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Schulen im Fadenkreuz der Lobbyisten

„Technology in education: A tool on whose terms?“

Dies ist die Fragestellung der UNESCO im Global Education Monitoring Report 2023.

Der Schulleiter, der auch geschäftsführender Vorstand der Heraeus-Bildungsstiftung und diese Mitglied im „Forum Bildung Digitalisierung“ ist, hält als Forderung für die Grundschulen fest: Nicht nur „Lesen, Schreiben und Rechnen“ gehören zur Allgemeinbildung sondern „unbedingt“ auch „digitale Grundkompetenzen“. Wie es um die Grundkompetenzen in „Lesen, Schreiben und Rechnen“ bei den Grundschülern bestellt ist, scheint für ihn kein Problem zu sein – hat er doch ganz anderes im Sinn.

Schaut man genauer hin entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel: Die Stiftungen wirken wie ein Türöffner“[ii]. Zu jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit melden sich deren „Experten“ zu Wort, um ihre „digitalen Bildungskonzepte“ voranzubringen. Ihre „Empfehlungen“ sind passgenau ausgerichtet an den Medien- und IT-Produkten der jeweiligen Technologieunternehmen im Hintergrund.

Tatsächlich verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien. Ein Blick nach Schweden bringt Aufklärung.

Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[iii], erklärte dazu in einer Stellungnahme:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

In ihrer Stellungnahme führen sie weiter aus:

„Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.“

Ungeachtet dieser Stellungnahmen der Wissenschaftler führt der Schulleiter jedoch im Interview weiter aus: Die Lehrkräfte müssen in ihrer Ausbildung „lernen, wie man Unterricht mit digitalen Werkzeugen gestaltet, wie man Kollaboration anbahnt, wie man Lernplattformen nutzt.“ Das klingt so, als müssten Pädagogen ihre Pädagogik von den Geräten her denken und bitteschön, im Sinne der im Hintergrund des Stifterverbunds „Forum Bildung Digitalisierung“ agierenden IT-Industrie.

Betrachtet man die Strategie der im „Forum Bildung Digitalisierung“ zusammengefassten Akteure und der mit ihnen verbundenen Konzerne genauer, entdeckt man ein perfektes Zusammenspiel. Es geht darum, das „digitale Bildungskonzept“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Schulen umzusetzen.

Die Vereinzelung beim Lernen vor dem Bildschirm, die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, der Verlust von Sozialkompetenzen sowie der stete Leistungsabfall in den Grundkompetenzen, all das wird kommentarlos hingenommen.

Treffend und komprimiert führte Susanne Klein in der Süddeutschen Zeitung[iv] unter der Überschrift: „Digitales Geräteturnen“, aus: „Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Damit die Schulen nicht zur nächsten Reform verdonnert werden, die eine kurzsichtige Politik irgendwann zurücknehmen muss.“

Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg stellt dazu fest, „dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[v]

Und auch die UNESCO kritisierte im „Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms?“[vi],dass bei aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stünden, sondern wirtschaftliche Interessen.[vii]

Diese wirtschaftlichen Interessen in der umfassenden „Digitalisierung der Bildung“ charakterisierte Christian Füller als „Trojanisches Pferd“[viii] und schrieb in der Hamburger GEW-Lehrer-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[ix] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften `Teilhabe´ und `Kooperation´ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Worauf es ankommt

Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortet Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: „Ein […] Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“[x]

Zusammenstellung der Textbeiträge durch Schulforum-Berlin.


[i] Interview in der Berliner Zeitung vom 30.9.2025, „Wir haben keine Zeit mehr“ – Digitalisierung an Berliner Schulen stagniert, Ronja Ackermann

[ii] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, „Perfektes Zusammenspiel“, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[iii] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[iv] Süddeutsche Zeitung, 15.9.2017, „Digitales Geräteturnen“, Susanne Klein

[v] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[vi] Technologie in der Bildung EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

[vii] Siehe auch: https://die-pädagogische-wende.de/wp-content/uploads/2023/11/moratorium_pub_17nov23.pdf

[viii] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, „Perfektes Zusammenspiel“, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[ix] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich:

Im Forum Bildung Digitalisierung sind derzeit zehn große deutsche Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund Mitglied: Deutsche Telekom Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Dieter von Holtzbrinck Stiftung, Heraeus Bildungsstiftung, Joachim Herz Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland und Wübben Stiftung Bildung. Berlin ist Netzwerk, Bühne und Treffpunkt für die wichtigsten Debatten über Bildung.

