ein blaues Auge sehen die Eltern und fragen nach. Seelische Gewalt hinterlässt keine äußeren Spuren. Schule sollte ein Ort sein, der auch die seelische Unversehrtheit der Kinder im Blick hat. Wir Lehrer sind dafür verantwortlich, solange die Kinder in unserer Obhut sind. Bei freier Handynutzung haben wir Lehrer keine Möglichkeit, unserer Verantwortung den Schülern gegenüber gerecht zu werden. Die Eltern geben ihre Kinder voller Vertrauen in die Obhut der Schule. Diese müsste präventiv alles in ihrer Macht Stehende tun, die Kinder vor körperlichen und ebenso vor seelischen Verletzungen zu schützen.

Bei Diskussionen über ein Handynutzungsverbot darf das Zauberwort „Medienkompetenz“ nicht fehlen. Medienkompetenz ist wichtig, aber kein Allheilmittel. Wenn Schüler einander Gewaltvideos oder Terrorpropaganda zeigen, so liegt das nicht an fehlender Medienkompetenz.

Das Kultusministeriums entzieht sich der Verantwortung

Nach langer Korrespondenz mit der Schulverwaltung, ob das Bundesjugendschutzgesetz überhaupt gelte an der Schule und wer die Verantwortung dafür trage, wurde mir vom baden-württembergischen Kultusministerium kryptisch geantwortet, das Jugendschutzgesetz gelte zwar, komme aber in den von mir „beschriebenen Fällen allerdings nicht unmittelbar zur Anwendung“, ferner hieß es, die Lehrkraft solle von einem verantwortungsvollen Gebrauch der Smartphones ausgehen, sofern sie nichts Gegenteiliges erführe.

Eine solche Haltung zeigt, dass man sich von Seiten des Kultusministeriums der Verantwortung nicht stellen will, sondern durch aktives Wegschauen das Problem klein halten möchte. Jegliche Schutzmaßnahmen in allen anderen schulischen Bereichen müssen präventiv sein. Wenn man eine Gefahr sieht, muss man sich im Vorfeld um ihre Vermeidung kümmern und kann nicht erst dann einschreiten, wenn die Gefahr sich verwirklicht hat. Ein Sportlehrer muss für Schwimmhilfen sorgen, bevor ein Nichtschwimmer ins Becken gefallen ist. Bei der Verhinderung seelischer Verletzungen scheint der Präventionsgedanke den Schulverwaltungen, die eine freie Handynutzung zulassen, fremd zu sein.

Jugendgefährdende Inhalte haben auf dem Pausenhof nichts zu suchen. Da die Privatsphäre des Schülers zu Recht dem Lehrer jeden Zugriff auf die Inhalte eines Schülerhandys verwehrt, ist die einzige Lösung ein Handynutzungsverbot in den Pausen. Wann endlich wird das Bundesjugendschutzgesetz auf den Pausenhöfen bundesweit durchgesetzt und nicht nur in Bayern?

Veröffentlichung des Beitrags auf www. Schulforum-Berlin.de mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch:  „Fragen zur Medienkompetenz unserer Jugend“, Interview mit Uwe Buermann, Berlin

In Berlin lässt das Schulgesetz ein Handyverbot an Schulen ausdrücklich zu. Allerdings gibt es keine allgemeine Regel, die für das ganze Bundesland gilt. Wenn ein Schüler bzw. eine Schülerin den Unterricht stört und somit die Lehrkraft Ihren Bildungsauftrag nicht erfüllen kann, ist es laut Schulgesetz erlaubt, den Schülern Gegenstände und somit auch Smartphones wegzunehmen.

„Inklusion stellt die Systemfrage!“

Wie man sich von aller schulpolitischen Vernunft verabschieden kann

Von der Realität der Inklusion: Michael Felten zieht in seinem Buch eine schonungslose Bilanz des gemeinsamen Unterrichts an deutschen Schulen.

FAZ, 15. JULI 2017, von Heike Schmoll
LITERATUR UND SACHBUCH

[Das Buch, „Die Inklusionsfalle“,] ist eine schonungslose Abrechnung mit der Praxis des gemeinsamen Unterrichts. Felten, seit fünfunddreißig Jahren Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst und zugleich Lehrbeauftragter in der Lehrerbildung, dürfte dabei vielen seiner Kollegen aus der Seele sprechen. Denn sie sehen täglich, wie weit der Schulalltag mit seinen Aporien des gemeinsamen Unterrichts von den Wohlfühlparolen der ministeriellen Hochglanzbroschüren entfernt ist und das gesamte Bildungssystem „langfristig in eine grandiose Schieflage zu geraten“ droht.

