„Das Wissen von Generationen baut aufeinander auf“!

Evolution im Kopfstand

Wie die kruden Ideen des Peter Fratton auch nach seinem Abgang noch in Baden-Württemberg ein Eigenleben führen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.2017, Bildungswelten, Marco Wehr

Peter Fratton kam, sah und verschwand. Seine vier pädagogischen Urbitten „Erziehe mich nicht! Bring mir nichts bei! Erkläre mir nicht! Motiviere mich nicht!“ überzeugten nicht jeden. Der Schweizer, von der rot-grünen Koalition in Baden-Württemberg 2011 als Bildungsberater bestallt, musste sich Kritik gefallen lassen. Er reagierte beleidigt und strich 2013 die Segel. Doch das von ihm kreierte Bildungsmärchen führt weiter ein gespenstisches Eigenleben. Ist es einfach zu verführerisch?

Wir erinnern uns: Statt von „Lehrern“ und „Schülern“ sprechen Fratton und seine Gesinnungsgenossen von „Lernbegleitern“ und „Lernpartnern“. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich die Fama, dass mit dem rechten pädagogischen Vademecum in der Hand das Lernen seinen Schrecken verliert. Da Lernen ein menschliches Elementarbedürfnis ist, entfalten sich die Lernpartner wie die Blumen – fast von allein. Und weil der kluge Gärtner nicht am Gras zieht, damit es schneller wächst, unterlässt es der Lernbegleiter, den Lernpartner in ein zeitliches Korsett zu zwingen. Jedes Pflänzchen wächst nach seinem eigenen Tempo, und der Lernbegleiter beschränkt sich aufs Hegen und Pflegen, zur rechten Zeit ein bisschen Dünger und Wasser, bis die Pflanze endlich in ihrer schönsten Blüte steht. Kein Stress mehr, kein Zeitdruck, keine Noten, kein Frust. Dass eine solche Bildungsidylle – hier ein wenig überspitzt dargestellt – etwas Narkotisierendes hat, kann man gerade noch nachvollziehen. Und man könnte sie als Schrulle abhaken, wenn die Folgen nicht so gravierend wären, die bis zum heutigen Tag zu bestaunen sind. Viele Erzieherinnen trauen sich nicht mehr, mit den Kindern zu basteln und ihnen etwas beizubringen, weil sie den Vorwurf scheuen, den autonomen Lernprozess des Kindes in unzulässiger Weise zu unterminieren. Nach wie vor gibt es Bildungspläne, die vom frattonschen Denken durchwebt sind. Und manchmal wird es völlig skurril: Bei einer vom brandenburgischen Bildungsministerium veranstalteten Tagung fragte ein Redner, wie ein rechter Lernbegleiter auf die Frage eines Kindes zu antworten habe, das wissen will, wie das weibliche Reh heißt. „Ricke?“, fragte eine Teilnehmerin naiv. Falsch. Die richtige ,,Antwort“ lautet: „Warum fragst du das?“ und „Wie fühlst du dich dabei?“.

Da hört die Romantik auf, und man muss sich ernsthaft fragen, was an der Theorie vom autonomen Lernen dran ist. Da der Schweizer sein geradezu virales Narrativ mittlerweile verschriftlicht hat, kann man genauer hingucken. Doch wer von Fratton eine stringente Argumentation erwartet, wird enttäuscht. Dessen Prosa irrlichtert durch die Wissenschaften und wimmelt von Widersprüchen. Das beginnt schon mit dem Habitus des Autors. Der Schweizer gefällt sich in der Rolle des bescheidenen Wahrheitssuchers. Gerne kokettiert er mit dem momentanen Stand seines Unwissens. Von diesem gefälligen Duktus unterscheidet sich jedoch die Art und Weise, mit der er dem Leser seine Kernbotschaften um die Ohren haut. Auf einmal hantiert er wie in der formalen Logik mit Axiomen, Postulaten und Regeln. Und bei der Formulierung dieses scheinbar wissenschaftlichen Systems greift er wie selbstverständlich auf Erkenntnisse der Kybernetik, der System- und Chaostheorie sowie der fraktalen Mathematik zurück. Das mag den einen oder anderen Pädagogen beeindrucken. Das Problem?