Siehe auch: Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

[x] Siehe: Tagesspiegel vom 8.12.2023, S. 16

Altersgrenzen für Social Media-Nutzung und Einschränkung suchterzeugender Funktionen

Leopoldina-Diskussionspapier empfiehlt besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen

Ausschnitt aus dem Titelbild der Studie der Leopoldina

In dem am 11.08.2025 veröffentlichten Diskussionspapier der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina [1] schlagen die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Anwendung des Vorsorgeprinzips vor. Es besagt, dass vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden sollten, wenn es Hinweise auf mögliche schädliche Auswirkungen gibt, auch wenn wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt ist, wie groß das Risiko tatsächlich ist. In dem Papier „Soziale Medien und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ geben sie Handlungsempfehlungen, um Kinder und Jugendliche vor negativen Folgen sozialer Medien zu schützen. Nachfolgend ein Auszug:

Handlungsempfehlungen

Unter dem Abschnitt „Maßnahmen für Bildungseinrichtungen“ schreiben sie auf S. 40:

Wir empfehlen, die Nutzung von Smartphones in Kitas und Schulen bis einschließlich Klasse 10 zu untersagen.

Smartphones sind die bei Jugendlichen am häufigsten vorhandenen digitalen Endgeräte und daher zentral für die Nutzung sozialer Medien durch Kinder und Jugendliche. Wie [bereits] dargestellt, zeigen Studien, dass ein solches Verbot positive Effekte auf Wohlbefinden, Sozialverhalten und schulische Leistungen haben kann. Auch wenn andere Untersuchungen kaum Vorteile solcher Maßnahmen feststellen konnten, halten wir ein Smartphoneverbot als Teil eines umfassenden Schutzkonzepts für sinnvoll. Entscheidend sind dabei die pädagogische Begleitung sowie eine regelmäßige Evaluation der Wirkung. (S. 40)

Im Kontext der digitalen Bildung ist es wichtig, ein Verständnis für die Geschäftsmodelle von Social-Media-Anbietern und deren Umsetzung in Form konkreter Nutzungsangebote zu entwickeln. Ebenso sollten Machtstrukturen im Internet und in sozialen Medien thematisiert sowie Medienkompetenzen vermittelt werden – etwa Methoden zur Identifizierung von Falschnachrichten und vertrauenswürdigen Quellen. (S. 41)

Die Nutzung sozialer Medien für schulische Zwecke (z. B. zur Organisation oder Kommunikation im Klassenverband) sollte hingegen kritisch hinterfragt und auf das Mindestmaß beschränkt werden. Wenn ein Einsatz erforderlich ist, sollten bevorzugt unproblematische Anwendungen – etwa datenschutzfreundliche Messengerdienste – zum Einsatz kommen. (S. 42)

Im Zentrum der Kampagne sollten die kurz- und langfristigen Folgen problematischer Mediennutzung stehen. Zudem sollte die Vorbildfunktion von Eltern deutlich benannt werden. Regeln im Umgang mit sozialen Medien sollten klar, alltagstauglich und altersgerecht sein und Eltern, Kindern sowie Jugendlichen gleichermaßen Orientierung bieten. (S. 43)

Zu erforschen sind unter anderem sensible Entwicklungsfenster, Wechselwirkungen mit der elterlichen Mediennutzung, die Rolle von Peers sowie die Auswirkungen kommender KI-gestützter Social-Media-Formate – etwa sogenannter virtueller Freunde oder sozialer Halluzinationen, bei denen Künstliche Intelligenz den falschen, aber subjektiv absolut überzeugenden Eindruck authentischer sozialer Interaktion erzeugt. (S. 44)

In Anbetracht der individuellen und gesellschaftlichen Risiken, die mit der Nutzung sozialer Medien durch Kinder und Jugendliche somit einhergehen, besteht aus Sicht der Autorinnen und Autoren dieses Diskussionspapiers daher kurzfristiger Handlungsbedarf. Bund und Länder sollten wirksame Maßnahmen zum Schutz dieser besonders vulnerablen Altersgruppe ergreifen. Heranwachsende sollten vor den Risiken sozialer Medien geschützt werden. (S. 45)