Felten hat die Entwicklung der Inklusion in seinem Heimatland Nordrhein-Westfalen aus der Nähe beobachtet und gesehen, wie Inklusion mit der Brechstange durchgesetzt wird, Lehrer und Schulleiter gemaßregelt wurden, die auf Missstände hinwiesen; Grundschulkollegen, die, versehen mit Bisswunden ihrer Schüler, von der Parallelwelt ihres Schulalltags berichteten, von der niemand ahnt, der es nicht selbst erlebt hat.

Der Autor glaubt nach seinen umfangreichen Recherchen nicht mehr, dass es sich nur um Kinderkrankheiten eines noch nicht etablierten Systems, um Unterfinanzierung oder einen Mangel an geeigneten Lehrern handelt, sondern „um einen Systemfehler“, um „konzeptionelle Irrtümer, womöglich um ideologische Irreführung“. Warum das so ist, deckt Felten Schritt für Schritt in einem der stärksten Kapitel des Buches mit dem Titel „Blick hinter die Kulissen“ auf.

Dort zeigt er nicht nur, dass von einer Schließung der Förderschulen in der UN-Behindertenrechtskonvention nie die Rede war, sondern erinnert auch an die peinliche Abstimmung während einer Nachtsitzung des Deutschen Bundestags am 13.Dezember 2006, als nicht einmal fünfzig Abgeordnete im Saal waren, die das „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ nur noch übermüdet abnickten und Vorbehalte der Bundesregierung und der Kultusminister zu den notwendigen sachlichen und räumlichen Voraussetzungen zugunsten einer Verabsolutierung der Inklusion abtaten.

Bayern, das die schulpolitische Vernunft auch nicht für sich gepachtet hat, ließ sich von all dem nicht aus der Ruhe bringen und hielt konsequent an seinem Förderschulsystem fest. Dort steht das Wohl der Beteiligten an erster Stelle. Es gab allenfalls Lernen in einer sonderpädagogischen Partnerklasse an der Regelschule mit einem auf wenige Stunden beschränkten gemeinsamen Unterricht mit der Regelklasse. (…)

Nordrhein-Westfalen, dessen rot-grüne Landesregierung während der Abfassung des Buchmanuskripts noch im Amt war, berechnete kurzerhand die gebrauchten Förderlehrer nicht mehr anhand der Anzahl der Förderschüler, sondern nach der Schulgröße oder nach der Zügigkeit. Auf diese Weise wurden behinderte Kinder lange gar nicht gefördert, sondern nahmen als „U-Boote“ meist weniger erfolgreich am Regelunterricht teil. Während die FDP die Missstände laut und deutlich beim Namen nannte, schwieg die CDU im Düsseldorfer Landtag weitgehend und forderte erst Ende 2016 ein Moratorium für die Inklusion. Nun wird sie selbst dafür sorgen müssen, dass es auch dazu kommt.

Inzwischen hat die gescheiterte Inklusion zur Abwahl der rot-grünen nordrhein-westfälischen Landesregierung geführt, was Mecklenburg-Vorpommerns neue SPD-Kultusministerin nicht hinderte, kurz darauf beherzt die landesweite Schließung der Förderschulen zu verkünden und zu behaupten, es sei ganz gleichgültig, wo die Förderlehrer unterrichteten, ob an der Regelschule oder der Förderschule. Ihr von Felten zitierter Vorgänger Mathias Brodkorb (SPD), der angesichts der Inklusion von „Kommunismus für die Schule“ gesprochen hatte, war mit weniger Ignoranz geschlagen.

Eine weitere Mär, die Felten faktenreich entzaubert, ist die angeblich gelungene Inklusion in Südtirol, die behinderten Schülern zwar Kompetenzen bescheinigt, sie aber aus dem regulären Bewertungssystem ausklammert, was zur Folge hat, dass sie auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen haben und die wohlgemeinte Inklusion faktisch zur Exklusion wird. Hinzu kommt, dass den italienischen Schülern gern immer neue Diagnosen attestiert werden (ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Lernschwäche), damit den Schulen mehr Lehrer zugewiesen werden.

In seiner Bilanz meint Felten, dass Inklusion wohl noch am ehesten im Primarbereich gelingen könne, wenn die baulichen und technischen Voraussetzungen an der jeweiligen Schule gegeben seien. Jedoch hänge das Entwicklungswohl weniger vom Fördermodell ab als von der vorherrschenden Unterrichtsqualität, der Professionalität der Förderung und der Kollegialität an einer Schule. „Klasseneffekte sind stärker als Struktureffekte.“ Das ist auch in Studien belegt.