Fratton scheint nicht so genau zu wissen, wovon er spricht. Die Verwirrung beginnt schon bei der Begrifflichkeit. So redet er stolz von „Axiomen“, da er das Wort. „Grundsatz“ nicht mag. Ein Blick ins etymologische Wörterbuch hätte geholfen:
Ein Axiom ist ein Grundsatz, der keinen Beweis benötigt. Und wie lautet dann eine axiomatische Wahrheit a la Fratton? „Lernen ist eine Existenzform.“ Eine Existenzform? Was meint er damit? Ist das ein Lebenskonzept wie das des Mönchs? Oder wollte er sagen, dass Lernen für den Menschen eine existentielle Notwendigkeit darstellt? Wohl letzteres. Doch um sicher zu sein, muss man eine seiner sprunghaften Argumentationsketten dechiffrieren.

Eine zentrale Argumentation funktioniert ungefähr so: Am Anfang war die Urzelle, und die hatte eine semipermeable Membran. Diese erlaubt es der Zelle zu entscheiden, was sie aufnimmt und was nicht. Und genauso machen es angeblich auch die Sinnesorgane, über die wir Menschen verfügen. Daraus zieht Fratton einen gewagten Schluss, der sich seiner Meinung nach einer evolutionären Überlegung verdankt: Da in uns Menschen solche Zellen am Werke sind und wir zudem über „entscheidende“ Sinnesorgane verfügen, sind wir beim Lernen autonom. Zellen und Sinnesorgane entscheiden schließlich auch selbst, was sie reinlassen und was nicht! Da ist man sprachlos. Weder die Urzelle noch die Sinnesorgane entscheiden irgend etwas. Wenn sie es täten, würde auch die Filtertüte entscheiden, wie der Kaffee wird. Deshalb lässt sich aus diesen Pseudofakten auch keine Lernautonomie ableiten. Und ein Axiom erst recht nicht! Ein Axiom ist nämlich nicht das Ergebnis einer wie auch immer gearteten Schlusskette, sondern deren Voraussetzung. Dass eine derart inkonsistent begründete Lernphilosophie in der deutschen Bildungslandschaft eine so große Wirkung hat, sollte den Kultusministerien zu denken geben. Weiterlesen

„Der Begriff der Bildung ist höchst unscharf geworden“

Bildung bedeutet Begabung zum Menschsein

Das Wort Bildung ist heute zu einer leeren Begriffshülle verkommen, die von jedem nach Belieben und je nach politischer Interessenlage gefüllt werden kann.

Neue Zürcher Zeitung, 16.10.2017, Gastkommentar von Konrad Paul Liessmann

Bildung ist in aller Munde. Es gibt kaum einen Begriff, der in unterschiedlichen Zusammensetzungen so universell eingesetzt werden kann wie der Begriff der Bildung. Bildungseinrichtungen, Bildungschancen, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsreformen, Bildungskatastrophen, Bildungsexperten, Bildungspolitiker, Bildungsverlierer, Bildungsgewinner und andere Bildungskombinierer beherrschen die Szene des Bildungsdiskurses, der rasche Wandel von Bildungskonzepten und Bildungsutopien ist längst zu einem prominenten Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden.

Ob man Kindergärten als Bildungseinrichtungen verstehen soll, auf welchem Platz ein Land beim Pisa-Test landet, wozu die Umstellung des Unterrichts auf die Kompetenzorientierung führt, wie Bildungsdefizite von Migranten und sozial diskriminierten Menschen ausgeglichen werden können, welche Bildung für die Arbeitsplätze der Zukunft fit macht, wie man Begabungsreserven entdeckt und abschöpft, ob in der Digitalisierung der Bildung und der Ausstattung von Schulen mit Tablets das Heil zu suchen ist, ob die Rolle des Lehrers sich wandelt und in Zukunft Lernbegleiter, Coachs und Sozialexperten das Bildungsgeschehen dominieren werden, ob es überhaupt notwendig ist, im Informationszeitalter noch Wissen zu vermitteln – all diese Fragen, die beliebig vermehrt werden können, beschäftigen die Menschen in immer höherem Masse.

Gleichzeitig zeigen diese Fragen aber auch, dass der Begriff der Bildung selbst höchst unscharf geworden ist und schon lange keine Einigkeit mehr darüber herrscht, was man darunter eigentlich verstehen soll: Qualifikation, Kompetenztraining, Persönlichkeitsbildung, Orientierungsfähigkeit, Befähigung zur politischen Partizipation, Schulung von Verantwortung, Vermittlung von Werten oder doch auch noch Wissenserwerb: Bildung ist alles, und alles ist Bildung. Wenn etwas alles ist, ist es aber nichts. Bildung ist eine leere Begriffshülle geworden, die von jedem nach Belieben und je nach politischer oder ökonomischer Interessenlage gefüllt werden kann. Eine Besinnung auf die grundlegenden Bedeutungen von Bildung, ihre Ansprüche, aber auch ihre Grenzen täte dringend not.