Die altersdifferenzierte Schutzstrategie […] vereint regulatorische, technische und pädagogische Maßnahmen sowie gesellschaftliche Aufklärung zu einem abgestimmten Maßnahmenbündel:

Für Kinder unter 13 Jahren sollte unserem Vorschlag zufolge die Einrichtung eigener Social-Media-Accounts untersagt sein, da entsprechende Angebote für diese Altersgruppe grundsätzlich ungeeignet sind. (S. 45)

Für 13- bis 17-jährige Jugendliche sind hingegen altersgemäße Einschränkungen von Plattformfunktionen erforderlich – etwa der Ausschluss personalisierter Werbung und der Verzicht auf die Erstellung individueller Nutzungsprofile. (S. 45)

Für 13- bis 15-jährige Kinder und Jugendliche befürworten wir darüber hinaus eine elterliche Begleitung, die durch einfach zu handhabende Lösungen unterstützt wird. Die Einhaltung der Altersgrenzen erfordert eine verlässliche Infrastruktur zur Altersverifikation, deren Einführung wir empfehlen. (S. 45)

In Bildungseinrichtungen sollte darüber hinaus die Nutzung von Smartphones bis einschließlich Klasse 10 untersagt werden. (S. 46)

Kritisch zu sehen ist so etwa das Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie, das im Zentrum vieler digitaler Geschäftsmodelle steht; denn die Extraktion und Monetarisierung von Aufmerksamkeit fördert technologische Strategien zur Maximierung der Nutzerbindung und schafft gezielt suchtfördernde Strukturen im digitalen Raum. Die rasante technologische Entwicklung im Digitalsektor befeuert diese ökonomisch motivierte Tendenz noch, weshalb sich die sozialen Medien ebenso rasant weiterentwickeln: Immer leistungsfähigere Algorithmen und KI-Systeme werden eingesetzt, um Nutzerverhalten vorherzusagen und mittels emotionaler Bindung zunehmend zu steuern. (S. 46)

Der Schutz junger Menschen vor den Gefahren sozialer Medien erfordert nicht nur sektorale Maßnahmen, sondern muss eingebettet sein in eine umfassende deutsche und europäische Strategie für digitale Resilienz und digitale Souveränität. Es geht um den Erhalt politischer und persönlicher Handlungsfähigkeit im digitalen Zeitalter – durch klare Regeln, wirksame Kontrollen, internationale Kooperation und einen normativen Rahmen, der den Schutz des Kindeswohls ins Zentrum stellt. (S. 47)

In einem Video[2] stellt Prof. Dr. Ralph Hertwig, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und Mitautor des Diskussionspapiers, die Handlungsempfehlungen vor.


[1] https://www.leopoldina.org/fileadmin/redaktion/Publikationen/Diskussionen/2025_Diskussionspapier_Soziale_Medien.pdf

[2] Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=2l5Qcu1_Fpc

Der lange Arm der Corona-Pandemie: So viele Schüler wie noch nie schaffen den Abschluss nicht

Die Pandemie und die damit einhergehenden Lockdowns haben das Bildungsproblem noch weiter verstärkt. Das zeigt sich bei den Abschlussprüfungen an einer Berliner Schule.

Ada M. Hipp

Berliner Zeitung, 09.04.2025. Dies ist ein Open-Source-Beitrag.  

Während die Politik sich selbstzerfleischend versucht, die Corona-Zeit aufzuarbeiten, versuchen wir Lehrer derweil, das zu tun, was uns kaum gelingen mag: entstandene Bildungslücken zu schließen und unsere Schülerschaft zu erfolgreichen Abschlüssen zu führen.

Es ist ein Donnerstag im März, ein besonderer Tag. Es ist Prüfungstag. Im Schulgebäude ist es den ganzen Tag über ruhig. Nur hier und da hört man ein Flüstern.