Über die Forschungsdefizite im Sekundarbereich indessen weiß man nichts. Trotzdem werden immer neue Inklusionsversuche gestartet, die eine ganze Schülergeneration in einen schulischen Großversuch mit ungewissem Ausgang schickt. Dabei müsste es schon nachdenklich stimmen, wenn sich etwa in einer österreichischen Längsschnittstudie zeigt, dass Förderschüler drei- bis viermal so häufig wie Regelschüler keine wechselseitigen Freundschaften schließen konnten, also trotz der inklusiven Beschulung so viel einsamer waren als an einer Förderschule.

Ein pädagogisch sinnvoll ausgebautes System schulischer Inklusion kostet allein in Deutschland viermal so viel wie das Förderschulsystem. Doch davon wollen die verantwortlichen Politiker lieber nichts hören, denn sie wissen, dass sie die nötigen Mittel niemals haben werden. Stattdessen wurde getrickst, um weitere Förderschulen zu schließen, etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die Mindestgrößen für die Aufrechterhaltung eines Standorts schlicht verdoppelt wurden, was den Eltern die Freiheit der Schulwahl nahm. Felten ist kein Inklusionsgegner, aber er wagt es auszusprechen, was viele seiner Kollegen täglich erleben.


mehr zum Buch: siehe Bücherliste


siehe auch:   Illusion Inklusion
Wieder sind die Schulen zum Schauplatz einer Ideologie geworden. Das Opfer: die Förderschulen.

Heike Schmoll schreibt in der FAZ vom 23.05.2017:
(…) Zwischen der politischen Propaganda der Länder und der Schulrealität klaffen Welten. Zwar schickt nahezu täglich ein Kultusministerium eine Erfolgsmeldung über neue Zahlen förderbedürftiger Schüler an Regelschulen. (…) Über die Qualität der Förderung ist damit aber noch nichts gesagt, ganz im Gegenteil. Zugleich wächst die Unzufriedenheit der Eltern behinderter Kinder über die Einschränkung des Elternwahlrechts. (…) Die Kultusministerien reden im Pädagogenjargon von zieldifferenter Förderung, mehreren Niveaustufen und meinen, das Dilemma lasse sich durch Aus- und Weiterbildung der Lehrer lösen. Aber das ist ein Trugschluss. Wie so oft delegieren sie die Verantwortung an die Lehrer. (…) Einer zunehmend heterogenen Schülerschaft steht deshalb eine immer stärker entprofessionalisierte Lehrerschaft gegenüber. Der pädagogische Großversuch der Inklusion, der auf wachsende Ernüchterung bei den Praktikern gestoßen ist, kann auf diese Weise nur scheitern. Was wohlgemeint daherkommt, widerspricht viel zu oft dem Kindeswohl. Die fortschreitende Auflösung von Behinderungs- und Förderkategorien führt zu einer fatalen Selbst- und Fremdtäuschung. Denn die fehlende individuelle Diagnose endet genau bei jener Benachteiligung, die sie eigentlich vermeiden will. Deshalb ist es nötig, genügend Förderschulen zu erhalten und nur diejenigen Förderbedürftigen in die Regelschule zu integrieren, die davon profitieren. (…) Die Schulzeit muss sich an ihrem Ertrag für die jeweilige Bildungsbiographie messen lassen und nicht an den Ideologien bestimmter Ministerien oder Inklusionstheoretiker.

zum Artikel:  FAZ, 23.05.2017, POLITIK, Heike Schmoll, Illusion Inklusion

Schule digital – „Auf die Lehrperson kommt es an“

Ehrenrettung der Tafelkreide

FAZ, 01. 06. 2017, Bildungswelten, Heike Schmoll
Warum Schüler nicht mehr oder besser lernen, nur weil in ihren Klassenräumen mit Computern gearbeitet wird – und es stattdessen auf die Lehrer ankommt.

[Am 10.05.2017] veröffentlichte der „Aktionsrat Bildung“ der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) sein Gutachten „Bildung 2030 – Veränderte Welt. Fragen an die Bildungspolitik“ mit der Kernbotschaft, die Schulen müssten digitaler werden, weil am Nutzen der Digitaltechnik kein Zweifel bestehe.

So war in der ersten Fassung des Gutachtens, das auch in den Medien verbreitet wurde, zu lesen, dass „Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant höhere Kompetenzen aufweisen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzen“. Der Deutsche Lehrerverband machte bereits am 22.05.2017 über die Falschmeldung aufmerksam.

