Schlagwort-Archive: Gemeinschaftsschule

Es wird auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge auf Anweisung der Kultusbehörde experimentiert

Arbeitskreis Schule und Bildung in Baden-Württemberg

06.01.2016,  Pressemitteilung
Bildungspolitischem Landtagswahlkampf droht bislang Oberflächlichkeit
Neuerscheinung aus der Schweiz gibt der Diskussion über Erziehung und Bildung wieder Gewicht und Niveau

Zwei Monate vor der Landtagswahl befürchtet der «Arbeitskreis Schule und Bildung in Baden-Württemberg», dass sich die bildungspolitischen Auseinandersetzungen im Rahmen des Wahlkampfes auf Oberflächliches beschränken werden.

Einen ersten Eindruck von dem, was zu erwarten ist, bot die im Dezember 2015 von der Friedrich Ebert Stiftung herausgegebene, knapp 50 Seiten umfassende Studie «Kontrovers, aber erfolgreich!? Eine Zwischenbilanz grün-roter Bildungsreformen in Baden-Württemberg».

Im Auftrag der SPD-nahen Stiftung hatten Marius R. Busemeyer und Susanne Haastert, Politikwissenschaftler an der Universität Konstanz, Gespräche mit 25 zu meist Verbands- und Parteifunktionären sowie mit Schulleitungen und ganz wenigen Lehrern, Eltern, Schülern und Vertretern der kommunalen Verwaltung von 4 Gemeinschaftsschulen geführt, um deren Meinung über die grün-rote Bildungspolitik, deren Ziele und deren Zielerreichungsgrad zu erfragen.

Die schriftlich vorliegenden Ergebnisse der Studie zeichnen sich durch eine erschreckende Oberflächlichkeit aus. Bildungspolitischer oder gar pädagogischer Tiefgang fehlt völlig.
Hier eine Kostprobe, der man viele weitere hinzufügen könnte:

«Die Erfahrungen mit der Gemeinschaftsschule bewerten die Schüler_innen trotz der anfänglichen Umstellung auf den ungewohnten Unterrichtsstil sehr positiv. Zwar verbringen die Schüler_innen durch den Ganztagsbetrieb mehr Zeit in der Schule, haben danach aber keine Schularbeiten mehr zu erledigen. Dadurch empfinden sie weniger Druck zu Hause – und wenn doch einmal Unterstützung beim Lernen gebraucht wird, sei die Hilfsbereitschaft der Eltern größer. Die Eltern bestätigen, dass den Familien durch den Wegfall der Verantwortung für Hausaufgaben und Lernen mehr freie Zeit für gemeinsame Aktivitäten bleibt.»

Nirgendwo ist zum Beispiel die Rede davon, wie und was genau die Schüler in den seit 3 Jahren bestehenden Gemeinschaftsschulen wirklich gelernt (oder aber nicht gelernt) haben und wie sie sich als junge Menschen in ihrer Persönlichkeit tatsächlich entwickelt haben. Geschweige denn, dass solche Ergebnisse mit denen von anderen Schulen verglichen wurden. Schon gar nicht gefragt wurde nach der Gemeinwohltauglichkeit grün-roter Bildungspolitik.

Das entspricht den bisherigen Versuchen der grün-roten Landesregierung, die Diskussion über ihre Schulreformen zu banalisieren, zu trivialisieren und allein oberflächlich zu gestalten (mit Parolen wie «Vielfalt macht schlauer»). Soll noch der denkende und mitfühlende Mensch, der mündige Bürger in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft angesprochen werden? Oder nur noch eine Karikatur des Menschen, die auf «Funktionen» wie Produktion und Konsum, Spaß und Bequemlichkeit reduziert wird – messbar, berechenbar und steuerbar, aber ohne wirkliche Individualität und ohne Gemeinschaftsgefühl? Was ist das verdeckte Ziel der Schulreformen?

