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Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?

Zum Abschlussbericht Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen

Eine Auftragsstudie soll das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept der Berliner Gemeinschaftsschulen legitimieren.


Ein Beitrag des „Arbeitskreises Gute Schule Berlin“[1]

Seit 2008/09 wird in mittlerweile 25 Berliner Gemeinschafts­schulen unterrichtet. Zwei Generationen von Schülern haben damit bereits den Pilotversuch in der Sekundarstufe I durchlaufen – eine ausreichende Zeitspanne, die mit Einführung der Gemeinschaftsschule versprochenen Ziele und Methoden[2] zu überprüfen:

  • Unabhängig davon, was Kinder und Jugendliche an unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen mitbringen, soll Chancengleichheit und -gerechtigkeit verwirklicht werden.
  • Im gemeinsamen Unterricht von Kindern und Jugendlichen und durch Moderation individueller Lernwege und selbstgesteuerten Lernens soll eine maximale Leistungsentwicklung (Lernzuwachs) ermöglicht werden.

Lösen die bestehenden Gemeinschaftsschulen nun diese Ziele ein? Im April dieses Jahres stellte die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin einen in ihrem Auftrag erstellten „Abschlussbericht“ zur achtjährigen Pilotphase der Gemeinschaftsschule vor.[3] Das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept konnte „erfolgreich implementiert werden“ heißt es in der Pressemitteilung[4] aus dem Hause von Senatorin Scheeres.

Wer sich jedoch Zeit nimmt, den Abschlussbericht daraufhin genauer anzuschauen, dem kommen doch erhebliche Zweifel und Fragen zu dieser Schlussfolgerung – und man meint sich überraschend in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ wiederzufinden. Zu deutlich sind die wahren Absichten zu erkennen: Das politische Vorhaben der Schulsenatorin, die Gemeinschaftsschule im Berliner Schulgesetz zu verankern, soll legitimiert werden.

Ein Abschlussbericht – warum aus Hamburg?
Die Arbeitsstelle für Schulentwicklung und Schulentwicklungsforschung der Hamburger Universität sowie eine nachgeordnete Behörde der Hamburger Schulverwaltung und ein Management Consulting Unternehmen[5] wurden von der Berliner Senatsschulverwaltung mit der Erstellung des Abschlussberichts zur Pilotphase der Gemeinschaftsschulen in Berlin beauftragt. Warum Hamburg und warum wurden die drei Berliner Universitäten bei Fragen zur Berliner Schulpolitik übergangen? Allein die Universität Hamburg erhielt im Zeitraum von 2008 bis 2015 für die Erstellung dieses Berichts 950.000 €[6]. Welche Gelder gingen in den kommerziellen Bereich?

Kritik am methodischen Vorgehen
Was das methodische Vorgehen angeht, so muss dieses grundsätzlich hinterfragt werden und damit auch der Aussagewert der daraus gefolgerten Ergebnisse. Auch lohnt sich eine kritische Befassung mit den im Rahmen von Interviews mit einigen Kollegenteams gegebenen Aussagen zu deren alltäglicher pädagogischer Praxis. Ihre teils ernüchternden Einschätzungen wurden in der öffentlichen Darstellung des Abschlussberichts schlichtweg übergangen.

Im Folgenden dazu einige Beispiele

1. Vergleichbarkeit und Auswahl
Der Abschlussbericht stellt einen Vergleich vor zwischen Berliner Schülern einiger Gemeinschaftsschulen und Hamburger Schülern des gegliederten Schulsystems.[7] Um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten, müssten jedoch Berliner Gemeinschaftsschulen mit bestehenden Berliner Schulen verglichen werden: Es findet also kein direkter Vergleich der verschiedenen Schulformen in Berlin statt. Zwar nahmen 18 von 24 Berliner Gemeinschaftsschulen an der Befragung teil. Bei den beiden Lernstandserhebungen wurden aber nur noch 10 Schulen einbezogen, die Teilnahme war freiwillig. In beiden Fällen werden keine Erklärungen für die jeweiligen Auswahlkriterien gegeben. Von einer wissenschaftlichen Studie erwartet man jedoch Transparenz. Auch stellt sich die Frage danach, wie repräsentativ die Ergebnisse sind.

2. Kritik am Aussagewert der Ergebnisse – Lernzuwachs ist nicht gleich Lernstand
Für die Kompetenzbereiche „Leseverständnis, Mathematik, Englisch, Ortho­graphie und Naturwissenschaften“ stellt der Abschlussbericht einen größeren Lernzuwachs der Berliner Schüler gegenüber den Hamburger Schülern heraus. Was heißt dies aber wirklich?
Aufgepasst: Lernzuwachs bedeutet nicht Lernstand. Zu Beginn der Studie war die Ausgangslage bei den Berliner Schülern deutlich schlechter als bei den Hamburger Schülern. Ein Beispiel soll den Sachverhalt verdeutlichen:

Wenn ein Berliner Schüler in Mathematik einen Lernzuwachs von zwei Noten aufweist, steigert er sich beispielsweise von einer Note 5 auf eine Note 3. Der Hamburger Schüler startet bereits bei 3 und landet mit einem Lernzuwachs von nur einer Note auf einer 2. Damit ist der Hamburger Schüler im Lernzuwachs schlechter als der Berliner, obwohl sein Lernstand um eine Note besser ist. Die Lernzuwächse der Berliner Schüler resultieren aus einem Aufholen von erheblichen Lernrückständen.[8] Es ist bekanntlich wesentlich einfacher, sich von schlechten Leistungen auf mittlere zu verbessern, als von mittleren zu guten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Studie keine Rückschlüsse auf einen vergleichbaren Lernzuwachs ermöglicht, geschweige denn auf einen Lernstand.

3. Aussagen aus Interviews zu Chancengleichheit und –gerechtigkeit
Mehr als der Hälfte der befragten Lehrkräfte bewertet den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht.[9]

Diese unmittelbar erfahrenen Beeinträchtigungen der Pädagogen vor Ort sind keineswegs unüberlegt geäußerte Befindlichkeiten, über die hinweggegangen werden kann. Die Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer müssen als fachlich fundierte Beurteilungen der Unterrichtssituationen ernst genommen werden. Ihr pädagogischer Auftrag ist es – ihr Berufsethos gebietet es – jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin zu einer Persönlichkeit heranzubilden, die ihren Platz in unserer Gesellschaft verantwortungsvoll einnimmt.[10] Diesen Anspruch kann man jedoch angesichts der Heterogenität der Schulklassen schwerlich einlösen. In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird nun mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Dem ist entgegenzusetzen: Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen[11], wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.)[12] bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Das Ziel der Gemeinschaftsschule, Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden.

Die Zahlen der Berliner Schulstatistik sprechen hierzu eine nüchterne Sprache: Das Konzept der Gemeinschaftsschule führt nicht zu einer Verminderung des Anteils von Jugendlichen ohne Schulabschluss.