In der vom „Aktionsrat Bildung“ nach der medialen Verbreitung korrigierten Fassung des Gutachtens ist unter der Überschrift Digitale Kompetenzen in der Primar- und Sekundarstufe, zu lesen:

Sekundäranalysen auf der Grundlage von Daten der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2011 und der aufgezeigten Entwicklungen in der „Trends in International Mathematics and Science Study“ (TIMSS) 2011 boten einen Einblick in die schulische Medienbildung in Deutschland im Bereich der Primarstufe (vgl. Eickelmann u. a. 2014a). Dabei zeigte sich im Hinblick auf kompetenzförderliche Effekte des Medieneinsatzes, dass Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant niedrigere Kompetenzen aufwiesen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten (vgl. Kahnert/Endberg 2014). [aus:  Bildung 2030 – veränderte Welt. Fragen an die Bildungspolitik, S. 78]

Die FAZ führt weiter aus, dass die korrigierte Version dem Stand der bisher erhobenen Studien entspricht und weist dabei auch auf die Telekom-Studie „Schule digital. Der Länderindikator 2015“ hin.

Für die Telekom-Studie hat zur aktuellen Situation der digitalen Bildung in Deutschland ein Wissenschaftsteam unter der Leitung von Professor Wilfried Bos (Techni­sche Universität Dortmund) 1.250 Lehrkräfte weiterführen­der Schulen repräsentativ befragt. Diese Befragung schließt an die internationale Schulleistungsstudie ICILS (Internatio­nal Computer and Information Literacy Study) 2013 an. Die Ergebnisse sollen konkrete Ansatzpunkte liefern für Initiativen und Strategien, um den Einsatz digitaler Medien im Schulalltag zu verankern.

In einem Interview zur Studie wurde an Prof. Bos die Frage gestellt: Wie passen die Ergebnisse des Länderindikators zu den Ergebnissen der PISA-Sonderauswertung, die im Herbst 2015 von der OECD veröffentlicht wurde?

Wilfried Bos: Die PISA-Sonderauswertung über „Students, Computers and Learning“ bestätigt, was sich schon in anderen Studien gezeigt hat: Die Ausstattungssituation an Schulen in Deutschland ist mäßig bis schlecht. Und das haben die Ergebnisse unserer Studie erneut belegt. Es hat sich wenig getan. Die Sonderauswertung hat auch gezeigt, dass Staaten, die in den letzten Jahren verstärkt in die Aus­stattung der Schulen investiert haben, in den vergange­nen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensicht­lich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an. [Telekom-Studie „Schule digital. Der Länderindikator 2015“, S. 8]

Welche konkreten Schlüsse werden jedoch aus den Ergebnissen für den Einsatz digitaler Medien im Schulalltag gezogen? Welche berechtigten Kritiken gibt es zur „digitalen Schule“?

Die FAZ berichtet weiter: Prof. Lankau, der an der Hochschule Offenburg an der Fakultät Medien und Informationswesen lehrt, kritisiert, dass weder multimedial gestaltete Lehr-Lern-Umgebungen noch zusätzliche finanzielle Mittel für den Aufbau einer „nachhaltigen Infrastruktur“ vom Kindeswohl oder von den Bildungsprozessen her gedacht wird.

Wer sich durch die „digitale Schule“ oder die „Schul-Cloud“ eine „Demokratisierung des Lernens“, eine Förderung der Bildungsschwachen, individualisiertes Lernen und all das erhofft, was das bisherige Schulsystem nicht leisten konnte, wird unweigerlich enttäuscht werden. Der Unterricht kann nur so gut sein, wie der Lehrer ihn konzipiert und wie klug er sich der informationstechnologischen Hilfsmittel bedient.

Wolfgang Schimpf, Schulleiter des Max-Planck-Gymnasiums in Göttingen: Neue Medien sind nicht per se bereits ein Fortschritt. Sie sind zunächst nur Lern-„Mittel“, deren meist teurer Einsatz dann gerechtfertigt ist, wenn sie Unterrichtsziele effizienter erreichen lassen oder ganz neue Lern- und Erkenntnismöglichkeiten eröffnen. […] Allein die Lernaffinität medialer Angebote muss Prüfstein ihrer Einführung sein.

Er führt weiter aus: Eines ist nämlich klar: Es ist den Ingenieuren und Animateuren der digitalen Welt nicht darum zu tun, den Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu verschaffen, was doch eine Aufgabe staatlicher Administration in unserer Demokratie sein müsste. Im Gegenteil. Der Mensch interessiert nur als Verbraucher, als User – schlimmer noch: Er wird immer mehr algorithmisch erfasst und am Ende auf eine Ansammlung von Informationen reduziert. [ FAZ, 01. 06. 2017, Wolfgang Schimpf, Im Wolkenkuckucksheim]

Die dpa hat am 24.5.2017 die Falschmeldung korrigiert:

Dieser Schluss [dass „Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant höhere Kompetenzen aufweisen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzen“] hat sich inzwischen als Fehler der Auswertung erwiesen – tatsächlich zeigen diese Schüler niedrigere Kompetenzen, wie eine Sprecherin der Verantwortlichen sagte. Das ändere aber nichts an den Herausforderungen für die Bildungswelt, die das Gutachten beschreibe. [!]