Die siebten und achten Klassen sind außer Haus, der neunte Jahrgang schreibt eine Probe-BBR. Die Zehntklässler werden heute ihre erste Prüfung absolvieren. Es ist eine von vier Prüfungen im Rahmen der Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss. Sie nennt sich PibF, Prüfung in besonderer Form, allgemein hin bekannt als Präsentationsprüfung. Die Themen zu dieser Art von Prüfung können sich die Prüflinge selbst aussuchen. Sie können sie selbstständig zu Hause, in der Schule oder in der Bibliothek mit ihren Co-Prüflingen vorbereiten. Die PibF ist eine Gruppenprüfung.

Die Prüfungsergebnisse erfahren sie unmittelbar nach der Prüfung in einem Abschlussgespräch. An unserer Schule erhoffen sich alle Prüflinge mindestens die Note Drei, damit sie die Note Fünf, die die Mehrheit von ihnen in der schriftlichen Mathematik-Prüfung zum MSA erfahrungsgemäß voraussichtlich bekommen wird, ausgleichen und somit den Mittleren Schulabschluss erreichen können.

Keine Jubelschreie – was ist passiert?

Doch auch danach, nach mehreren abgelaufenen Prüfungen, ändert sich an der Ruhe im Haus nichts. Es bleibt still und leise, irgendwie bedrückend gar. Ungewöhnlich. Normalerweise hören wir nach den Prüfungen, vereinzelt zumindest, Jubelschreie, Lachen und freudig erregte Gespräche, in denen einander die guten Noten laut zugerufen werden. An diesem Tage nicht. Was ist passiert?

Die ersehnten Dreien wurden nicht so häufig erteilt, wie sich die Schüler das gewünscht hatten, geschweige denn Zweien oder gar Einsen. In diesem Jahr wurde gehäuft die Note Vier erteilt, manchmal sogar die Note Fünf. Die Betreffenden wissen, dass sie nun unter enormen Druck stehen, die schriftlichen Prüfungen in Mathematik, Deutsch und Englisch wenigstens mit der Note Vier bestehen zu müssen. Der Ausgleich einer Fünf, zum Beispiel im „Angstfach“ Mathematik, ist 25 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler in diesem Jahr nun nicht mehr möglich.

Der diesjährige Jahrgang ist der leistungsschwächste Jahrgang an unserer Schule seit der Einführung der Berliner Schulstrukturreform im Jahre 2010, die die vormaligen Haupt- und Realschulen zu Integrierten Sekundarschulen werden ließ.

80 Prozent der jetzigen Zehntklässler fiel bei den Prüfungen zur Berufsbildungsreife in Mathematik und Deutsch im Jahr 2024 durch. Das heißt im Klartext, dass diese 80 Prozent momentan keine Aussicht haben, die Schule mit der Mittleren Reife zu verlassen. Es sei denn, unter ihnen befinden sich diejenigen, die die PibF soeben mindestens mit der Note Drei bestanden haben.

Ein Novum im Brennpunkt

Einige Schülerinnen und Schüler wissen schon jetzt, dass sie die Schule wahrscheinlich ohne Abschluss verlassen werden. Ihre einzige Chance bestünde in der erfolgreichen Wiederholung der BBR-Prüfung. Zum Halbjahr hin hatten sie solch schlechte Noten, dass sie nicht zu den MSA-Prüfungen zugelassen werden konnten. Auch für uns an einer sogenannten Brennpunktschule ein Novum.

Nicht, dass unsere Schülerinnen und Schüler keinen Support von uns erfahren hätten. Im Gegenteil, wissend um die zum großen Teil prekären Lern- und Arbeitsbedingungen in ihrem häuslichen Umfeld, wissend um die oft fehlende Unterstützung im Elternhaus und wissend um ihren Mangel an notwendigen Kompetenzen, haben wir ihnen so weit Hilfe zukommen lassen, wie es gerade noch statthaft ist. Vor allem gaben wir Zeit.

Der Faktor Zeit spielt eine wichtige Rolle. Besonders in der Woche direkt vor den Prüfungen gaben Fachlehrkräfte ihre Unterrichtsstunden für die Prüfungsvorbereitungen her und verzichteten auf das Durchdrücken ihres Lehrstoffs.