4. Aussagen aus Interviews zu Lern- und Kenntnisstand sowie altersangemessener Lernmotivation
Zwei Teams der Gemeinschaftsschulen benennen gravierende Probleme, mit denen sie täglich konfrontiert sind. Die Studie fasst zusammen: „Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt.“[13]

Weiter werden die Lehrkräfte zitiert: „Ich bin wirklich entschieden der Meinung, es kommt viel zu wenig dabei raus, bei der Lernwerkstatt. (…) … für den Schüler, der mit einer gewissen Allgemeinbildung nach der zehnten Klasse die Schule verlässt, finde ich, ist die Allgemeinbildung ganz schön klein. Da würde ich mir mehr wünschen.“[14]

Der Bericht referiert, „deutlich ist in einigen Interviewgesprächen, dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen.“[15]

Was bleibt nun nach eingehender Prüfung von Begleitstudie und Presseerklärung übrig von der Aussage der Pressemitteilung, das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept der Gemeinschaftsschule konnte „erfolgreich implementiert werden“[16]?

Es bleibt die nüchterne Feststellung: Die mit hohen Investitionen (bis 2012 bereits 22 Mio. Euro)[17] und großem Engagement der Lehrkräfte eingeführte Gemeinschaftsschule und ihre Konzeption zeitigen die von der Schulsenatorin vorgegebenen Erfolge nicht.

Stattdessen drängt sich die Frage auf, ob Schule, statt sich in ständig neuen Reformanstrengungen aufzureiben, sich nicht auf ihre Kernaufgaben konzentrieren sollte. Eine zentrale Aufgabe in Berlin ist es, Verantwortung zu übernehmen für die erschreckend hohe jährliche Zahl von Jugendlichen ohne Schulabschluss – an der auch die Gemeinschaftsschule nichts geändert hat – und alle Kräfte zu bündeln, diesen jungen Menschen einen sinnvollen Weg ins Leben zu bahnen. Eine weitere Senkung des Niveaus, wie in den letzten Jahren bereits praktiziert, kann nicht die Lösung sein.[18] Dies bedeutet nur eine Verschiebung der Problematik in die sich anschließende Bildungs- und Ausbildungseinrichtung.

Bei der Auswahl einer guten Schule für ihre Kinder dürfen die Eltern nicht durch parteipolitische Interessen und ideologische Standpunkte in die Irre geführt werden. Eine offen geführte und breite Diskussion über eine „Gute Schule in Berlin“ muss beginnen.

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[1] Für: www.Schulforum-Berlin.de
[2] https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/gemeinschaftsschule/ ,abgerufen am 31.08.2016
[3] ebd., Zum Abschlussbericht: Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule, Stand: Juni 2016
[4] Pressemeldung vom 8.4.2016, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen
[5] Ramboll Management Consulting ist ein multidisziplinäres Ingenieurs-, Design- und Beratungsunternehmen. Tätigkeitsfelder sind:  Energie, Transport & Infrastruktur, Bauten & Design, Stadtplanung & Gestaltung, Umwelt & Gesundheit, Management & Consulting sowie Politikberatung und –evaluation. „Wir evaluieren und dokumentieren laufend die Auswirkungen politischer Maßnahmen und Entscheidungen“; siehe www.ramboll.de
[6] https://www.ew.uni-hamburg.de/ueber-die-fakultaet/personen/bastian.html
[7] Abschlussbericht, S. 176, hier zitiert der Abschlussbericht ein gegliedertes Schulsystem in Hamburg. Dazu folgende Anmerkung: tatsächlich wurde das gegliederte Schulsystem in Hamburg bereits 2008/09 abgeschafft. Haupt- und Real- und Gesamtschulen wurden zu sogenannten Stadtteilschulen zusammengefasst; siehe auch FOCUS online, 15.05.2008, Hamburg schafft Hauptschulen ab; Zum Niveau der Hamburger Vergleichsschulen siehe auch: Hamburger Morgenpost, 20.04.2012, Sandra Schäfer, Kaum Schüler mit Gymnasialempfehlung. Die Stadtteil-Schule ist ein flop!
[8] Abschlussbericht, S. 177
[9] ebd., S. 63, Abb. 40; 56,8% bzw. 64,3% der befragten Lehrkräfte sagen zu den Fragen “trifft voll zu“ und „trifft eher zu“, mit deutlich zunehmender Belastung von 2013 zu 2014
[10] Schulgesetz für Berlin, §1, Auftrag der Schule
[11] https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/gemeinschaftsschule/ ,abgerufen am 31.08.2016
[12] Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014
[13] Abschlussbericht, S. 144
[14] ebd., S. 149
[15] ebd., S. 160
[16] Pressemeldung vom 8.4.2016, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen
[17] vgl. Fatina Keilani in: Der Tagesspiegel vom 30.08.2012
[18] 2015 verließ jeder zehnte Schüler die Schule ohne Abschluss; siehe auch:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr; Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss; Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Lehrer finden Mathe-Prüfungen „Pillepalle“


Anmerkung zu den Autoren des obigen Beitrags:

Der „Arbeitskreis Gute Schule Berlin“ ist eine Gruppe von Lehrerinnen, Lehrern und Eltern. Die Lehrkräfte sind an allgemeinbildenden Schulen im Primar- und Sekundarbereich sowie an berufs­bildenden Schulen tätig. Über ihre praktische Unterrichtstätigkeit hinaus sind sie, wie viele andere Lehrkräfte auch, an pädagogischen, didaktischen und bildungspolitischen Fragen interessiert. Im stän­digen Austausch miteinander entschlossen sie sich, Beobachtungen und Entwicklungen im Berliner Schulwesen über das Erleben und Wahrnehmen hinaus zu analysieren, zu kommentieren und darüber zu informieren. Ihr Wunsch ist, eine breite Diskussion für alle daran Interessierten anzustoßen.

email-Adresse:  gute-schule-berlin@online.de


 siehe auch:

Gut gehütete Tabus

Eine Studie soll auf zweifelhafte Weise den Erfolg der Berliner Gemeinschaftsschule beweisen
FAZ, Bildungswelten, 08.09.2016, Rainer Werner
Der Autor war in verschiedenen Berliner Schulformen tätig und ist Autor des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“. Er betreibt die web-Seite:  Für eine gute Schule

Zum Artikel:  Rainer Werner, Gut gehütete Tabus, web-Seite „Für eine gute Schule“

Hattie-Studie – Lehrerhandeln – Guter Unterricht – Schulstrukturen

Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie, interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt

„Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. (…) Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts!“


Andreas Helmke: Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass die Studie von Hattie einen Meilenstein der empirischen Forschung zum Lehren und Lernen darstellt. (…) darüber, dass es sich hier um eine monumentale Leistung handelt, um Aussagen auf der Grundlage einer noch nie jemals dagewesenen Datenbasis, gibt es eigentlich keinen Dissens. (…)

Reinhardt: Was sind für Sie die wichtigsten Aussagen der Studie?