Anmerkung dazu von Prof. Lankau: Das heißt auf gut deutsch: Was immer Studien ergeben, die Digitalisierung von Schule und Unterricht bleibt das Ziel der Wirtschaftsverbände und der ihnen zuarbeitenden Wissenschaftler.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

siehe auch:  Deutscher Lehrerverband, „Computer in der Grundschule bringt nichts!“, „Gegenteilige dpa-Meldung ist falsch.“

siehe auch:  Gesellschaft für Bildung und Wissen, „Falsch zitiert und falsch gemeldet“

zu den Studien:  Bildung 2030 – veränderte Welt. Fragen an die Bildungspolitik, vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. (Hrsg.);
Telekom-Studie „Schule digital. Der Länderindikator 2015“

Lehrer stellen Inklusion vernichtendes Zeugnis aus

Die Inklusion wird ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht:

Die meisten Lehrer fühlen sich laut einer neuen Umfrage schlecht vorbereitet und überfordert. Sie haben einen deutlichen Appell an die Politik. So berichtet Heike Schmoll in der FAZ am 30.05.2017 in ihrem Artikel „Lehrer kritisieren schlechte Bedingungen für Inklusion“.

Die Forsa-Umfrage, die vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben wurde, hat das Thema:

Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland – Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen.

Im Rahmen der Untersuchung wurden bundesweit insgesamt 2.050 Lehrer an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland befragt. 747 der befragten Lehrer unterrichten derzeit selbst in inklusiven Klassen.

Aus der Untersuchung die wichtigsten Ergebnisse der repräsentativen Lehrerbefragung:

  • Vergleicht man die Ergebnisse der aktuellen Untersuchung mit der 2015 erstmals durchgeführten Befragung zum Thema Inklusion an Schulen in Deutschland, so fällt zunächst das geringe Maß an Veränderung in den Einstellungen der Lehrkräfte zur Inklusion und den damit gemachten Erfahrungen im Schulalltag auf.
  • Wie bereits 2015 ist die Lehrerschaft in Deutschland in der Grundsatzfrage, ob eine gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung an Regelschulen sinnvoll ist, unverändert gespalten: Eine knappe Mehrheit von 54 Prozent hält dies grundsätzlich für sinnvoll, eine starke Minderheit von 42 Prozent spricht sich hingegen grundsätzlich für eine Unterrichtung von Kindern mit Behinderung an Förderschulen aus.
  • Die Akzeptanz der Inklusion an Schulen unter der Lehrerschaft [ist] auch zwei Jahre nach der ersten Erhebung zu diesem Thema nicht gestiegen, sondern die Grundhaltung unverändert von einem hohen Maß an Skepsis geprägt.
  • Als Argumente gegen die Inklusion werden – ebenfalls wie 2015 – sowohl grundsätzliche (pädagogische) Argumente als auch solche, die sich auf die Ausstattung der Schulen und die Qualifizierung des Personals beziehen, vorgebracht. Im Hinblick auf die praktische Ausgestaltung der Inklusion an den Schulen fallen die gemachten Erfahrungen der Lehrer ähnlich negativ aus wie bereits vor zwei Jahren. Während unverändert fast alle Lehrer der Auffassung sind, dass es in inklusiven Klassen eine Doppelbesetzung aus Lehrer und Sonderpädagoge geben sollte (und zwar immer und nicht nur zeitweilig), gibt nur eine Minderheit der Lehrkräfte an, dass dies in ihrem Bundesland auch tatsächlich schulrechtlich vorgesehen ist.
  • Auch das Fortbildungsangebot, um sich auf die Arbeit mit inklusiven Schulklassen vorzubereiten, wird von den Lehrkräften als mangelhaft beurteilt.
  • Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedenken gegen einen inklusiven Unterricht und der unverändert unzureichenden Rahmenbedingungen spricht sich auch in der aktuellen Erhebung eine deutliche Mehrheit der Lehrer dafür aus, die bisherigen Förder- und Sonderschulen alle zu erhalten (und damit sogar mehr als noch 2015). (S. 34)
  • Die Erfahrungen der Lehrer, an deren Schulen es bereits inklusive Lerngruppen gibt, [sind] unverändert negativ. So hat sich die Schülerzahl pro inklusiver Klasse gegenüber 2015 so gut wie nicht verändert. Auch berichtet nach wie vor eine Mehrheit von über 60 Prozent der Lehrer an betroffenen Schulen davon, dass die Größe von inklusiven Klassen im Vergleich zu nicht inklusiven Klassen nicht verringert wurde. Ebenfalls wie vor zwei Jahren hatte die Mehrheit der betroffenen Lehrkräfte nach Auskunft der Lehrer an Schulen mit inklusiven Lerngruppen nur wenige Wochen oder sogar weniger Zeit, um sich auf das inklusive Unterrichten vorzubereiten. (S. 35)
  • Sehr großen Unterstützungsbedarf sehen die befragten Lehrkräfte vor allem bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (92 %), bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen (86 %) und bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (76 %). Mehr als 60 Prozent sehen (auch) größeren Unterstützungsbedarf bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Sprache (65 %) und bei Kindern mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen (60 %). Die Hälfte sieht größeren Unterstützungsbedarf bei der Unterrichtung kranker Schüler, jeweils 40 Prozent sehen dies bei den Förderschwerpunkten Sehen oder Hören. (S. 32)
  • In mehr als 50 Prozent der Schulen mit inklusiven Klassen haben die Lehrkräfte keinerlei sonderpädagogische Kenntnisse, und in fast 80 Prozent der Fälle war Inklusion nicht Teil der Lehrerausbildung. Bei all diesen Indikatoren zur Vorbereitung der Lehrkräfte auf inklusiven Unterricht hat sich im Vergleich zur Erhebung 2015 so gut wie nichts verändert.
  • Inklusive Klassen werden in zwei Drittel der betroffenen Schulen unverändert von nur einer Person unterrichtet. (S. 35)
  • Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Lehrkräfte insgesamt die personelle Ausstattung, die von ihrer jeweiligen Landesregierung für den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung zur Verfügung gestellt wird, mit der Durchschnittsnote 4,9 („mangelhaft“) bewerten. (S. 36)