Welche Bildungskrise?

Gespielt aber wird ein anderes Spiel. Zuerst wird aufgrund höchst zweifelhafter Kriterien und in der Regel plakativ verkürzter Testergebnisse eine Krise des Bildungssystems nach der anderen beschworen, um dann das Mantra der notwendigen Bildungsreform anzustimmen und dabei die gerade angesagten Moden zu propagieren. Erst jüngst verkündete das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» in einer Titelgeschichte, «wie Bildung endlich gelingt». Und wie gelingt sie: indem man auf Digitalisierung, Chancengleichheit, Inklusion, Ganztagsschule, gutes Essen und eine Lehrerausbildung setzt, die davon ausgeht, dass angehende Lehrer von dem Fach, das sie unterrichten, nicht unbedingt viel verstehen müssen, Hauptsache, sie sind sozial kompetent.

Bildung hat mit der Entwicklung von Persönlichkeiten zu tun – und mit der Vermittlung der geistigen Fundamente, auf denen unsere Zivilisation aufbaut.

Niemandem fällt auf, dass es bei all diesen guten Ideen um alles Mögliche gehen mag – um Interessen der Internetkonzerne, um geschönte Statistiken, um sozialromantische Utopien und um beeindruckende Abiturnoten – aber nicht um Bildung. Und niemandem fällt auf, dass eine Reihe dieser Konzepte gegen jene empirischen Daten durchgesetzt werden sollen, die sonst eine evidenzbasierte Bildungspolitik gerne beschwört. Mit anderen Worten: Die Realität des Bildungsgeschehens wird aus ideologischen Gründen in der Regel ausgeblendet, über Bildung wird nur in Euphemismen gesprochen.

Dass Tablet- und Laptopklassen im Vergleich schlechter abschneiden als analog unterrichtete Kinder, wird ebenso ignoriert wie die gravierenden Probleme, die der Inklusionsimperativ für alle Beteiligten und Betroffenen geschaffen hat. Und dass die Lese- und Denkschwächen von Kindern und Jugendlichen auch mit einer verheerenden Erleichterungsdidaktik zu tun haben, die von der unseligen Rechtschreibreform bis zur «Leichten Sprache» alles tut, um Bildung als ein anspruchsloses Angebot für Anspruchslose zu installieren, sollte langsam ins allgemeine Bewusstsein rücken. Wer etwas für das Bildungswesen tun will, soll es mit solchen und ähnlichen Reformen verschonen.

Durch die Wende zur Kompetenzorientierung im Zuge des Pisa-Tests, die damit verbundene Reduktion von Bildung auf einige wenige «Kernkompetenzen» und die Hoffnung, dass die Digitalisierung schon alle sozialen und didaktischen Probleme des Unterrichts lösen werde, wurden all jene Dimensionen gekappt, die zur Idee einer allgemeinen Menschenbildung gehörten, die zwar schon von Wilhelm von Humboldt gefordert wurde, aber gerade heute wichtiger denn je erscheint. Zu dieser gehört nicht nur die Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken – die selbst noch gar keine Bildung, sondern eine ihrer Voraussetzungen darstellt –, sondern auch jene grundlegenden Kenntnisse und Fähigkeiten, auf die manche Bildungsreformer gerne verzichten möchten. All das, was lange den Kern allgemeiner Bildung ausmachte – Fremdsprachenkenntnisse, historisches Wissen, literarische und ästhetische Kenntnisse und Fähigkeiten, kulturelles und religiöses Wissen –, spielt bei Pisa keine Rolle. Wie beschränkt muss man selbst schon sein, um den Pisa-Test als Indikator für den Zustand von Bildung zu akzeptieren? Weiterlesen

„Schulleistungen in Deutsch und Mathematik mangelhaft“ – Berlin bleibt unter den Schlusslichtern

Schulen im Test  – „Auf den Unterricht kommt es an“

Felicitas Thiel, Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin, erklärt auf die Fragen von Anja Kühne im Tagesspiegel vom 13.10.2017, was Berlin in der Schule verbessern müsste.