Vertretungsstunden wurden mehrheitlich in den PC-Räumen verbracht. So konnten die Prüflinge in ihren Teams arbeiten, was ihnen in der Regel aufgrund fehlender privater Räumlichkeiten sonst verwehrt geblieben wäre. Sie bekamen auch die Gelegenheit, sich am Nachmittag in der Schule zusammenzusetzen und die Computer der Schule für die Recherche und das Erstellen einer Powerpoint-Präsentation zu nutzen.

Zudem gibt es an unserer Schule zu Beginn des Schuljahres einen einwöchigen Workshop zum Thema Präsentationsprüfung, in dem Schritt für Schritt notwendige Strategien für eine erfolgreiche Prüfung trainiert werden.

Ihnen fehlen schlichtweg die Worte

Nahezu 100 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Die einen leben in der dritten oder vierten Generation in Deutschland. Ihre Eltern sind zwar hier in die Schule gegangen, doch haben sie häufig aufgrund von Sprachbarrieren entweder einen sehr niedrigen Bildungsabschluss oder sie verließen das deutsche Bildungssystem ohne Abschluss. Andere wiederum haben Eltern, die in ihren Heimatländern nur wenige Jahre, manche sogar nie die Schule besuchten.

Der oft einzige intellektuelle Input für die Kinder kommt vonseiten der Schule, manchmal kann es sogar TikTok oder Instagram sein. Schülerinnen haben hier mitunter Buchempfehlungen bekommen.

Die größte Schwierigkeit für unsere Schülerschaft besteht darin, Themen für die Prüfung zu finden. Die meisten von ihnen kommen aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern. Bücher im Haushalt sucht man hier vergeblich, gelesen wird oft nicht. Gemeinsame Gespräche am „Abendbrottisch“ finden nicht statt. Ihnen fehlen schlichtweg die Worte, mit denen es ihnen möglich wäre, eine ansprechende Präsentation zu entwickeln und zu gestalten. Das Thema Schule spielt im häuslichen Umfeld kaum eine Rolle. So auch in der Zeit der Pandemie.

Die Eltern waren zugleich Lehrkräfte

Der diesjährige zehnte Jahrgang besuchte die fünfte Klasse, als sich am 25. März 2020 die Schulen zum ersten Mal schlossen. Beschult wurden sie aus der Ferne, soweit möglich, soweit Eltern telefonischen Kontakt zu der Grundschullehrerin hatten, soweit Eltern per E-Mail, Arbeitsaufträge für ihre Kinder zugesandt werden konnten, soweit vereinzelt der Grundschullehrer auch mal persönlich bei ihnen vorbeikam und Arbeitsblätter in den Briefkasten warf, mit Anleitungen für die Eltern.

Denn sie waren es, die ihre Kinder zum Erledigen der Aufgaben brachten und sie unterstützten, sie waren es, die ihre Kinder dabei nicht nur beaufsichtigten, sondern Lehrkräfte sowie Eltern gleichzeitig waren. Zumindest bei bildungsnahen Elternhäusern oder solchen, denen die Wichtigkeit von Schule bewusst ist. Anders bei vielen unserer Schülerinnen und Schüler.

Wie sie uns damals erzählten, haben sie die Aufgaben der Grundschule eher selten bis gar nicht erledigt. Oft fehlte ihren Eltern eine eigene E-Mail-Adresse, manche Familien besaßen nur ein Handy, welches nicht immer Guthaben hatte.

In einigen Familien teilten sich bis zu sechs Kinder einen Laptop. Zu Hause waren sie auf sich allein gestellt, weil ihre Eltern ihnen nicht helfen konnten. Ältere Geschwister waren für sie oft die einzige schulische Unterstützung. Manchmal gab es auch Kontakte zu Mitschülern.

Versprechen der Politik wurde ad absurdum geführt

Nach den Sommerferien und Lockdown 1 sollte es keine Schulschließungen mehr geben. Die Pandemie schien durch die Sommerhitze gebannt zu sein. Folglich wurde beschlossen, dass die Schulen wieder für alle öffneten, d.h. Unterricht wie vor der Pandemie, alle Fächer in voll besetzten Klassenzimmern, allerdings mit AHA-L. Abstand, soweit im vollen Klassenraum überhaupt möglich, Hygiene unter Verwendung diverser Desinfektionsmittel, Atemschutzmaske sowie Lüften.