Helmke: Am wichtigsten finde ich die Botschaft der Evidenzbasierung. Allzu oft wurden und werden gerade in der Bildungspolitik Behauptungen aufgestellt, Reformen inszeniert und Programme implementiert, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, welchen Ertrag man sich davon versprechen kann. Ich denke, dass die Hattie-Studie dazu beiträgt, stärker als bisher empirisch zu denken. Dazu gehört auch, dass man laufende Maßnahmen und Projekte sorgfältig evaluiert anstatt darauf zu vertrauen, dass sie schon irgendwie Erfolg haben werden. (…)

Ein zweites Hauptergebnis ist aus meiner Sicht, dass es für den Lernerfolg weniger auf strukturelle, organisatorische, methodische und finanzielle Aspekte ankommt, sondern auf Aspekte der Qualität des Unterrichts und der Lehrpersonen. Das bedeutet zum Beispiel, dass bestimmte Methoden und Szenarien der Gestaltung von Unterricht – wie Individualisiertes Lernen – an sich keine Garanten für Lernerfolg sind. (…)

Drittens ist deutlich geworden, wie wichtig die Einschätzung der Unterrichtsqualität aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler ist. (…) Versuche, den Unterricht weiterzuentwickeln, ohne dabei die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler einzubeziehen, waren schon bisher fragwürdig, nach Hattie sind sie erst recht nicht mehr zeitgemäß.

Ein viertes Hauptergebnis ist, dass die erfolgreichsten Szenarien eine besonders aktive Lehrperson vorsehen. Reziproker Unterricht, Lernen durch Lehren und viele andere lernwirksame Settings und Szenarios erfordern von der Lehrperson nicht nur eine besonders gute Vorbereitung, die Einübung von Regeln, sondern mehr: Vormachen, etwa durch lautes Denken, damit die Schüler am Modell lernen können. Und Wachsamkeit, höchste Aufmerksamkeit, um gegebenenfalls, wenn etwas schief läuft, behutsam eingreifen zu können. Mit der von manchen Pädagogen geschätzten Vorstellung eines Lehrers, der das Lernen der Schüler bestenfalls begleitet und ansonsten darauf setzt, dass die Schüler das Richtige zur richtigen Zeit schon selbst entdecken werden, ist dieses Konzept allerdings nicht kompatibel. (…)

Reinhardt: Heißt das: Wir sollen zurück zum lehrergelenkten Unterricht?

Helmke: (…) Unterschiedliche Bildungsziele und Kompetenzen erfordern natürlich einen guten Mix, eine angemessene Balance von Instruktion und Konstruktion, von eher lehrer- und eher schülergelenkten Phasen des Unterrichts. Wie erfolgreich ein lehrergelenkter, aber stark schülerzentrierter Unterricht sein kann, zeigt das Ergebnis zur Direkten Instruktion, die lange Zeit zu Unrecht gebrandmarkt wurde. Hattie legt übrigens ausführlich dar, dass Direkte Instruktion [siehe Anmerkung am Ende des Interviews] überhaupt nicht gleichbedeutend ist mit einer Monokultur des Frontalunterrichts. Im Durchschnitt ist die Methode der Direkten Instruktion effektiver und auch ökonomischer als darauf zu vertrauen, dass Schüler ihren Lernstoff selbst auswählen und Neues ohne fremde Hilfe entdecken. (…) Die Forschung dazu zeigt, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten und defizitären Sprachkompetenzen unbedingt eine starke Struktur, eine klare Führung, ein kognitives Gerüst und viele kurzschrittige Hilfen, Anregungen und Rückmeldungen benötigen, ansonsten sind sie verloren. (…)

Reinhardt: Ist damit der dominante Lehrer rehabilitiert?

Helmke: Ich würde es so ausdrücken: Lehrer sind Experten für das Lehren und Lernen, sie haben eine klare Führungsaufgabe und sind nicht Lernpartner auf Augenhöhe. Ja, laut Hattie ist ein erfolgreicher Lehrer ein kontinuierlicher Diagnostiker, ein aktiver Lenker von Lernprozessen, ein Regisseur – der aber genau weiß, wann er schweigen und den Schülern das Feld überlassen muss. (…)

Reinhardt: Wie wichtig ist das Feedback laut Hattie-Studie? Um welches Feedback geht es Hattie?

Helmke: Feedback ist nach Hattie das A und O beim Lernen. Und zwar viel umfassender als man zunächst annehmen würde, weil man häufig nur das Feedback im Auge hat, das der Lehrer dem Schüler gibt. Mindestens ebenso wichtig ist das Feedback, das der Schüler dem Lehrer gibt, sowohl im Hinblick auf den eigenen Lernprozess als auch bezogen darauf, wie er den Unterricht wahrnimmt. (…) Im Gegensatz zu Lob, das personenbezogen ist, ist Feedback auf den Lernprozess, auf die Sache, die Aufgabe bezogen. Dabei kommt es darauf an, dass die nächsten Schritte klar werden, andernfalls wird Feedback von Schülern nicht genutzt.

Reinhardt: Sie sind ja einer der profiliertesten deutschen Bildungswissenschaftler. Stimmen die Ergebnisse der Hattie-Studie mit Ihren eigenen Studien zur Wirksamkeit von Unterricht überein? Gibt es denn Forschungsergebnisse der Hattie-Studie, die mit Ihren eigenen Untersuchungen nicht zusammen passen?

Helmke: Vieles von dem was Hattie zur Unterrichtswirksamkeit sagt, kannte ich aus den zugrunde liegenden Studien natürlich auch schon, vielfach handelt es sich um „Klassiker“. Ich sehe überhaupt keine Widersprüche, im Gegenteil, ich bin entspannt, weil unsere eigenen Publikationen sowie unsere Werkzeuge zur Unterrichtsdiagnostik (wie EMU = Evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung) ganz auf der Linie von Hattie liegen. (…)

Reinhardt: Die letzten Jahre waren in Bezug auf die Rolle des Lehrers/der Lehrerin stark geprägt von Begrifflichkeiten wie „Lernbegleiter, Coach, Berater, Moderator“. Kann man aus der Studie ableiten, dass diese Vorstellungen nun obsolet sind?

Helmke: Viele der besonders lernwirksamen Lehr-Lern-Szenarien sind durch eine ausgesprochen aktive Rolle der Lehrperson gekennzeichnet. Deshalb charakterisiert Hattie den erfolgreichen, lernwirksam unterrichtenden Lehrer als Regisseur, als Aktivator, als change-agent im Gegensatz zur bloßen Begleitung. Hatties Motto ist: Lehrerzentrierter, aber ausgesprochen schülerorientierter und schüleraktivierender Unterricht. (…) Was schon vorher unprofessionell und nach Hattie erst recht nicht mehr legitimierbar ist, das ist jedoch die Verabsolutierung eines Unterrichtsstils. Lehrer nur als Begleiter oder Lernpartner, oder Lehrer nur als Dozenten oder Instrukteure, das ist unhaltbar.

Reinhardt: Welche Rolle spielt die Fachkompetenz des Lehrers/der Lehrerin?