Anja Kühne: Was könnte Berlin [in Sachen Unterrichtsqualität] versäumt haben?

Felicitas Thiel: […] Erfolgreiche Länder stellen den Unterricht in den Mittelpunkt. Denn auf den Unterricht kommt es an, das wissen wir seit langem aus der Forschung. Schleswig-Holsteins Institut für Schulqualität hat zum Beispiel mit Wissenschaftlern einen Rahmen erarbeitet, in dem die Kriterien für guten Unterricht genau beschrieben sind. Die Lehrkräfte in Schleswig-Holstein wissen also sehr genau, welche Stellschrauben sie im Unterricht bewegen müssen. Das halte ich für einen sehr erfolgreichen Weg.

In Berlin evaluieren Schulinspektoren den Unterricht regelmäßig. Die meisten Schulen schneiden ganz gut ab. Ist das nicht ein Widerspruch zu den Ergebnissen der Vergleichstests?

[…] Ein Problem ist, dass die Schulinspektion oft Oberflächenmerkmale des Unterrichts beurteilt und nicht die Tiefenstruktur, zum Beispiel die Qualität der Fragen, die Lehrkräfte stellen, und die Konsistenz ihrer Erklärungen. Ich frage mich außerdem, welchen Sinn die flächendeckende Evaluation des Unterrichts aller Lehrkräfte einer Schule macht, aus der anschließend ein Mittelwert für die gesamte Schule gebildet wird.

Neben der Schulinspektion hat Berlin auch noch die Schulaufsicht. Welche Rolle spielt sie bei der Entwicklung der Qualität?

Tja, das frage ich mich auch. […]

Auch die Schulleitungen sollen den Unterricht ihrer Lehrkräfte beurteilen.

Ja, das ist sehr wirkungsvoll, wie wir aus der Schulforschung wissen. Aber um die Unterrichtsqualität der Lehrkräfte wirklich gut beurteilen zu können, müssten die Schulleitungen auch ganz klare Indikatoren an die Hand bekommen. Die bestehenden Ausführungsvorschriften sind für die Unterrichtsbeurteilung zu allgemein und zielen eben nicht auf die Tiefenstruktur des Unterrichts ab.

Wenn Sie Schulsenatorin von Berlin wären, was würden Sie als erstes verändern?

[…] Ich würde eine übergreifende Strategie zur Verbesserung des Unterrichts umsetzen. Dabei wären die Aufgaben der Akteure klar definiert. Und alle Beteiligten hätten ein gemeinsames Verständnis davon, was guter Unterricht ist – auf der Basis der Forschung. […]


Weitere Anmerkungen zur Studie: IQB-Bildungstrends 2016

Die Studie erhebt in den Bundesländern die Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik von Schülern am Ende der vierten Klasse. 30.000 Schüler an mehr als 1500 Schulen waren daran beteiligt.

Die Studie ist nur eine Beschreibung der Schulqualität. Eine Erklärung für Erfolge und Verwerfungen müssen die einzelnen Bundesländer selbst liefern.

Für die Schülerinnen und Schüler, welche die Mindestanforderungen nicht schaffen sind hoch gefährdet, ob sie überhaupt einmal einen Schulabschluss schaffen!

Die Flüchtlingskrise im Herbst 2015 wird durch die Studie nicht berücksichtigt.

Gute Erfolge für die Schule weisen auf eine „gute Unterrichtsqualität und ein verlässliches Schulsystem“ hin, was offenbar ausreicht, den Einfluss der Herkunft der Kinder auf ihren Schulerfolg zu minimieren. Die FAZ vom 14.10.2017 greift dies für Berlin auf mit der Überschrift: „Schulleistungen in Deutsch und Mathematik mangelhaft“.

Berlin hat jedoch seit Jahren [unter der SPD-Führung] sehr viele Schulreformen durchgeführt, die, wenn der Erfolg ausblieb, zum Teil wieder stillschweigend rückgängig gemacht wurden und ein Grund für die schlechten Ergebnisse dieser und anderer Leistungsstudien sein könnten. Wieder blieb in Berlin ein Drittel der Viertklässler unter den Minimalanforderungen für Rechtschreibung, und fast 28 Prozent verfehlten sie im Fach Mathematik.