Da immer mehr Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte sich mit Corona ansteckten, konnten Schulen die Erlaubnis der Durchführung von Hybridunterricht – die eine Hälfte der Klasse hat Unterricht in der Schule und die andere Hälfte sollte online bzw. per Vergabe von Aufgaben und Arbeitsblättern zu Hause „beschult“ werden. SalzH wurde zum neuen Begriff: Schulisch angeleitetes Lernen zu Hause.

Am 16. Dezember 2020 schlossen die Schulen erneut. Der Lockdown light vom November reichte nicht aus, um die Pandemie einzudämmen. Das Versprechen der Politik, einen weiteren Lockdown für Schulen werde es nicht geben, wurde ad absurdum geführt.

Wieder mussten wir uns mit den Schülerinnen und Schülern online zum Unterricht verabreden, auch die neuen siebten Klassen waren dabei. Dieses Mal waren wir besser vorbereitet, alle hatten eine eigene, schulbezogene E-Mail-Adresse. Kontakte zueinander war über diverse, eigens eingerichtete Plattformen möglich geworden.

2021 wurden die Prüfungen ausgesetzt

Die Prüfungen zum MSA 2021 wurden ausgesetzt, genau wie im Jahr zuvor. In den Jahren 2022 und 2023 wurden die Prüfungen unter Reduzierung des Anforderungsniveaus eingeschränkt durchgeführt. Im Abschlussjahr 2024 sollten diese Einschränkungen nicht mehr gelten. Die Prüfungen zum MSA wurden wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie durchgeführt. Versäumte Unterrichtsstunden, der versäumte Lehrstoff aus den Jahren 2020, 2021 und 2022 seien … aufgeholt? Spiegeln das die Abschlüsse wider? Sollte jetzt alles wieder gut sein?

Bereits die Prüfungen zur Berufsbildungsreife 2023 lassen daran zweifeln. 63 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler erreichten die Berufsbildungsreife nicht. Es war unser erster „Coronajahrgang“ in Klasse 7. Den Mittleren Schulabschluss 2024 erreichten 30 Prozent.

Die Pandemie und die damit verbundenen Schulschließungen tragen eine Mitschuld daran, dass wir es nicht geschafft haben, entstandene Defizite aufzuholen. Sie hat letztlich zu Tage gebracht, was schon seit Jahren im Untergrund schwelt. Denn: Unzureichende frühkindliche Bildung, mangelhafte bis fehlende Förderung im Grundschulalter, wenig bis gar keine Unterstützung im (oft bildungsfernen) Elternhaus, massive Defizite u.a. in der Beherrschung der deutschen Sprache, im verstehenden Lesen und logischen Denken, all das gepaart (auch) mit geringfügiger Motivation und Lernbereitschaft, gab es schon vor der Pandemie. Mit dem Startchancen-Programm, kann es uns vielleicht gelingen, Kindern (endlich) Bildungsgerechtigkeit zukommen zu lassen.

Ada M. Hipp, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Berlin. Seit 1992 ist sie im Berliner Schuldienst tätig. Über ihre Erlebnisse und die ihrer Schülerinnen und Schüler während der Schulschließungen schrieb sie in ihrem Buch „Ich und du, Schule zu und digital im Nu“, erschienen im Novum-Verlag epubli.
Transparenzhinweis: Die Autorin verwendet ein Pseudonym, der wahre Name ist der Redaktion bekannt.


Hinweise von „Schulforum Berlin“ zum Text:

Berliner Schulstrukturreform: https://schulforum-berlin.de/?s=schulstrukturreform

Abschlüsse an den Integrierten Sekundarschulen nach der 9. und 10. Klasse: https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/pruefungen-und-abschluesse/abschluesse-an-der-iss-nach-klasse-9-und-10/ [10.04.2025]

Prüfungsaufgaben Berufsbildungsreife BBR: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/pruefungen/Materialsammlung_VA9_Maerz_2017.pdf [10.04.2025]

Prüfungsaufgaben Mittlerer Schulabschluss MSA: Prüfungsaufgaben MSA – Berlin.de

Startchancen-Programm: https://www.berlin.de/sen/bildung/unterstuetzung/startchancen-programm/ [10.04.2025]

Ein Grundgesetz für Lehrer?