Helmke: (…) Ohne sehr gute fachliche und fachdidaktische Kompetenzen dürfte es aussichtslos sein, dem Hauptanliegen von Hattie zu entsprechen: dem einzelnen Schüler ein individuelles, lernförderliches Feedback zu geben und das vom Schüler an die Lehrperson adressierte Feedback wirklich zu verstehen. Ohne Verständnis der Grundlagen des Faches, ohne Kenntnis alterstypischer Fehler und misconceptions ist das kaum möglich. (…)

Reinhardt: Werden diese weiteren Ziele, also zum Beispiel Erziehung zur Mündigkeit, Demokratiekompetenz, soziales Lernen, Ästhetik, durch solche großen Studien an den Rand gedrängt. Werden sie damit auch im Schulalltag unwichtiger werden?

Helmke: Ich hoffe nicht! Aber ich fürchte, man muss aktiv gegensteuern, damit genau das nicht eintritt, dass also der Blickwinkel auf die Qualität der Schule und des Unterrichts und ihrer Wirkungen nicht einseitig und verengt nur auf schulische Leistungen gerichtet ist. Angesichts der Bildungsstandards und flächendeckender Vergleichsarbeiten und der Fokussierung auf messbaren Lernerfolg durch die Hattie-Studie sehe ich da durchaus eine Gefahr. Die Qualität von Schule und Unterricht muss sich eben auch daran messen lassen, ob und in welchem Ausmaß andere wichtige Bildungsziele erreicht, Kompetenzen gefördert, Werte vermittelt und Orientierungen gegeben werden. Gerade soziale Kompetenzen und Orientierungen wie Hilfsbereitschaft, Empathie, Mitleid, Teamfähigkeit, aber auch eine gesunde Durchsetzungsfähigkeit sind wichtige Ziele, nur dass sie sich nicht so einfach und schon gar nicht schriftlich per Test messen lassen wie fachliche Kompetenzen.

Reinhardt: In Baden-Württemberg [und anderen Bundesländern] gibt es seit geraumer Zeit heiße Diskussionen um die Einführung der Gemeinschaftsschule. Sagt die Hattie-Studie etwas über gelingende Schulstrukturen aus?

Helmke: Eine der zentralen Botschaften Hatties ist ja, dass strukturelle, organisatorische und finanzielle Faktoren Oberflächenmerkmale sind, die per se nicht oder nur wenig lernwirksam sind – im Gegensatz zu den besonders effektiven Tiefenmerkmalen der Unterrichtsqualität. Das spricht nicht gegen die Gemeinschaftsschule, es dämpft nur den unangebrachten Optimismus, das Errichten einer solchen Schule sei schon eine Art Garantie für den Erfolg. Wie gesagt, auf die Lehrer und auf den Unterricht kommt es an! Mit anderen Worten: Intensives Lernen in einem förderlichen Klima, verbunden mit hohen Erwartungen und vielfacher Schüleraktivierung ist prinzipiell in jeder Schulart möglich. (…) Die Hauptsache ist die Qualität des Kerngeschäfts! (…)

Reinhardt: Was charakterisiert denn nun guten Unterricht?

Helmke: Gut im Sinne von Hattie, also lernwirksam, ist ein Unterricht, (1) in dem den Schülern viel zugetraut, aber auch zugemutet wird, (2) in dem jeder einzelne Schüler an die Grenzen seines Potenzials geführt wird, (3) der alle Möglichkeiten nutzt, sich im Austausch mit Kollegen kontinuierlich ein Bild der Lernprozesse der Schüler sowie des eigenen Lehrens zu machen, (4) der durch strukturierte, effiziente, störungspräventive Klassenführung geeignete Rahmenbedingungen für das Lernen schafft und (5) der in einem Klima stattfindet, das durch Fürsorge, Respekt, Wertschätzung und Freundlichkeit gekennzeichnet ist. (…)

Reinhardt: Kann man auch Erkenntnisse für eine gute Schule aus der großen Metaanalyse von Hattie ableiten?

Helmke: Schulen, die sich die Erkenntnisse von Hattie zu eigen machen, sind solche, in denen zentrale Prinzipien eines lernförderlichen Unterrichts bewusst thematisiert und realisiert werden. (…) Und schaut man sich die Ergebnisse zur Rolle der Schulleitung bei Hattie differenziert an, dann zeigt sich, dass eine unterrichtsbezogene Führung, verbunden mit starken Bemühungen um ein störungsfreies Lernklima, hohe Erwartungen an Lehrpersonen und herausfordernde Ziele für Lernende, besonders lernwirksam sind.

[Hervorhebungen im Text durch den Autor]

Dr. Andreas Helmke ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau.

Dr. Volker Reinhardt ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten

Zum Artikel:  Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt, Lehren & Lernen, 7 – 2013, Seite 8-15


Erläuterungen zur Aussage von Prof. Helmke zur „Direkten Instruktion“ (siehe John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2015, S. 242ff):

Die „Direkte Instruktion“ (= lehrerzentrierte Lenkung des Unterrichtsgeschehens. Die Lehrperson ist in allen Lernprozessen präsent. Ein solcher Unterricht darf nicht mit einem fragengeleiteten Frontalunterricht verwechselt werden) besteht nach Hattie aus sieben Schritten, und zwar aus:

•  Klaren Zielsetzungen und Erfolgskriterien, die für die Lernenden transparent sind;
•  Der aktiven Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler in die Lernprozesse;
•  Einem genauen Verständnis der Lehrperson, wie die Lerninhalte zu vermitteln und zu erklären sind;
•  Einer permanenten Überprüfung im Unterrichtsprozess, ob die Kinder bzw. Jugendliche das Gelernte richtig verstanden haben, bevor im Lernprozess weiter vorangegangen wird;
•  Einem angeleiteten Üben unter der Aufsicht der Lehrperson;
•  Einer Bilanzierung des Gelernten auf eine für die Lernenden verständliche Weise, bei der die wesentlichen Gedanken bzw. Schlüsselbegriffe in einem größeren Zusammenhang eingebunden werden;
•  einer wiederkehrenden praktischen Anwendung des Gelernten in verschiedenen Kontexten.

Beitrag  „Hattie-Studie – Lehrerhandeln – Guter Unterricht – Schulstrukturen“ im PDF-Format zum Herunterladen

„Eine Politik, die solche Entscheidungen zum Nachteil der Kinder zulässt, kann man nicht gerade fürsorglich nennen.“

Rote Laterne für Berlin

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17. 11. 2016, von Rainer Werner

Seit Jahren belegt das Land Berlin im bundesweiten Schulvergleich den letzten oder vorletzten Platz. In diesem Jahr haben gleich zwei Studien diese trostlose Platzierung am Ende der Länderskala bestätigt: die Studien des „Instituts der Deutschen Wirtschaft“ und des „Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“. Das Deprimierende dieser Befunde liegt darin, dass eine Besserung der Schulqualität nicht in Sicht ist. Teilweise haben sich die schulischen Leistungen sogar verschlechtert, wie die Erhöhung der Zahl der Schüler ohne Schulabschluss von 9% (2014) auf 11% (2015) zeigt.