Dazu schrieb im Tagesspiegel vom 17.10.2017 Susanne Vieth-Entus:

Ganztag, Früheinschulung, jahrgangsübergreifendes Lernen, Fachcoaches, Bonusprogramm, verbindlicher Grundwortschatz, rund 1000 Stellen zur Sprachförderung: Die Liste der Berliner Versuche, aus dem tiefen Tal der bundesweiten Verlierer herauszukommen ist lang. Dennoch reichte es beim letzten Leistungsvergleich der Viertklässler wieder nur für eine Fünf minus. Warum? Die Antworten die gegeben werden kreisen vor allem um die Qualität des Unterrichts […].

Bereits am 13.10.2017 berichtete der Tagesspiegel zu den Absichten der Senatorin für Bildung, Jugend und Familie (SPD) zur Qualitätsverbesserung im Unterricht:

Die Qualität des Unterrichts will Scheeres mit einem neuen „Indikatorenmodell“ verbessern. Es werde gerade den Schulleitungen vorgestellt. Jede Schule sehe damit auf einen Blick, wo sie steht – unter anderem bei den Abschlüssen der Schülerinnen und Schüler, bei den Leistungsdaten, beim Unterrichtsausfall und beim Krankheitsstand.

Ob diese neue Statistik zur Unterrichtsverbesserung beiträgt ist fraglich. Für die Bildungsforscher des IQB-Ländervergleichs 2016 ist die wachsende Heterogenität im Klassenzimmer – wobei gleichzeitig mehr Kinder inklusiv beschult werden – ein gewichtiger Grund für den Rückgang der Schülerleistungen. Die zunehmend heterogenen Klassen stellen die Grundschulen [und weiterführenden Schulen] vor „große Herausforderungen“, so auch eine Mitteilung der Kultusministerkonferenz.

Berliner Schülerleistungen werden auf „einem sehr niedrigen Niveau konstant“ gehalten!

Umstrittene Reformmaßnahmen führen dazu, Unruhe in das Schulsystem zu bringen

„In Bundesländern mit einem stabilen Schulsystem ist die Entwicklung positiv.“

Stefany Krath, Journalistin und Moderatorin bei Bildungsklick TV, sprach mit Prof. Dr. Petra Stanat, seit 2010 Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin über Erfolge, Misserfolge und mögliche Ursachen.

09.10.2017, bildungsklick.de

Auf die Frage, „Was sind denn mögliche Erfolgsfaktoren?“ antwortete Prof. Dr. Petra Stanat:

[…] Die Befundlage der großen Schulleistungsstudien und der Bildungsforschung weist schon länger darauf hin, dass nicht die Schulstruktur für die Kompetenzentwicklung der Schüler entscheidend ist, […] sondern entscheidend ist die Unterrichtsqualität. Jetzt kann man natürlich fragen, wieso sich die Unterrichtsqualität in den Ländern offenbar unterschiedlich gut entwickelt hat. Eins fällt dabei auf: Länder mit einem stabilen Bildungssystem, in dem keine grundlegenden Veränderungen in der Schulstruktur umgesetzt wurden, erzielen recht konsistent gute Ergebnisse. Das sind neben Bayern beispielsweise auch die ostdeutschen Länder. […] Ich denke, es ist keine ganz abwegige Hypothese, dass eine solche Stabilität den Lehrkräften besser ermöglicht, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren, nämlich guten Unterricht zu machen. […]

Hat das schlechte Abschneiden einiger Länder Ihrer Meinung nach etwas mit einer zu geringen Leistungsorientierung der Schüler zu tun?

Möglicherweise ist es die Leistungsorientierung der Schüler, möglicherweise aber auch die des gesamten Systems. Diese Hypothese wird – oft hinter vorgehaltener Hand – immer wieder diskutiert, vor allem für Bremen, aber auch für Berlin. Dabei wird die Frage aufgeworfen, inwieweit hier ähnliche Leistungserwartungen bestehen wie in anderen Bundesländern. […]

In Baden-Württemberg kamen unter verschiedenen Ministern weitere, zum Teil sehr umstrittene Reformmaßnahmen dazu, die ebenfalls Unruhe in das Schulsystem gebracht haben. […]
[Dort hat jedoch] eine breite, sehr intensiv geführte Diskussion über die Frage eingesetzt, wie die Unterrichtsqualität verbessert werden kann. In Bremen und Berlin kann ich eine ähnlich breite und intensive Diskussion nicht erkennen. Hier wäre zum Beispiel über die Frage zu sprechen, wie der Anteil der Schüler reduziert werden könnte, die nicht die Mindeststandards erreichen. Eine solche Diskussion wäre dringend nötig.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

aus:  https://bildungsklick.de/schule/meldung/in-laendern-mit-einem-stabilen-system-ist-die-entwicklung-positiv/

siehe auch:  Betriebsgeheimnis eines gelingenden Unterrichts

siehe auch:  BZ, 18.10.2017, Gunnar Schupelius, In den Berliner Klassenzimmern hat man das Lernen verlernt

