„Nach zwei Jahren schulischer Inklusion passt absolut nichts zusammen“

Wunsch und Wirklichkeit

In Nordrhein-Westfalen gilt die Inklusion in der Schule als Regelfall. Zwei Jahre nach der Einführung ziehen Verbände und Lehrer ernüchternde Zwischenbilanz.

25.08.2016, von Reiner Burger

Ende 2013 verabschiedete der Landtag in Düsseldorf ein Gesetz zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern. Kinder mit Handicap werden seitdem nur dann auf die Förderschule geschickt, wenn ihre Eltern das ausdrücklich wünschen. Doch das im Gesetz festgeschriebene Elternwahlrecht wird zunehmend unterlaufen: Immer mehr Förderschulen werden geschlossen, weil sie die Verordnung über die Mindestgrößen von Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) nicht mehr erfüllen. (…) Gutachter haben im Auftrag ihres Ministeriums errechnet, dass bis zum Jahr 2020 eine Inklusionsquote von 85 Prozent erreicht werden kann; derzeit beträgt sie rund 40 Prozent. (…)

Seit zwei Jahren ist Frau M. nun Klassenlehrerin in der Inklusionsklasse, in der sie bis zum Ende des vergangenen Schuljahrs drei Schüler mit dem Förderbedarf Lernen und einen Jungen mit Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung unterrichtet. Er wechselt mit Ende der Sommerferien nun auf eine Förderschule (…). „Es ist ein großes Glück für den Jungen und für meine Klasse, dass seine Eltern eingesehen haben, dass man ihm auf einer Förderschule einfach besser helfen kann.“ Einen Sonderpädagogen hatte die Lehrerin bisher nie an ihrer Seite, und auch im dritten Jahr mit ihrer Inklusionsklasse wird sie keinen Sonderpädagogen bekommen. Bei der Doppelbesetzung in den Hauptfächern werden in der „I-Klasse“ auch weiterhin ab und zu Lehrer aus ihrem Kollegium aushelfen. „Der dauernde Wechsel macht Absprachen und gezielte Förderung unmöglich. Immer wieder müssen fachfremde Kollegen aushelfen (…). In den Nebenfächern gibt es keine Doppelbesetzung (…) weil schon für den Regelbetrieb nicht genügend Fachlehrer vorhanden sind. Frau M.s Erfahrungen mit der Inklusion sind im nordrhein-westfälischen Schulsystem nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

(…) Die Lehrerin Frau H. meint: „… die 2014 eingeführte Inklusion ist ein erbarmungsloses Konstrukt, in dem Kinder systematisch zurückgelassen werden“.

Nach Angaben der „Lehrer NRW“ gibt es Förderschullehrer, die an bis zu fünf Regelschulen eingesetzt sind, um dort in ganz unterschiedlichen Rollen inklusiv arbeitende Klassen zu unterstützen. Sie sind den ganzen Tag mit dem Auto unterwegs, in keinem Kollegium mehr zu Hause. Gemeinsame Absprachen und kontinuierliches Arbeiten zwischen Regel- und Förderschullehrern sind so kaum möglich. (…)

„Die Unzufriedenheit bei Schülern, Eltern und Lehrkräften nimmt zu“, warnen die [Lehrer-] Verbände und werfen Schulministerin Löhrmann vor, auf „eine rein quantitative Erhöhung der Inklusionsquote“ fokussiert  zu sein.

[Weiter wird ihr vorgeworfen,] den Schulen zu Lasten der Kinder und Lehrer ein völlig ungenügendes Gesetz übergestülpt zu haben. Tatsächlich liegt das Problem noch tiefer. Das Gesetz krankt schon an einer falschen Begründung. Anders als von Rot-Grün im Gesetzgebungsverfahren insinuiert [unterstellt], gibt es keinen völkerrechtlichen Zwang, das gemeinsame zielgleiche und zieldifferenzierte Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung im allgemeinen Bildungssystem zu organisieren. In der 2009 von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention ist von einer Schule für alle keine Rede, auch die Schließung von Förderschulen wird nicht gefordert. Ganz im Gegenteil heißt es in der Konvention, dass besondere Maßnahmen für behinderte Menschen nicht als Diskriminierung zu werten sind.

Zum Artikel:  FAZ, Bildungswelten, 25.08.2016, Reiner Burger, Wunsch und Wirklichkeit