Die neue Legislaturperiode des Berliner Abgeordnetenhauses und des Senats von Berlin bietet die Gelegenheit, endlich die Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um aus dem „Tal der Tränen“ herauszukommen. Dabei sollte der neue Senat das beherzigen, was der pädagogische Sachverstand für die Qualitätssteigerung einer Schule als besonders wirksam herausgefunden hat. (…) In der Pädagogik kann man oft den Eindruck gewinnen, dass das politisch Wünschenswerte an die Stelle dessen tritt, was wirklich Qualität verspricht.

An der Universität und im Referendariat bekommen künftige Lehrer heutzutage vermittelt, wie wichtig es sei, im Unterricht vor allem moderne, schülerzugewandte Lehrmethoden anzuwenden. Zu den modischen Lernarrangements zählen das Lernbüro, das Lernen an Stationen, die Individualisierung, die Freiarbeit und der Offene Unterricht. (…)

[Der Bildungsforscher] John Hattie bestätigt (was Lehrkräfte längst wissen), dass das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch eine ungemein wirkungsvolle Methode des Lernens darstellt. Auch Schüler empfinden das Unterrichtsgespräch als effektiv und keinesfalls als bevormundend. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die schlechten Leistungen der Berliner Schüler, die sich vor allem  in den Integrierten Sekundar- und Gemeinschaftsschulen zeigen, auf die Dominanz wenig wirkungsvoller Lernmethoden, die aber alle das Gütesiegel „sozial wertvoll“ tragen, zurückzuführen sind.

Die kritische Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsschule hat offenbart, dass beim Individuellen Lernen vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt sind, da sie der helfenden und fördernden Hand der Lehrkraft besonders bedürfen. Das in der Gemeinschaftsschule vorherrschende Selbstlernkonzept verhindert eine sinnvolle Förderung leistungsschwacher Schüler und vergrößert dadurch die Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien. [1] (…)

Eine Politik, die solche Entscheidungen zum Nachteil der Kinder zulässt, kann man nicht gerade fürsorglich nennen. (…)

Es gibt noch weitere Anzeichen dafür, dass im Berliner Schulsystem der Leistungsgedanke nicht mehr allzu hoch geschätzt wird. An den Leistungsstandards der Schulabschlüsse kann man es deutlich ablesen. Anstatt einen anspruchsvollen Unterricht zu etablieren, der das Wissen der Schüler wirklich mehrt, ist man eher dazu geneigt, das Prüfungsniveau zu senken. (…) Die Abkehr vom Leistungsprinzip in der Schule schadet letztlich allen Schülern, weil sie nicht mehr wissen, was die von ihnen erbrachten Leistungen und Abschlüsse wirklich wert sind. Sie werden es spätestens merken, wenn sie im Hörsaal einer Universität sitzen und an den universitären Leistungsanforderungen scheitern. Die hohe Zahl der Studienabbrecher von über 30% spricht hier eine deutliche Sprache. (…)

Die Senatsschulverwaltung muss in den nächsten Jahren sehr viel mehr Wert auf die Qualitätsentwicklung an unseren Schulen legen, als sie dies bisher getan hat. Dabei sollten vor allem der pädagogische Sachverstand der Lehrkräfte und die wissenschaftliche Expertise zählen und weniger parteipolitische Visionen.

Zum Artikel: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17. 11. 2016, Rainer Werner, Rote Laterne für Berlin

Der Autor ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er ist Autor des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“. Rainer Werner berät staatliche Schulen und Schulen in freier Trägerschaft bei der inneren Schulreform.


Anmerkung [1] durch Schulforum-Berlin, siehe: Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014


siehe auch:
„Rote Laterne“ für Berlins Schulen
Schulsenatorin Scheeres: Miese Noten, aber trotzdem versetzt

Obwohl es um Berlins Schulen im bundesweiten Vergleich schlecht aussieht, soll Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) weiter im Amt bleiben. (…)
„Mit Frau Scheeres wird Berlin auch die nächsten fünf Jahre die rote Laterne behalten“, sagt Bildungsexpertin Hildegard Bentele.

Zum Artikel:  BZ, 17.11.2016, Olaf Wedekind, „Rote Laterne“ für Berlins Schulen, Schulsenatorin Scheeres: Miese Noten, aber trotzdem versetzt

Schülerleistungen im Vergleich der Bundesländer

Jugendliche Klassengesellschaft

Warum das Lernniveau von Neuntklässlern je nach Bundesland so stark variiert – und mit welchen Maßnahmen die erfolgreichen Länder den Unterricht verbessert haben.

FAZ, 28.10.2016, von Heike Schmoll

Was haben Bundesländer getan, deren Neuntklässler sich im Ländervergleich „IQB-Bildungstrend 2015“ in Englisch und Deutsch so deutlich gegenüber der ersten Erhebung 2009 verbessert haben wie Schleswig-Holstein und Brandenburg? Sie haben sich konzentriert. Nach den niederschmetternden Leistungsergebnissen in Englisch hat Brandenburgs damaliger Staatssekretär Burkhard Jungkamp die ostdeutschen Länder eingeladen und mit ihnen eine Strategie für eine Qualitätsoffensive in Englisch verabredet [Sommerakademien für ihre Englischlehrer, Tandems mit muttersprachlichen Lehrern]. Sechs Jahre später sind die Verbesserungen sichtbar. (…)

Ähnliches gilt für Schleswig-Holstein im Fach Deutsch. Der Direktor des Kieler Leibnizinstituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), der Bildungsforscher Olaf Köller, sagte dieser Zeitung, die Kampagne „Lesen macht stark“ habe an den Schulen, die sie ernst genommen hätten, zu verblüffenden Erfolgen geführt. (…)

Baden-Württemberg indessen scheint sich auf den guten Ergebnissen der vorangegangenen Studien ausgeruht zu haben, jedenfalls fehlt es dort an gezielten Anstrengungen zur Unterrichtsverbesserung, wie die neue Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) auch in Berlin bekräftigte. Man habe sich zu viel mit Schulstrukturdebatten aufgehalten, statt an Unterrichtsqualität und Leistung zu denken, so Eisenmann. (…)

Besonders ungünstige Ergebnisse weisen für alle getesteten Fähigkeiten Berlin und Bremen auf. (…)

Auffallend ist, dass in manchen Ländern nicht nur die schwächsten Schüler zu wenig gefördert werden, sondern auch die leistungsstärksten. (…) Die Gymnasiallehrer scheinen also angesichts der immer unterschiedlicher und größer werdenden Schülergruppe, die sie zum Abitur führen sollen, die Förderung der Leistungsstärksten zugunsten der Leistungsschwachen zu vernachlässigen. (…)

zum Artikel :  FAZ, 29.10.2016, Heike Schmoll, Jugendliche Klassengesellschaft


… mehr aus dem Ländervergleich „IQB-Bildungstrend 2015“:

An der Überprüfung des Erreichens der Bildungsstandards in den Fächern Deutsch und Englisch nahmen im Jahr 2015 insgesamt 33 110 Schülerinnen und Schüler der 9. Jahrgangsstufe aus allen 16 Ländern in der Bundesrepublik Deutschland teil.