Kritik an den rot-rot-grünen Schulplänen in Berlin

Ein Lieblingsprojekt linker, grüner und sozialdemokratischer Bildungspolitik ist die Gemeinschaftsschule.

Im Tagesspiegel vom 13.10.2017 berichtet Susanne Vieth-Entus: Die rot–rot–grüne Koalition will die Gemeinschaftsschule als Regelangebot im Schulgesetz verankern. Die Gesetzesänderung wird gerade im Senat diskutiert.

In deren politischen Vorstellungen erhoffen sie sich durch die Gemeinschaftsschule mehr Chancengleichheit und -gerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen. Durch Unterstützung „individueller Lernwege“ und „selbstständigen Lernens“ der Schüler sollen maximale „Lernzuwächse“ erreicht und die „Trennung von Lernerfolg und sozialer Herkunft“ überwunden werden. Im „offenen“ Unterricht soll die Heterogenität der Schüler zum Vorteil werden.

Was die im Beitrag erwähnte bildungspolitische Sprecherin der Linken, Regina Kittler, nicht erwähnt, sind die im „lobenden Bericht der Universität Hamburg“ [Abschlussbericht: Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule, Stand: Juni 2016] genannten ernüchternden Aussagen von Lehrern der Berliner Gemeinschaftsschulen:

Mehr als die Hälfte von ihnen bewerten den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht. Abschlussbericht, S. 63, Abb. 40. In den Gemeinschaftsschulen werden die Schüler nicht nach Leistung in Lerngruppen aufgeteilt.

Abb. 40, Lehrerbefragung 2013 und 2014 – „Inwiefern wird Ihr Unterricht durch folgende Dinge beeinträchtigt…“

Siehe auch in Abb. 40 die steigende Tendenz der „wahrgenommenen erschwerenden Unterrichtsbedingungen von 2013 zu 2014“! Markierung in „gelb“ durch Schulforum-Berlin.

Nach Befragung von zwei Lehrerteams heißt es im Bericht weiter:

„Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt.“ In einigen Interviews sei, so der Bericht, deutlich geworden, „dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen.“ Abschlussbericht, S. 144 und 160

Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen, wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.) bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Das Ziel der Gemeinschaftsschule, Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden.

Es wird jedoch weiter auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge und auf Anweisung der Senatsbehörde experimentiert. Die Leidtragenden sind unsere Kinder und Jugendlichen! Der gerade erschienene IQB-Bildungstrend bestätigt dies:

„Bildungsniveau im Sinkflug“

„Betriebsgeheimnis eines gelingenden Unterrichts“

Des Rätsels Lösung: „Wie Schule endlich gelingen kann“

Rainer Werner

Manchmal erhofft man sich als Lehrer auch von außerschulischen Instanzen eine Erleuchtung.

Als ich am letzten Sonnabend am Kiosk den SPIEGEL-Titel überflog („Neues Lernen / Wie Schule endlich gelingen kann“), war ich elektrisiert. Sollte es dem SPIEGEL gelungen sein, das Geheimnis zu lüften, um das sich Bildungsexperten seit Jahrzehnten bemühen? Als ich die Titelgeschichte dann las, war ich bitter enttäuscht. Hinter den „zehn Wegen für Bildung und Erziehung“ verbirgt lediglich das, was Menschen, die sich auch nur oberflächlich mit Schulpolitik befassen, schon dunkel geahnt haben:  Schüler lernen lieber in einem intakten als in einem maroden Schulgebäude. Inklusion gelingt nur, wenn man den Schulen die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Das Schulessen sollte bekömmlich sein und am besten in der Schule frisch zubereitet werden. Der Ganztagsbetrieb muss pädagogisch gestaltet werden, usw.