Zu den Untersuchungsergebnissen: Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland – Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen.

siehe auch:  FAZ, 29.05.2017, Heike Schmoll, Lehrer stellen Inklusion vernichtendes Zeugnis aus

„700 Seiten Kritik an Praxis der Inklusion“

Inklusion vor der Wende

Lange Zeit waren die kritischen Stimmen zur Integration behinderter Schüler kaum zu hören, nun stellt sich der Praxisschock ein.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 18. 05. 2017, von Hansgünter Lang
Der Autor ist Jurist und war jahrelang Staatssekretär im saarländischen Kultusministerium.

Die Protagonisten [der inklusiven Schule] brauchten nur das Wort „UN-Behindertenrechtskonvention“ auszusprechen – und unbequeme Fragen zu Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit dieses bildungspolitischen Großprojekts wurden gar nicht erst gestellt.

Doch jetzt bahnt sich im öffentlichen Diskurs eine Wende an. Sie beruht auf einem Praxisschock, der gleich von zwei Seiten kommt. Die Eltern der behinderten Kinder erleben, wie eine Förderschule nach der anderen aufgelöst wird. Gleichzeitig hat sich der Blick der Öffentlichkeit dafür geschärft, wie schwierig Inklusion in den meisten Fällen ist: schließlich gilt es den Lernbehinderten, geistig Behinderten und Verhaltensauffälligen gerecht zu werden. Die Sensibilisierung hat etwas damit zu tun, dass die Lehrkräfte der Regelschulen neuerdings vor eine weitere Aufgabe gestellt sind. Sie müssen jetzt auch noch zahlreiche Flüchtlings- und Migrantenkinder ohne Deutschkenntnisse unterrichten und erziehen. Jetzt hört man den überforderten Lehrkräften endlich zu, wenn sie fragen: „Was sollen wir eigentlich noch alles leisten?“ […]

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bekräftigt unter Hinweis auf das „Wohl des einzelnen Kindes und seine Förderung“, dass bei inklusiver Unterrichtung „die Förderung allerdings den bisher erreichten Standard der Förderschulpädagogik nicht unterschreiten darf“. Doch sind Kultusminister auf diesem Ohr taub. Sie wissen, dass sie das erforderliche pädagogische Personal aus finanziellen Gründen nicht bereitstellen können – heute nicht und übermorgen nicht. Lieber reden sie von einer Verbesserung der Lehrerbildung und von Lehrerfortbildung für Regelschullehrer. So soll jeder Lehrer befähigt werden, Unmögliches zu leisten. Wer – wie der Verfasser dieser Zeilen – 33 Jahre in einem Kultusministerium gearbeitet hat, ist mit den Reflexen von Kultusministern vertraut. Wenn sich bei ambitionierten Großprojekten die pädagogische Innovation aus strukturell-immanenten Gründen oder wegen Fehlens der erforderlichen Rahmenbedingungen an der Wirklichkeit stößt, dann soll es die „Verbesserung der Lehrerbildung“ richten – ein realitätsfernes Lösungsversprechen.