In unserem Nachbarland Schweiz haben sich nun auch «Professoren, Lehrer, Wissenschaftler, Kulturschaffende und Eltern mit links-liberaler Gesinnung »mit deutlicher Kritik an den dortigen Schulreformen zu Wort gemeldet. Frappant sind die Parallelen zur Entwicklung in Baden-Württemberg.

Was in der Schweiz zum Beispiel als «Lehrplan 21» sehr umstritten ist und intensiv diskutiert wird, sind in Baden-Württemberg die für dieses Jahr geplanten neuen Bildungspläne. Alle Schlagwörter aus Baden-Württemberg geistern auch durch unser Nachbarland Schweiz. Die Stellungnahmen aus der Schweiz haben nicht nur Gewicht und Niveau, sie sind auch für unser Bundesland von großer Bedeutung.  (Die Broschüre hat den Titel «Einspruch. Kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan21» und kann bei einem der Herausgeber, dem Schweizer Lehrer Alain Pichard, per E-Mail (arkadi@bluemail.ch) bestellt werden.)

c/o Ewald Wetekamp, Wassergasse 12, 78333 Stockach
mail@arbeitskreis-schule-und-bildung.de
www.arbeitskreis-schule-und-bildung.de


Weitere Auszüge aus der Auftragsstudie „Kontrovers, aber erfolgreich!? – Eine Zwischenbilanz grün-roter Bildungsreformen in Baden-Württemberg“:

(…) Die Oppositionsparteien, Realschul-, Gymnasial- und Berufsschullehrerverbände sowie der Volkshochschulverband kritisieren, dass die grün-rote Landesregierung keine Problemanalyse durchgeführt habe (Exp13, Exp23); stattdessen, so das Verständnis dieser Akteur_innen, dienten die Reformen primär der Umsetzung einer ideologischen Vorstellung mit dem Ziel der „Einheitsschule“ (Exp4, Exp13, Exp17, Exp20, Exp23, Exp25). (…) (Seite 18)

Bildungsgerechtigkeit und Qualitätsverbesserung werden von allen Akteur_innen als sehr hohe – oder sogar die höchsten – Ziele von Bildungspolitik eingeschätzt.
Jedoch sind die Auffassungen darüber sehr unterschiedlich, was Bildungsgerechtigkeit oder auch Qualität im Schulsystem konkret bedeuten. (…) (Seite 19)

Aus Sicht dieser Akteur_innen (Exp2, Exp4, Exp17, Exp20, Exp23, Exp25) waren die von der grün-roten Landesregierung durchgeführten Reformen nicht nur unnötig, sondern haben sogar einen gegenteiligen Effekt auf Bildungsgerechtigkeit, weil sie die Vielfalt der Schulformen angriffen, die leistungsstarken Schüler_innen nicht angemessen förderten und zu einem Anstieg der Schülerzahlen an Privatschulen geführt hätten (ebd.). Tendenziell sprechen sich diese Akteur_innen dafür aus, das gegliederte System beizubehalten. (…) (Seite 19)

(…) Befürworter_innen als auch Kritiker_innen der Landesregierung [sagen], dass noch abzuwarten bleibt, ob sich die Reformen tatsächlich auf die Bildungsgerechtigkeit auswirken werden. (Seite 20)

(…) Insgesamt sind Vertreter_innen aller Akteursgruppen der Meinung, dass die Entscheidung für eine weiterführende Schule teilweise nicht am Kindeswohl ausgerichtet werde und dann dem Kind eher psychisch schade (Exp2, Exp4, Exp5, Exp7, Exp8, Exp11, Exp12, Exp13, Exp14, Exp19, Exp20, Exp22). Dies resultiere aus einem Mangel an Beratung für die Eltern (Exp5, Exp6, Exp7, Exp8, Exp11, Exp14, Exp15, Exp16, Exp18, Exp20); zum einen hätten die Grundschullehrer_innen keine zusätzlichen Stunden für die erforderliche intensivere Beratung zugesprochen bekommen (Exp3, Exp19, Exp25), zum anderen wollten einige Eltern die Beratung nicht zur Kenntnis nehmen bzw. folgten auch nicht der unverbindlichen Empfehlung (Exp2, Exp22). (…) (Seite 26)