In der letzten Zeit haben wir einiges über unser Grundgesetz gehört. Seit 75 Jahren gibt es dem Zusammenleben der Menschen in Deutschland eine rechtliche Grundlage, nicht in den Details, aber in den grundlegenden Zügen. Es gilt für alle hier Lebenden, nicht zuletzt auch für Lehrer. Aber für diese müsste man es eigentlich noch ein wenig spezifizieren. Denn Lehrer haben ja in besonderer Weise mit unserem Gemeinwesen und unserer Zukunft zu tun – wir vertrauen ihnen immerhin unsere Jugend an.

Gastbeitrag von Michael Felten

Die Lehrerinnen und Lehrer unserer Kinder sind recht unterschiedliche Typen, das ist erstens nicht zu ändern und zweitens gar nicht so übel. Denn auf diese Weise lernen Heranwachsende, mit der Verschiedenheit von Menschen zurecht zu kommen. Zudem ist unser Bildungswesen föderal strukturiert, Lehrer in Bayern und Lehrer in Bremen handeln also nicht nach exakt gleichen Devisen. Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass es – neben den Richtlinien und Dienstordnungen der Länder – einige Basisregeln der pädagogischen Zunft geben sollte. Nur sind diese nirgendwo aufgeschrieben – wohlan, ein Versuch sei gewagt.

Artikel 1: Lehrkräfte sind pädagogische Führungsfiguren.

Lehrerinnen und Lehrer sind weder beste Freunde noch Offiziere. Sie müssen vielmehr die Kunst beherrschen, gleich und ungleich zugleich mit jungen Menschen umzugehen. Sie müssen sich einerseits in kindliches Denken und Empfinden sensibel einfühlen, andererseits aber auch unerschrocken die Richtung weisen und Beurteilungen aussprechen können.

Artikel 2: Skepsis ist eine der wichtigsten Eigenschaften von Lehrkräften.

Denn sie arbeiten in einer Art Bermuda-Dreieck: Schüler wollen möglichst wenig Hausaufgaben machen, Eltern wollen für ihr Kind zumindest das Abitur, und das Bildungsministerium will vor der Wahl dieses und nachher jenes. Lehrkräfte sollten deshalb innerlich unabhängige und kritische Personen sein, denn sie müssen denjenigen Weg finden, den sie für ihre jeweilige Lerngruppe und ihre speziellen Schüler verantworten können.

Artikel 3: Es gibt viele Möglichkeiten, lernwirksam zu unterrichten.

Das hört sich banal an, ist es aber nicht. Vielerorts galt lange Zeit die Parole, es gebe eine allein seligmachende Lehr-Lern-Methode, etwa das selbstorganisierte, eigenverantwortliche Lernen von Schülern. Die Forschung hat das widerlegt, einzelne Autoritäten haben dies auch eingestanden – aber die Lehrkräfte im Lande sollten auch davon wissen. Überhaupt sollten sie sich auf dem Laufenden darüber halten, was die Forschung darüber weiß, welche Wege eher nach Rom führen – und welche eher nicht. Entscheidend darf nicht sein, ob eine Methode einen wohlklingenden Namen hat oder gut aussieht. Sondern ob die Lernprozesse der Schüler nachhaltig, ob sie tiefenwirksam sind.

Artikel 4: Menschen sind wichtiger als Zahlen.

Neuerdings wird ja all unser Tun vermessen – und gewiss, auch im Bildungswesen liefert Evaluation interessante Daten. Aber Kennwerte sind in Schule lange nicht alles. Unterricht ist ganz wesentlich Beziehungssache, ein emotional grundierter Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden. Er funktioniert anders als die Abläufe in einer Brötchenbackstraße, lässt sich höchstens ansatzweise in der Sprache der Ökonomie beschreiben, wird durch Begriffe wie Output oder Income letztlich nicht erfasst.

Artikel 5: Bildung für morgen geschieht an Gegenständen im heute.

Allenthalben hört man, die Schule müsse völlig umgekrempelt werden – für das 21. Jahrhundert mit seiner Unsicherheit und Komplexität brauche es ganz neue Kompetenzen. Bildung könne deshalb nicht länger Wissenserwerb sein, vielmehr gehörten Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken und Kommunikation auf die Agenda. Nun, das waren natürlich immer schon ungemein wichtige Fähigkeiten – nur lassen sich diese nicht im Trockendock erwerben, sondern gerade im Rahmen von fachlichem Lernen.