An einer Stelle keimte bei mir Hoffnung auf, als der Artikel die bahnbrechende Studie des Bildungsforschers John Hattie erwähnt. Dass die Lehrperson „charismatisch und kompetent“ sein muss, ist dabei nicht einmal seine wichtigste Erkenntnis. Viel wichtiger ist die Einsicht, dass Unterrichten ein Handwerk darstellt und dass der pädagogische „Handwerker“ dann die größten Erfolge erzielt, wenn er sich der richtigen Instrumente bedient. Hattie spricht von „Einflussfaktoren“, deren Wirksamkeit im Unterricht man messen kann. Davon ist in Ihrem Artikel leider nicht die Rede, obwohl sich dahinter das Betriebsgeheimnis eines gelingenden Unterrichts verbirgt.

Warum kommt es auf den Unterricht an? Sie nennen eine Zahl, die eigentlich die ganze Nation aufrütteln müsste: 5,9 Prozent der Jugendlichen verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. In objektiven Zahlen sind das ungefähr 50.000 Schüler. Jetzt hätte man doch fragen können, warum es den Schulen nicht gelingt, die Schüler des untersten Leistungssegments zumindest zum niedrigsten Schulabschluss zu führen, der ja kinderleicht ist. Um diese Frage beantworten zu können, hätte man einen Blick auf das Ranking der Bundesländer in der schulischen Bildung werfen können. Nach dem „Bildungsmonitor 2017“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“ in Köln belegen sechs Bundesländer bei der Schulqualität die letzten Plätze, die von rot-grünen Regierungen geführt werden. Berlin hat seit Jahren die rote Laterne inne. Interessant ist dabei auch ein Städtevergleich. Während das Schulsystem der Hauptstadt den letzten Platz belegt, schneiden Großstädte wie Frankfurt /M., Stuttgart und München relativ gut ab. Der hohe Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte in Berlin kann nicht die Ursache für das schlechte Abschneiden sein, wie die Berliner Verantwortlichen gerne behaupten. Der Ausländeranteil in den drei anderen genannten Großstädten ist nämlich höher als der in Berlin. Es muss also an der Pädagogik liegen, die in sozialdemokratisch regierten Ländern den Schulen verordnet wird.

Hier kommt wieder Hattie ins Spiel. Er hat nämlich nachgewiesen, dass die sog. schülerzentrierten Lernmethoden, man nennt sie auch Selbstlernmethoden, wenig wirksam sind. Das Unterrichtsgespräch – lange Zeit als Frontalunterricht gebrandmarkt – ist diesen „modernen“ Methoden allemal überlegen. Es ist nach wie vor die effektivste Lernform – übrigens auch in den Augen der Schüler. Bildungsforscher haben auch herausgefunden, dass die schülerzentrierten Methoden Kinder aus der Unterschicht und aus dem migrantischen Milieu besonders benachteiligen, weil sie auf die helfende und leitende Hand des Lehrers besonders angewiesen sind. Jetzt fragt man sich, warum die sozialdemokratischen Bildungspolitiker diese Methoden, deren Unwirksamkeit doch erwiesen ist, bevorzugen. Sie müssen dies tun, weil in den heterogenen Lerngruppen, die durch das „gemeinsame Lernen“ entstehen, ein Unterrichtsgespräch nicht mehr möglich ist. Die Spreizung der Begabungen ist so stark, dass sich zwischen den guten und den schlechten Schülern eine Kluft auftut, die bis zu zwei Schuljahre Fachwissen umfassen kann. Im Grunde liegt die Krux darin, dass der Anspruch, ein sozial gerechtes Schulsystem zu formen, die Gesetzmäßigkeiten der Pädagogik außer Kraft setzen muss. Ein wichtiges pädagogisches Axiom ist nämlich die Erfahrung, dass Lehren und Lernen in homogenen Lerngruppen besser gelingt als in heterogenen. Die SPD-Politiker wissen dies sehr genau, sie dürfen es aus ideologischen Gründen nur nicht zugeben. Dazu ein erhellendes Zitat der „Arbeitsgemeinschaft für Bildung“ in der SPD. Sie forderte 1999, auf einen innerdeutschen PISA-Vergleich zu verzichten: „Es ist ohne Test vorherzusagen, dass Länder mit selektiven Schulsystemen, die den Schulstrukturreformen der letzten 30 Jahre widerstanden haben, bessere Schülerleistungen in allen Schulformen haben werden.“ – Mit anderen Worten: Man nimmt fachliche Nachteile für die Schüler in Kauf, wenn sie nur sozial gerecht gemischt unterrichtet werden. Das Tragische daran ist, dass die SPD inzwischen sogar der von ihr in den 1960er Jahren gegründeten Gesamtschule misstraut, weil sie durch ihre Fachleistungskurse die „Selektion der Kinder“ perpetuiere. Dabei ist die Gesamtschule unter den egalitären Schulformen noch die leistungsfähigste.