Zusammenfassend kann man mit dem Erziehungswissenschaftler Ulrich Steffens (Direktor am hessischen Landesschulamt in Wiesbaden) sagen:

“Pädagogische Fragen sind leider häufig eine Domäne parteipolitischer Interessen, wobei politische Parameter und manchmal auch ideologische Standpunkte Vorrang vor sachlogischen Gesichtspunkten haben”.
Aus dem Artikel: “Mit den Augen der Lernenden”, siehe unter der Seite „Lernen“

Die Unterrichtskonzepte ändern sich nicht deshalb, weil sie sich als untauglich erwiesen haben. Nach Belegen für ihre Wirksamkeit wird selten gefragt. Sie werden abgelöst, weil die Politik es will! Es wird auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge auf Anweisung der Kultusbehörde experimentiert.

siehe auch: FAZ, 10.05.2013, Dr. Matthias Burchardt und Prof. Jochen Krautz, Neue „Lernkultur“ im Musterländle

siehe auch:  FAZ, 16.08.2015, Heike Schmoll, Studie zur Gemeinschaftsschule – Schwäbisches Himmelfahrtskommando
Ein Gutachten stellt dem Vorzeigeprojekt Gemeinschaftsschule ein vernichtendes Urteil aus. Vor allem das individuelle Lernen erweise sich als denkbar ineffektiv.

Kultusministerium argumentiert nicht in der Sache zur Gemeinschaftssschule

Kultusminister Andreas Stoch verklagt die FAZ

02. 09. 2015,  Andreas Müller

Kultusminister Stoch zieht gegen die „Frankfurter Allgemeine“ vor Gericht. Deren Behauptung, sein Haus halte ein „vernichtendes Gutachten“ zur Gemeinschaftsschule unter Verschluss, will er sich nicht gefallen lassen. Die Zeitung sieht keinen Grund für einen Widerruf.  (…)

Unter der Überschrift „Schwäbisches Himmelfahrtskommando“ berichtete Heike Schmoll (FAZ)  [siehe Artikel weiter unten] über ein angeblich „vernichtendes Gutachten“ zur Gemeinschaftsschule. Einer der Vorzeigeschulen, der Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen, hätten mit der Begleitforschung beauftragte Wissenschaftler denkbar schlechte Noten ausgestellt. Ob selbstständiges Lernen, Inklusion von Behinderten oder Bewertung der Schüler – an allen Ecken und Enden hapere es. Das grün-rote Lieblingsprojekt, so Schmolls Fazit, sei ziemlich unausgegoren.  (…)

Nicht an dieser – von Stoch und den Wissenschaftlern prompt relativierten – Bewertung entzündet sich nun der Streit, sondern an einem anderen Satz. Das Gutachten, behauptete die Autorin, werde „vom Kultusministerium bisher unter Verschluss gehalten.“ (…)

Laut FAZ fordert Kultusminister Stoch zudem eine Unterlassungserklärung, wonach die Behauptung nicht wiederholt werden dürfe.
Die Antwort aus Frankfurt war eindeutig. „Wir haben sämtliche geltend gemachte Ansprüche zurückgewiesen, da diese aus unserer Sicht nicht bestehen“  (…)

zum Artikel:  Stuttgarter-Zeitung, 02.09.2015, Andreas Müller, Kultusminister Andreas Stoch verklagt die FAZ


„Der Skandal besteht nicht darin, dass das Gutachten herausgekommen ist, sondern was herausgekommen ist“.

siehe Artikel:  Gemeinschaftsschule: “…den Beleg für die politischen Verheißungen bisher schuldig geblieben”