Denn der Kern des Problems ist die fehlende Zeit für den einzelnen behinderten Schüler. Die Förderung Lernbehinderter und geistig Behinderter ist zeitintensiv. Gleiches gilt für die Verhaltensauffälligen mit ihren inneren Nöten, auf die der Lehrer geduldig eingehen muss. Selbst ein Lehrer mit förmlicher Doppelqualifikation als Grundschullehrer und Förderschullehrer ist damit in der Regelschule überfordert. […]

Doch wie soll das an der Regelschule bei einem lernbehinderten, geistig behinderten oder verhaltensauffälligen Kind mit einer personellen „Zusatzausstattung“ gelingen, die allenfalls symbolischen Charakter hat? Ohne Qualitätssicherung der inklusiven Schule wird die Aktivierung des Teilhaberechts für das behinderte Kind zur Diskriminierung.

Wie haben es die Wortführer der inklusiven Schule geschafft, dass diese Verhältnisse lange Zeit im öffentlichen Diskurs ignoriert wurden? Man hantiert zum Beispiel mit mehr als fragwürdigen ländervergleichenden Statistiken, um sich erfolgreiche Inklusionspraxis zu bescheinigen. Doch wird der „Erfolg“ ausschließlich an der Steigerung der Fallzahlen und an der Inklusionsquote festgemacht. Die traurige pädagogische Wirklichkeit, die sich in vielen Fällen dahinter verbirgt, kommt in solchen Rankings nicht vor. Auch scheint den Akteuren an Transparenz nicht gelegen zu sein. […]

Nach Artikel 24 Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention dürfen Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Das bedeutet jedoch kein Verbot von Förderschulen. Ein solches Auslegungsergebnis folgt weder aus dem Wortlaut noch aus der Entstehungsgeschichte noch aus der Zielsetzung der Konvention. Das ist, soweit ersichtlich, auf juristischer Seite bisher nicht infrage gestellt worden. […]

Mit diesem Streitgegenstand wäre gleichzeitig die Grundsatzfrage thematisiert, nämlich die Legitimität differenzierter Strukturen im Bildungswesen. Um diese Grundsatzfrage geht es auch dort, wo sie als originelle Anregung zur Schulentwicklung daher kommt. So wird bekanntlich von interessierter Seite gefordert, auch geistig Behinderten Zugang zum Gymnasium zu ermöglichen. […]

Es wäre ein Fehler, solche Vorstellungen als Stück aus dem Tollhaus abzutun. Denn die inklusive Schule soll bekanntlich den „förderlichen Umgang mit Heterogenität“ ermöglichen. Liegt da nicht „eine Schule für alle“ ganz nahe? Der Versuch, die Frage der Organisation sonderpädagogischer Förderung für weit darüber hinaus reichende Zwecke zu instrumentalisieren, ist nicht zu übersehen.


700 Seiten Kritik an Praxis der Inklusion

Saarbrücker Zeitung, 9.5.2017, von Ute Kirch
Der Ex-Bildungsstaatssekretär Hansgünter Lang hat eine umfassende Dissertation über die Inklusion im Saarland geschrieben. Bei der Umsetzung sieht er gravierende Probleme. [Lang, Hansgünter, Das Bildungsangebot für Behinderte, 2017, 16 Tab., 696 S.]

Seine Aussagen sind:

„Die Erziehungswissenschaft ist einhellig der Auffassung, dass bei lernbehinderten, geistig behinderten und verhaltensauffälligen Schülern – und das sind über 90 Prozent der Schüler, um die es hier geht – durchgehend zwei Pädagogen in der Regelklasse unterrichten müssen“. Und zwar „an jedem Unterrichtstag und Stunde für Stunde“. Doch die Politik richte sich nicht danach.

„Der Regelschullehrer ist die meiste Zeit auf sich gestellt und damit systematisch überfordert“.

„Ob die Integration ein Erfolg ist, wurde an den Fallzahlen abgelesen, die Frage nach der pädagogischen Qualität und Wirksamkeit wurde nicht gestellt“.

„Die UN-Behindertenkonvention enthält keine Aussagen zur Gliederung des Schulwesens und auch kein Verbot von Förderschulen“. Er widerspricht somit Aussagen von Förderschul-Gegnern, die behaupten, die Konvention lehne Doppelstrukturen ab. „Ein solches Verbot wäre, da die UN-Behindertenrechtskonvention nur den Rang eines einfachen Gesetzes hat, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.“

„Viele Eltern sind beeindruckt von den Versprechungen, die man ihnen und ihren Kindern bei Unterrichtung an Regelschulen macht. Aber über die tatsächlichen Verhältnisse und Zustände der Inklusion sind sie offenbar nicht in vollem Umfang unterrichtet“. Hansgünter Lang befürchtet, dass durch die sinkende Zahl der Förderschulen die verbleibenden Schulen für viele Schüler nicht mehr in zumutbarer Entfernung erreichbar sind, denn: „Förderschulen werden systematisch ausgetrocknet“.