Der SPIEGEL-Artikel beschäftigt sich auch mit der digitalen Bildung an den Schulen. Dabei wird die landläufige Meinung kolportiert, digitale Bildung sei modern und alles, was modern ist, sei auch gut für den Unterricht. Dabei gibt es keine belastbare Studie, die belegen könnte, dass die Lernergebnisse der Schüler durch digitales Lernen besser würden. Bei Hattie rangiert die Computerunterstützung des Lernens unter 138 Einflussfaktoren auf Platz 71. Wenn man das Beispiel aus dem SPIEGEL-Artikel betrachtet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich bei der digitalen Lernhilfe aus dem Englischunterricht einer Bremer Schule um Klippschul-Didaktik handelt. Nach der Lektüre eines englischen Textes müssen die Schüler unter vier Alternativen (Novelle, Kurzgeschichte, Gedicht, Zeitungsartikel) die richtige Textform anklicken. Kein Gymnasiallehrer könnte es wagen, seinen Schülern eine derart primitive Quiz-Software zuzumuten, die nur einfachste Multiple Choice – Aufgaben enthält. Ich wage die Prophezeiung: Wenn die Lernsoftware weiterhin so einfach gestrickt bleibt, wird sie sich nur in Haupt-, Sekundar- und Berufsschulen durchsetzen. Das einzige, was am Gymnasium sinnvoll genutzt werden kann, ist das Smart-Board als Tafelersatz, weil man mit dessen Hilfe schnell Informationen aufrufen und verarbeiten kann. Ansonsten werden zumindest in den Kulturfächern und den Fremdsprachen anspruchsvolle Texte weiterhin im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. Und diese Texte erschließt man im intellektuellen Gespräch und nicht mit Hilfe einer Lernsoftware.

Wie müsste ein Artikel aussehen, der die Frage „Wie Schule endlich gelingen kann“ tatsächlich beantwortet? Er müsste tief in das Betriebsgeheimnis erfolgreichen Unterrichtens eindringen. Das geht nur so, dass man Schulen unterschiedlichster Qualität miteinander vergleicht. An den Berichten der staatlichen Schulinspektion, die inzwischen in allen Ländern Pflicht sind, kann man die Qualität ablesen. Wenn man einige Monate lang im Unterricht hospitiert, gewinnt man einen guten Eindruck, ob die Schüler etwas gelernt haben und woran es liegt. Wenn man dann noch die Ergebnisse der jeweiligen Schule bei den VERA-Vergleichstests, beim Mittleren Schulabschluss und beim Abitur heranzieht, kann man ein seriöses Urteil darüber fällen, warum Schule gelingt – oder auch nicht.

Ich vermute, dass sich bisher noch keine seriöse Zeitung oder Zeitschrift auf dieses Unterfangen eingelassen hat, weil das Ergebnis ernüchternd wäre: Es würde einer kulturell akzeptierten Bildungskonzeption („längeres gemeinsames Lernen“, „Vermeidung von Selektion“) den Todesstoß versetzen. Dieser Kränkung des eigenen Selbstbildes möchte sich niemand aussetzen. Lebenslügen währen lange. Die Leidtragenden sind leider die Schüler.

Der Autor ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

zum Artikel und der web-Seite des Autors: https://guteschuleblog.wordpress.com/2017/09/25/des-raetsels-loesung-wie-schule-endlich-gelingen-kann/

Deutschlandweit summiert sich das Scheitern an der Schule auf rund 50.000 Jugendliche ohne Schulabschluss. Jährlich! Mit anderen Worten: Das Land leistet sich in jedem Jahr die Einwohnerschaft einer kompletten Kleinstadt, die allenfalls zu Aushilfsjobs in der Lage ist.

Der frühere Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky: Allein in seinem Stadtteil verließen „jedes Jahr Hunderte von jungen Männern ohne Perspektive“ die Schulen. Und es ist auch nicht zynisch, sondern die triste Wahrheit, zu sagen, dass nicht wenige davon später im Kriminalgericht Moabit wieder auftauchen. (TSP, 13.05.2017, Werner van Bebber)