Gutachten: Beteiligte Wissenschaftler melden sich zu Wort

Gutachten zur Gemeinschaftsschule

Nach den Berichten um das negativ ausgefallene Gutachten zur Tübinger Geschwister-Scholl-Gemeinschaftsschule haben sich jetzt beteiligte Wissenschaftler zu Wort gemeldet.

zum Artikel:   Richtigstellung zum Artikel „Schwäbisches Himmelfahrtskommando“ in der FAZ vom 16.08.2015, durch das Forschungsprojekt „Wissenschaftliche Begleitung der Gemeinschaftsschulen Baden-Württemberg (WissGEm)“


Zu den Inhalten des Gutachtens, welches der Tübinger Schule, wie berichtet, unter anderem Ineffektivität bescheinigt hat, nahmen die vier unterzeichnenden Professoren keine Stellung. Sie verwahren sich aber dagegen, dass „ein solcher Bericht, der den Entwicklungsstand einer einzelnen Schule darstellt“, exemplarisch für die Praxis der 271 Gemeinschaftsschulen im Land interpretiert werden könne.

Gemeinschaftsschule: „…den Beleg für die politischen Verheißungen bisher schuldig geblieben“

Gemeinschaftsschule „Damit werden die Schüler betrogen“

Die Diskussion um Sinn oder Unsinn der Gemeinschaftsschule verschärft sich: Der Kölner Bildungsforscher und Pisa-Kritiker Matthias Burchardt wirft der Landesregierung massive Fehler vor.
27.08.2015, Frank Krause

Herr Burchardt, es hat zuletzt viel Wirbel um die Gemeinschaftsschule Tübingen gegeben, von der ein Gutachten besagt, dass sie längst nicht das bringt, was sich Grün-Rot von ihr erhofft. Wie schätzen Sie das ein?
Das Gutachten ist für erfahrene Lehrer und nachdenkliche Wissenschaftler keine besonders große Überraschung. Aber es ist hilfreich, dass mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung, also mit der Beobachtung durch Wissenschaftler vor Ort, nachgewiesen wird, dass bestimmte pädagogische Maßnahmen nicht so funktionieren, wie es der Öffentlichkeit versprochen wurde. (…)

Der Schulleiter hat die Kritik an dem Projekt Gemeinschaftsschule vehement zurückgewiesen, auch Kultusminister Stoch verwahrt sich gegen Vorwürfe. Wie ist Ihre Einschätzung?
Man muss genau schauen, was von den Erkenntnissen des Gutachtens nur die Situation in Tübingen betrifft, da sage ich ganz klar: Wer etwas Neues probiert, darf Fehler machen. Man kann aber auch sehen, welche grundsätzlichen Probleme es in dieser neuen Unterrichtsform gibt, was also zwangsläufig auch an anderen Gemeinschaftsschulen zu Problemen führen muss. Insofern halte ich aktuell die Strategie der Kultuspolitiker für fahrlässig, die Kritiker anzugreifen. Der Skandal besteht nicht darin, dass das Gutachten herausgekommen ist, sondern was herausgekommen ist.

Was ist aus Ihrer Sicht das zentrale Ergebnis?
Das Scheitern der neuen Lernkultur.

Im Klartext?
Lehrer und Schüler sind vielfach mit den neuen Lernformen überfordert. In dem Gutachten wird zum Beispiel geschildert, wie die Schüler weitgehend damit beschäftigt sind, Lernpakete abzuarbeiten. Das sind also kopierte Zettel oder Aufgaben, die man selbstständig und ohne Lehrer oder einen Mitschüler erledigt, das Ganze idealerweise in hohem Tempo. Die uns allen aus der eigenen Schulzeit vertraute Klassensituation, bei der ein Lehrer vorne steht und den Schülern etwas erklärt oder mit ihnen diskutiertet, so dass eine Gemeinschaftssituation entsteht, bildet nicht mehr den Kern des pädagogischen Handelns. Stattdessen ist jeder Schüler im Lernen isoliert. Der Lehrer kontrolliert nur, wie viele Aufgabenpakete erledigt wurden, aber nicht, was tatsächlich gelernt worden ist. Das Gutachten zeigt, dass die Lehrer es nicht mal geschafft haben, die inhaltlichen Fehler in den Lernpaketen zu korrigieren. Der Schüler weiß also nicht, ob er es richtig oder falsch gemacht hat.