Weiter führt er aus: „Die Inklusion behinderter Kinder wird instrumentalisiert, um das politische Ziel nach ‚einer Schule für alle‘ durchzusetzen“.

Zum Artikel:   https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland/700-seiten-kritik-an-praxis-der-inklusion_aid-1925628

Hansgünter Lang arbeitete 24 Jahre in der Abteilung Allgemeinbildende Schulen des Saarlandes, wo er als Leiter des Schulrechtsreferates u.a. für Normgebung zuständig war. Von 1977 bis zu seiner Ernennung zum Staatssekretär im Jahr 1999 gehörte Hansgünter Lang als Vertreter des Saarlandes dem Unterausschuss Schulrecht der Kultusministerkonferenz an. Dort war er mehrfach Berichterstatter zu Rechtsfragen des Bildungsangebots für Behinderte.

„Alter Wolf im neuen Schafspelz?“

Die soziale Kluft an Berliner Schulen bleibt groß

Die im Mai erschienene Studie von Marcel Helbig (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) und Rita Nikolai (Humboldt-Universität) untersucht erstmals wie sich die soziale Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler an den Berliner Sekundarschulen im Zuge der Schulstrukturreform von 2010/11 verändert hat und welche Schulstrukturmerkmale soziale Ungleichheiten beeinflussen. Die Forscher nutzten Daten der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie zur Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit Lernmittelbefreiung [Lmb] an allen Berliner Schulen für die Schuljahre 2007/8 bis 2016/17. Die Lernmittelbefreiung gilt als Indikator für Einkommensarmut. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Lmb nicht gleich bildungsfern bedeutet, vielmehr ist es ein Indikator für „schwierige sozioökonomische Verhältnisse“. Sie ist bisher die einzige Datenquelle, mit deren Hilfe die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft für einzelne Schulen abgebildet werden kann.

Das Fazit der Studie ist:

  • Die Schulreform von 2010/11 hat die Zusammenhänge zwischen schulstrukturellen Merkmalen und dem Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Lehrmittelbefreiung bislang nicht und wenn, dann nicht in die gewünschte Richtung beeinflusst. (S. 27)
  • Ob mit der Schulstrukturreform langfristig auch eine pädagogische Veränderung einhergeht und mehr Schüler aus sozial benachteiligten Schichten zu einer höheren Bildung herangeführt werden können, ist noch eine offene Forschungsfrage. (S. 29)
  • Das neue Berliner Schulsystem hat in Bezug auf die soziale Durchmischung fünf Jahre nach der Reform noch zu keiner wesentlichen Veränderung geführt und das alte Schulsystem wird mit Blick auf die soziale Durchmischung unter einem neuen Namen fortgeführt. (S. 29)
  • Für die Berliner Schulstrukturreform ist festzustellen, dass die nicht-armen Schichten […] sich schon vor der Schulreform auf bestimmte Schulen separiert [haben], zum anderen ist die Strukturreform von 2010/11 die Beibehaltung der sozialen Strukturen der vorherigen Schullandschaft in einer neuen Verpackung. (S. 31)
  • Die Studie hält weiter fest: Inwieweit sich die soziale Zusammensetzung im Kontext von Schulstrukturreformen in Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Saarland verändert, die ebenfalls formal an allen Schulen ihres zweigliedrigen Schulsystems die Erlangung der Hochschulreife ermöglichen, ist eine noch offene Forschungsfrage. (S. 31)

aus:  Marcel Helbig, Rita Nikolai, Alter Wolf im neuen Schafspelz? Die Persistenz sozialer Ungleichheiten im Berliner Schulsystem, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (5. 2017)

Beim genauen Betrachten der parteipolitischen Interessen und der bildungspolitischen Aktivitäten bleibt nur der Schluss: Es wird auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge auf Anweisung der Kultusbehörden experimentiert. Die Schulstruktur hat auf das Verändern des Leistungsniveaus von Schülerinnen und Schülern nur eine nachrangige Bedeutung, ausschlaggebend sind jedoch „lernprozessnähere Aspekte wie die Unterrichtsqualität“. (John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013. Eine praxisnahe Aufarbeitung der Unterrichtsforschung liefern: Michael Felten, Elsbeth Stern: Lernwirksam unterrichten, 2012/2014) (Schulforum-Berlin)

Die BERLIN-Studie des Deutschen Instituts für pädagogische Forschung (DIPF) hatte ebenfalls anhand der Lernerfolge der Schüler belegt, dass die Sekundarschulreform in Berlin nicht die erwünschten Effekte hat (siehe nachfolgener Beitrag!).