Im Fach Deutsch erreichen oder übertreffen im Jahr 2015 bundesweit im Bereich Lesen gut 48 Prozent, im Bereich Zuhören fast 62 Prozent und im Bereich Orthografie rund 66 Prozent der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler den KMK-Regelstandard für den MSA. Den Mindeststandard (MSA) verfehlen in diesen Kompetenzbereichen jeweils etwa 23 Prozent [Lesen], fast 19 Prozent [Zuhören] beziehungsweise rund 14 Prozent [Orthografie] der Schülerinnen und Schüler.

Zwischen dem Land mit dem geringsten [Berlin und Bremen] und dem Land mit dem höchsten Kompetenzmittelwert [Bayern und Sachsen] beträgt der Abstand im Fach Deutsch (…) in allen drei Bereichen [Lesen, Zuhören, Orthografie] mehr als drei Schuljahre Lernzeit. (S.16)

Der Kompetenzzuwachs am Ende der Sekundarstufe I [zwischen dem Land mit dem geringsten und dem Land mit dem höchsten Kompetenzmittelwert] ist im Fach Englisch größer als im Fach Deutsch, sodass diese Unterschiede dem Lernzuwachs von etwa einem Schuljahr entsprechen. (S.16)

Neben Berlin und Bremen zählt auch Sachsen-Anhalt zu den Ländern, in denen die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Fach Englisch in beiden Kompetenzbereichen (Leseverstehen und Hörverstehen] im Durchschnitt ein signifikant geringeres Kompetenzniveau erreichen als Neuntklässlerinnen und Neuntklässler in Deutschland insgesamt. (S.16)

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2015 zeigen, dass nahezu alle Länder sowohl fachfremd unterrichtende Lehrkräfte als auch Quereinsteiger einsetzen.
Besonders hoch ist der Anteil der Quereinsteiger in den ostdeutschen Ländern, was auf die seit Jahren hohe Anzahl von Pensionierungen und den daraus resultierenden Lehrkräftemangel zurückzuführen ist. [siehe auch: Berliner Bildungsdesaster – wo bleibt der Aufschrei der Eltern? TSP vom 8.2.2016, Berlin braucht 1000 neue Grundschullehrer – hat aber nur 175] Außerdem zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit der fachfremd unterrichtenden Lehrkräfte und der Quereinsteiger in nichtgymnasialen Schulen eingesetzt wird. (S. 28f)

Im IQB-Bildungstrend 2015 wurde darüber hinaus untersucht, ob die Qualifikation und der Fortbildungsbesuch der Lehrkräfte mit den Kompetenzen zusammenhängen, die von ihren Schülerinnen und Schülern erreicht werden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die von fachfremden Lehrkräften unterrichteten Schülerinnen und Schüler sowohl in Deutsch als auch in Englisch auch nach statistischer Kontrolle der Klassenzusammensetzung im Durchschnitt geringere Kompetenzen erreichen als die von Fachlehrkräften unterrichteten Schülerinnen und Schüler. In einzelnen Kompetenzbereichen sind die Leistungsnachteile an nichtgymnasialen Schulen besonders ausgeprägt. Nachdem negative Zusammenhänge fachfremd erteilten Unterrichts mit den Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern bereits im IQB-Ländervergleich 2011 in der Primarstufe und im IQB-Ländervergleich 2012 in der Sekundarstufe I insbesondere für das Fach Mathematik festgestellt wurden, bestätigen die Befunde des IQB-Bildungstrends 2015, dass diese Zusammenhänge auch in den sprachlichen Fächern in der Sekundarstufe I bestehen. (S.29)

nachzulesen:  IQB-Bildungstrend 2015 Zusammenfassung


Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)
In den Jahren 2003 und 2004 verabschiedete die Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) Bildungsstandards für den Primarbereich und die Sekundarstufe I. Diese beschreiben, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu bestimmten Zeitpunkten in ihrer Bildungslaufbahn in den Fächern Deutsch und Mathematik (Primarbereich und Sekundarstufe I), in den Fremdsprachen Englisch und Französisch (Sekundarstufe I) sowie in den naturwissenschaftlichen Fächern (Sekundarstufe I) entwickelt haben sollen. Für die Durchführung dieser Untersuchungen ist das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin verantwortlich. Die entsprechenden Studien des IQB werden ab 2015 als IQB-Bildungstrends bezeichnet.

„Der Schreibvielfalt sind je nach dialektaler Färbung keine Grenzen gesetzt“

„Varat“-Fahren – Rechtschreibung in der Grundschule

Von Heike Schmoll, Sendung: SWR 2, Aula, Sonntag, 28.08.2016
Redaktion: Ralf Caspary

Studien belegen: Deutsche Grundschüler schreiben immer schlechter, beherrschen nicht mehr die Orthografie, die Hälfte der Drittklässler erfüllt nicht einmal mehr die Mindeststandards, die die Kultusministerkonferenz für die Rechtschreibung formuliert hat. Diese Kinder können lediglich so schreiben, wie sie sprechen, und das ist ein Problem. Ursache für dieses Problem ist wiederum eine Methode, die in der Primarstufe an vielen Schulen und in vielen Bundesländern dominiert, es geht um das Schreiben nach der Phonetik. Heike Schmoll, Redakteurin mit Schwerpunkt Bildung bei der FAZ, sagt, warum diese Methode Unsinn ist.

Als im Juli die Lernergebnisse der achten Klassen aller weiterführenden Schulen in Baden-Württemberg veröffentlicht wurden, war das Entsetzen groß [Ergebnisse siehe “Blamable Schulleistungen“]. Baden-Württemberg hatte zum ersten Mal am bundesweiten Programm Vera 8, einem Leistungsvergleich für die Achtklässler aller Schularten teilgenommen. Im Februar und März wurden die Tests geschrieben, die Ergebnisse sind alarmierend. (…)

Die meisten der heutigen Achtklässler haben Lesen und Schreiben nach einer bizarren Methode gelernt, die unter Praktikern und Fachleuten hoch umstritten ist. Grundschuleltern kennen das: Ihr Kind schreibt in der ersten Klasse Kraut und Rüben, genauso wie es den Klang der Worte wahrnimmt. Manchmal können die Eltern nur schwer erraten, was der Sprössling mit seinen ersten Worten und Sätzen gemeint haben könnte. Den Lehrern geht es kaum anders. Unter eine Schülerarbeit mit phonetischer Schreibung hat die Lehrerin geschrieben: „Ich kann deine Geschichte leider nicht bewerten, da ich sie nicht lesen kann“. Dieselbe Lehrerin, die dem Kind diese aberwitzige Methode zugemutet hat, macht sie ihm zum Vorwurf. Das ist nicht nur absurd, es ist geradezu unverantwortlich. Was kann der Schüler dafür, dass er nach solch einer Methode, die diesen Namen angesichts der fehlenden Systematik nicht einmal verdient, Schreiben und Lesen lernen soll?