Was ist die Konsequenz?
Aus meiner Sicht müsste dieser Irrweg unverzüglich aufgegeben werden. Das Gutachten schlägt dagegen vor, den Einsatz der neuen Lernkultur noch mehr zu verstärken. Aber es darf doch nicht darum gehen, mit allen Mitteln eine neue Methode zum Erfolg zu bringen, sondern den Kindern muss zum Erfolg verholfen werden. Das schafft man auf den bewährten Wegen des Schulsystems mit Sicherheit besser als auf diesen Pfaden in einer Gemeinschaftsschule. Die Politik müsste eingestehen, dass dieses System gescheitert ist und man zur traditionellen Form der Pädagogik zurückkehren muss. (…)

Was würden Sie als Eltern tun?
Ich wäre skeptisch gegenüber dem politischen Versprechen, dass die Gemeinschaftsschule das allein selig Machende ist. Allein die Tristesse des isolierten Arbeitens halte ich nicht für ein glückliches Schulklima. Ich würde mir deshalb als Eltern zweimal überlegen, ob ich mein Kind einem solch kalten System anvertraue, das den Beleg für seine politischen Verheißungen bislang schuldig geblieben ist.

zum Artikel:  Stuttgarter Nachrichten, 27.08.2015, Frank Krause, Gemeinschaftsschule „Damit werden die Schüler betrogen“

„Vernichtendes Gutachten über Gemeinschaftsschule“ in BW

Studie zur Gemeinschaftsschule
Schwäbisches Himmelfahrtskommando

Ein Gutachten stellt dem Vorzeigeprojekt Gemeinschaftsschule ein vernichtendes Urteil aus. Vor allem das individuelle Lernen erweise sich als denkbar ineffektiv.
16.08.2015, Heike Schmoll, Berlin

Die Gemeinschaftsschule ist das Vorzeigeprojekt der grün-roten Landesregierung in Stuttgart schlechthin. Sie soll nicht nur das gemeinsame Lernen ganz unterschiedlich begabter Schüler ermöglichen, sondern dient angesichts der sinkenden Schülerzahlen an vielen Orten des Flächenlandes Baden-Württemberg dazu, den Schulstandort zu sichern. Viele Gemeinschaftsschulen finden sich deshalb im ländlichen Raum, ganz gleich, welche Partei den Gemeinderat gerade regiert.
Nun wurde ein vernichtendes Gutachten über die Gemeinschaftsschule bekannt, das vom Kultusministerium bisher unter Verschluss gehalten wird, den Vermerk „nur intern verwenden“ trägt und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorliegt. Danach gelingt weder die neue Unterrichtsform des selbständigen Lernens mit Lehrern als Lernbegleitern noch die Inklusion oder die besondere Förderung der Schwächsten und Stärksten. Auch die Leistungsbeurteilung ist mehr als fragwürdig. In den Fremdsprachen kommt das Sprechen zu kurz. (…)

Selbst einer der entschiedensten Befürworter aus der Bildungsforschung, der Tübinger Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl, kritisiert inzwischen, dass die Gemeinschaftsschule nicht gut aufgestellt sei. Es gebe überhaupt noch keine Forschungen zum individuellen Lernen und nicht einmal einheitliches Unterrichtsmaterial. Die Gemeinschaftsschule gehört also zu den bildungspolitischen Himmelfahrtskommandos, die überstürzt eingeführt wurden. (…)