Ohnehin war die Zukunft auch für frühere Generationen vor allem eines: ungewiss. Ernsthafte und anspruchsvolle Bildung in einer historisch reflektierten Gegenwart, das war immer schon das Beste, was eine Gesellschaft ihrer Jugend mitgeben konnte.

Der Autor, Michael Felten, Jg. 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst unterrichtet, ist Autor von Sachbüchern und Unterrichtsmaterialien, arbeitet als freier Lehrerweiterbildner, Human Award 2014 der Uni Köln, www.eltern-lehrer-fragen.de

Der Beitrag erschien zuerst bei News4Teacher (5.6.2024), mit Lesermeinungen.

Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

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[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen

Frankfurt am Main, 22.11.2023: Über 40 führende Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen fordern zusammen mit Kinder- und Jugendärzten von den Kultusminister:innen der Länder ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen und vorschulischen Bildungseinrichtungen.

Unter den Erstunterzeichnern sind führende Experten wie der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (Universität Augsburg), die Mediziner Prof. Manfred Spitzer (Universitätsklinik Ulm) und Prof. Thomas Fuchs (Jaspers-Lehrstuhl Universität Heidelberg) sowie der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg).

„Wir fordern die Kultusminister:innen aller 16 Bundesländer auf, bei der Digitalisierung an Schulen und Kitas ein Moratorium zu erlassen“, sagt Prof. Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Aufrufs. „Die wissenschaftliche Erkenntnis ist inzwischen, dass Unterricht mit Tablets und Laptops die Kinder bis zur 6. Klasse nicht schlauer, sondern dümmer macht. Hinzu kommen laut Studien negative gesundheitliche, psychische und soziale Wirkungen durch den vermehrten Einsatz digitaler Geräte im Unterricht. Jetzt ist der Zeitpunkt, dass die Schulpolitik auf die Pädagogen und Kinderärzte dieses Landes hört und den Versuch des digitalen Unterrichts abbricht! In Schweden ist es bereits so weit: Die schwedische Bildungsministerin stoppte den Tablet-Einsatz in der Primarstufe. Das können die Kultusminister:innen in den Ländern nun auch tun.“

Die skandinavischen Länder waren Vorreiter in der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen. Doch die schwedische Regierung korrigierte 2023 die Entscheidung ihrer Vorgänger, bereits Vorschulen des Landes verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten. Der Grund für das Umdenken ist die Stellungnahme von fünf Professor:innen des renommierten Karolinska-Instituts (Stockholm), die die Strategie der Digitalisierung von Schulen in einem Gutachten als falsch kritisierte: Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die behaupteten positiven Befunde nicht belegbar seien. Die Forschung habe stattdessen gezeigt, dass „die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“ habe. Die Ziele (Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe) würden nicht erreicht, im Gegenteil: „Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen“ (Gutachten des Karolinska-Instituts von 2023, einer der besten medizinischen Forschungseinrichtungen der Welt).

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) hat 2023 Leitlinien zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend herausgegeben, die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie von vielen Fachverbänden aus Medizin, Psychologie und Suchtprävention mitgetragen werden. Die wichtigste Empfehlung für alle Altersstufen: Reduktion der Bildschirmzeiten, keine eigenen Geräte für Kinder und keinen unkontrollierten, unbegleiteten Zugang zum Internet.

Der U.S. Surgeon General (oberste Gesundheitsbehörde in den USA) hat 2023 eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen herausgegeben. Sie zeigt detailliert auf, wie stark junge Menschen von digitalen Medien beeinflusst und abhängig werden. Die immer längere Nutzungsdauer und das immer frühere Einstiegsalter habe Folgen für die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Körperunzufriedenheit, gestörtes Essverhalten, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, geringes Selbstwertgefühl, Depression.

Kontakt für Rückfragen: Prof. Dr. phil. Ralf Lankau
Redaktionsleitung Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.
ralf.lankau@bildung-wissen.eu

Der Moratoriumsaufruf in voller Länge und mit allen Erstunterzeichnern