Schließlich dient das Schreiben und Lesen in erster Linie der verständlichen Mitteilung. Doch in diesem Unterricht steht es nicht im Dienste der verständlichen Mitteilung, sondern hilft allein der Selbstverwirklichung der kindlichen Fantasie. Das, was Bildungspolitiker immer so groß schreiben, das Gemeinschaftliche an der Schule, wird zugunsten einer ziemlich selbstbezogenen Veranstaltung aufgegeben. (…)

Auch im kommenden Schuljahr lernen wieder Hunderttausende Erstklässler Lesen durch Schreiben und das heißt, Schreiben nach dem phonetischen Klang der Worte. Der Schreibvielfalt sind je nach dialektaler Färbung wiederum keine Grenzen gesetzt.

(…) seit einigen Jahren wird getreu nach Jürgen Reichen Schreiben nach dem Hören gelehrt. Kinder sollen also so schreiben, wie sie ein Wort hören. Reichen war ein Schweizer Reformpädagoge. Er war der festen Auffassung, dass Schüler umso besser lernen, je weniger sie belehrt werden. Reichen glaubte daran, dass Kinder sich die Schriftsprache selbst aneignen können, genauso wie sie einst laufen und sprechen lernten. Mehr als eine Anlauttabelle wollte er ihnen dafür nicht an die Hand geben. Sie zeigt Bilder – ein Fisch schwimmt hinter dem F, eine Tasse erscheint hinter dem T, ein Ü steht für Überholverbot und so weiter. Die Erstklässler sollten von Anfang an die Laute, die sie für das Wort brauchen, selbst aus der Tabelle zusammensuchen. (…) Der sogenannte Grundschulverband hat sie jahrelang mit großem Erfolg propagiert. (…)

Hatten Schüler bis dahin einzelne Buchstaben gelernt, die irgendwann ganze Wörter ergaben, ging es jetzt darum, jedes beliebige Wort in Lautbestandteile zerlegen zu können. Wie Reichen dachte, mag folgender Ausspruch illustrieren: „Dieser gesamte Rechtschreibwahnsinn führt doch zu nichts anderem, als die Schule mit Quark zu beschäftigen. Dadurch halten wir die Kinder davon ab, wirklich denken zu lernen und uns mit der Welt und dem Leben auseinanderzusetzen“, sagte Reichen wörtlich. Auch er hing der Ideologie an, dass Rechtschreibregeln einzig und allein als Herrschaftsinstrument anzusehen seien. (…)

Seit etwa 15 Jahren werden beide Methoden des Schreibenlernens empirisch miteinander verglichen. Die Befundlage ist ziemlich komplex, wenn auch nicht sonderlich überraschend. In den Klassen, die nach der Methode „Lesen durch Schreiben“ lernen, sind die Rechtschreibleistungen deutlich schlechter als in Klassen mit der herkömmlichen Fibel. (…)

Das kreative Schreiben fruchtet wenig, wenn die Anforderungen ohnehin schon auf niedrigstem Niveau sind. Doch alles schien den Reformern wichtiger als Diktate, die völlig aus dem Deutschunterricht verbannt wurden. Ohne Rechtschreibregeln hätte es ja ohnehin nichts zu korrigieren gegeben. Eigentlich sollten die Grundschüler in der dritten Klasse wenigstens annähernd die Rechtschreibung beherrschen, die Korrekturphase sollte in der zweiten Klasse beginnen. Doch das gelingt nicht. Welchen Sinn hat es eigentlich, wenn Kinder Texte produzieren, die weder sie selbst noch andere lesen können? (…) Schließlich ist Lesen und Schreiben in erster Linie ein Kommunikationsmittel und keine sinnfreie Fantasieübung. (…) Letzten Endes müssen die weiterführenden Schulen darauf vertrauen können, dass die Grundschulen die kulturellen Grundlagen vermitteln, zu denen vor allem verständiges Lesen und Schreiben gehören.

Es hat sich inzwischen eingebürgert, in den Aufsätzen der Grundschule Rechtschreibfehler nicht einmal mehr anzustreichen, geschweige denn zu korrigieren. Unweigerlich sinkt das Niveau dadurch. Zugleich wird der verpflichtende Wortschatz für die Grundschule ständig gesenkt. Sollten Grundschüler vor zehn Jahren noch 1200 Wörter sicher beherrschen, sind es inzwischen nur noch 700 bis 800. Die Sprachverarmung ist deshalb vorprogrammiert, zugleich sind die Mindestanforderungen leichter zu erfüllen. (…)

Es gelte sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass die Rechtschreibung am Ende der vierten Klasse der Grundschule fertig ausgebildet sei [so eine der Befürworterinnen der Reichen-Methode Erika Brinkmann von der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd]. Wie man am neuen Vera-Test sieht, gelingt das auch den Gemeinschaftsschulen in den Orientierungsschuljahren 5 und 6 nicht.

Die Grundschulen sind offenkundig nicht imstande, ihren Schüler die kulturellen Standardtechniken Lesen, Schreiben Rechnen so zu vermitteln, dass sie eine weiterführende Schule ohne Schiffbruch bewältigen. (…) Es ist ein Unding, dass es nach wie vor den Lehrern selbst überlassen bleibt, nach welcher Methode sie Lesen und Schreiben lehren, wenn das zu solchen Ergebnissen führt. (…) Allein das saarländische Ministerium für Bildung und Kultur hat festgehalten: „Eine ausschließliche Umsetzung der Methode ‚Lesen durch Schreiben‘ nach Jürgen Reichen verbietet sich“. (…)

Die Potsdamer Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik Agi Schründer hält jedenfalls das Schreiben nach dem Hören für reine Zeitverschwendung und für ziemlich verfehlt. (…) Kinder brauchen einen Umgang mit Fehlern, der konstruktiv ist. Das heißt, sie brauchen die Orientierung am Richtigen und wollen auch wissen, was korrekt geschrieben ist. Alles andere ist Augenwischerei. Die scheinbar kindgemäße Methode des Schreibens nach dem Hören entspricht eher den Wunschvorstellungen von Erwachsenen als den Bedürfnissen von Kindern. Sie speist sich aus der sozialromantischen Vorstellung, dass die gleiche Behandlung von Schülern aus bildungsnahen und bildungsfernen Schichten durch diese Methode des Schreiberwerbs die sozialen Unterschiede weniger hervortreten lasse. Doch das Gegenteil ist der Fall (…)  [siehe auch:  Die Hälfte der Drittklässler erfüllt nicht einmal die Mindeststandards“]

Die scheinbar sozial verträgliche Methode verschärft also die sozialen Unterschiede und ebnet sie nicht ein. Denn die schwächeren Lerner bräuchten strukturierte Angebote, weil sie ihnen helfen, die Systematik der Rechtschreibung zu erkennen. Genau diese bekommen sie nur in den seltensten Fällen. Wenn sie das Prinzip verstanden und oft genug geübt haben, können sie auch flüssig lesen und schreiben. Und nur wer einigermaßen flüssig lesen und schreiben kann, der hat auch Freude daran. (…)  [siehe auch:  „Richtig schreiben, lesen und – verstehen“]

Es ist erschreckend: Keines der 16 Bundesländer weiß, nach welcher Methode welche Schule und welcher Lehrer unterrichten. Niemand überschaut noch die Vielzahl der Verfahren und keiner überprüft die Lernergebnisse, die erst dann auffallen, wenn es in den meisten Fällen zu spät ist: bei den Vergleichsarbeiten der dritten und der achten Klasse. (…)

Wie sollen sie denn in einem bunt gewürfelten Lernverband von der ersten bis zur dritten Klasse mit jahrgangsübergreifendem Unterricht zu einem systematischen Spracherwerb und zu einem sicheren Lesen und Schreiben gelangen?

Die Lehrer kapitulieren längst vor diesen unlösbaren Aufgaben: Sie sollen drei Klassenstufen, dazu sprachbehinderten und in der Entwicklung gestörten Kindern gerecht werden und zugleich den einheimischen, eingewanderten und dann auch noch den Flüchtlingskindern die wichtigsten Kulturtechniken vermitteln. Das vermag kein Lehrer zu leisten. (…) Zu viel Heterogenität vergrößert die Leistungsfähigkeit eben nicht, sondern sie macht das Lernen unmöglich. Leistungsdifferenzierte Gruppen sind die einzige Chance, solcher unterschiedlicher Bedürfnisse noch Herr zu werden. (…)

Viele Berliner Schulen reagieren verlegen bis abwehrend, wenn sie nach der Anzahl der Lese-Rechtschreib-Schwachen gefragt werden. Die Zahlen werden auch nicht von der Schulbehörde erhoben – ein Schelm, der dabei Böses denkt. (…)

Wie lange eigentlich sollen Deutschlands Schulanfänger systematisch zu Rechtschreibanarchisten erzogen werden? Warum lassen es sich Eltern gefallen, dass ihre Sprösslinge zu Versuchskaninchen einer Methode gemacht werden, deren Unzulänglichkeit nicht mehr zu übersehen ist? Warum setzen sie nicht Schulleiter unter Druck und machen bekannt, an welcher Grundschule ein guter Rechtschreibunterricht stattfindet?

zum Manuskript:  SWR 2, Aula, 28.08.2016, Redaktion: Ralf Caspary, von Heike Schmoll, „Varat“-Fahren – Rechtschreibung in der Grundschule

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulform-Berlin

„Nach zwei Jahren schulischer Inklusion passt absolut nichts zusammen“

Wunsch und Wirklichkeit

In Nordrhein-Westfalen gilt die Inklusion in der Schule als Regelfall. Zwei Jahre nach der Einführung ziehen Verbände und Lehrer ernüchternde Zwischenbilanz.

25.08.2016, von Reiner Burger

Ende 2013 verabschiedete der Landtag in Düsseldorf ein Gesetz zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern. Kinder mit Handicap werden seitdem nur dann auf die Förderschule geschickt, wenn ihre Eltern das ausdrücklich wünschen. Doch das im Gesetz festgeschriebene Elternwahlrecht wird zunehmend unterlaufen: Immer mehr Förderschulen werden geschlossen, weil sie die Verordnung über die Mindestgrößen von Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) nicht mehr erfüllen. (…) Gutachter haben im Auftrag ihres Ministeriums errechnet, dass bis zum Jahr 2020 eine Inklusionsquote von 85 Prozent erreicht werden kann; derzeit beträgt sie rund 40 Prozent. (…)

Seit zwei Jahren ist Frau M. nun Klassenlehrerin in der Inklusionsklasse, in der sie bis zum Ende des vergangenen Schuljahrs drei Schüler mit dem Förderbedarf Lernen und einen Jungen mit Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung unterrichtet. Er wechselt mit Ende der Sommerferien nun auf eine Förderschule (…). „Es ist ein großes Glück für den Jungen und für meine Klasse, dass seine Eltern eingesehen haben, dass man ihm auf einer Förderschule einfach besser helfen kann.“ Einen Sonderpädagogen hatte die Lehrerin bisher nie an ihrer Seite, und auch im dritten Jahr mit ihrer Inklusionsklasse wird sie keinen Sonderpädagogen bekommen. Bei der Doppelbesetzung in den Hauptfächern werden in der „I-Klasse“ auch weiterhin ab und zu Lehrer aus ihrem Kollegium aushelfen. „Der dauernde Wechsel macht Absprachen und gezielte Förderung unmöglich. Immer wieder müssen fachfremde Kollegen aushelfen (…). In den Nebenfächern gibt es keine Doppelbesetzung (…) weil schon für den Regelbetrieb nicht genügend Fachlehrer vorhanden sind. Frau M.s Erfahrungen mit der Inklusion sind im nordrhein-westfälischen Schulsystem nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

(…) Die Lehrerin Frau H. meint: „… die 2014 eingeführte Inklusion ist ein erbarmungsloses Konstrukt, in dem Kinder systematisch zurückgelassen werden“.

Nach Angaben der „Lehrer NRW“ gibt es Förderschullehrer, die an bis zu fünf Regelschulen eingesetzt sind, um dort in ganz unterschiedlichen Rollen inklusiv arbeitende Klassen zu unterstützen. Sie sind den ganzen Tag mit dem Auto unterwegs, in keinem Kollegium mehr zu Hause. Gemeinsame Absprachen und kontinuierliches Arbeiten zwischen Regel- und Förderschullehrern sind so kaum möglich. (…)

„Die Unzufriedenheit bei Schülern, Eltern und Lehrkräften nimmt zu“, warnen die [Lehrer-] Verbände und werfen Schulministerin Löhrmann vor, auf „eine rein quantitative Erhöhung der Inklusionsquote“ fokussiert  zu sein.

[Weiter wird ihr vorgeworfen,] den Schulen zu Lasten der Kinder und Lehrer ein völlig ungenügendes Gesetz übergestülpt zu haben. Tatsächlich liegt das Problem noch tiefer. Das Gesetz krankt schon an einer falschen Begründung. Anders als von Rot-Grün im Gesetzgebungsverfahren insinuiert [unterstellt], gibt es keinen völkerrechtlichen Zwang, das gemeinsame zielgleiche und zieldifferenzierte Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung im allgemeinen Bildungssystem zu organisieren. In der 2009 von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention ist von einer Schule für alle keine Rede, auch die Schließung von Förderschulen wird nicht gefordert. Ganz im Gegenteil heißt es in der Konvention, dass besondere Maßnahmen für behinderte Menschen nicht als Diskriminierung zu werten sind.

Zum Artikel:  FAZ, Bildungswelten, 25.08.2016, Reiner Burger, Wunsch und Wirklichkeit