Mitarbeiter des Lehrstuhls Bohl haben im Rahmen einer alltagsnahen Begleitforschung (in einer zweiten Tranche soll eine Längsschnittbefragung folgen) jetzt die Arbeit der Tübinger Vorzeigeschule unter die Lupe genommen. Sie haben eine Inklusionsklasse mit 19 Schülern und eine weitere Lerngruppe mit 26 Schülern untersucht. Ausgerechnet das individuelle Lernen, das in der Gemeinschaftsschule bei den Kernfächern in zwei der vier Wochenstunden praktiziert werden soll, aber auch im Wahlpflichtbereich viel Raum einnimmt, hat sich als denkbar ineffektiv erwiesen. In Englisch, Deutsch und Mathematik arbeiten die Schüler an der Geschwister-Scholl-Schule ausschließlich ihre sogenannten Lernpakete ab, das sind Wochenarbeitspläne mit einem konkreten Pensum, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt sein muss. Offenbar werden dafür auch Unterrichtsstunden genutzt, die eigentlich gar nicht für das individuelle Arbeiten vorgesehen waren. Sie machen sich weder Gedanken über ihre Arbeitsstrategie, noch nehmen sie sich ein konkretes Pensum vor. Auch die Lehrer unterstützen in den Arbeitsphasen wenig. (…)

Während leistungsstärkere Schüler mit der Selbständigkeit gut umgehen können und auch Lernstrategien beherrschen, geraten die schwächeren noch mehr ins Hintertreffen als ohnehin schon. Den Lehrern fehlt der Überblick, welcher Schüler woran arbeitet, welche Fortschritte er macht und die Kontrolle der Ergebnisse kommt zu kurz. Wenn überhaupt, schauen die Lehrer nach Vollständigkeit, Orthographie, Grammatik und Seitenzahl, während „die inhaltliche Qualität der Schülerarbeiten hintangestellt wurde“. Und das an einer Schule, die derlei Lernmodelle schon seit langem praktiziert?

Fragwürdig ist in den Augen der Forscher auch die in Tübingen praktizierte Leistungsmessung. Schüler, deren Gesamtergebnis in der Klassenarbeit unter 40 Prozent liegt, können die Klassenarbeit in neu konzipierter Form wiederholen und das Ergebnis der schlechten Arbeit ersetzen. Doch eigentlich verbietet die Notenbildungsverordnung, dass bereits benotete Leistungsergebnisse gestrichen oder ersetzt werden. So müssten also beide Noten in die Gesamtbewertung einfließen. Hinzu kommt, dass die Benotung in unterschiedlichen Niveaustufen nach Angaben der Forscher zu wenig individuell ist und sich mit den Anforderungen der Bildungsstandards für die drei Schularten Gymnasium, Realschule, Hauptschule nicht deckt. Es wird auf diese Weise zwar annähernd ein Leistungsstand in einem Fach in der Bewertung abgebildet, aber keine Lernentwicklung. (…)

Positiv wird notiert, dass die Eltern einbezogen werden und das Kollegium motiviert und kritikfähig sei.

zum Artikel:  FAZ, 16.08.2015, Heike Schmoll, Studie zur Gemeinschaftsschule, Schwäbisches Himmelfahrtskommando

siehe auch:   Stuttgarter Zeitung, 17. 08. 2015, Renate Allgöwer, Gutachten für Tübinger Gemeinschaftsschule – Schlechte Noten für Gemeinschaftsschule


Die Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen ist eine von insgesamt zehn Gemeinschaftsschulen, die von der Universität Tübingen und den Pädagogischen Hochschulen Freiburg, Heidelberg und Weingarten seit dem Jahr 2013 begleitet werden. Der Abschlussbericht mit Grundsatzaussagen zu der neuen Schulart wird im Januar 2016 erwartet. Jede der zehn Starterschulen hat im November einen schulspezifischen Zwischenbericht erhalten. Bekannt wurde jetzt der Bericht der Geschwister-Scholl-Schule. Im Schulamt gilt sie als Vorzeigeeinrichtung. Es gibt im gesamten Bundesland z.Z. 271 Gemeinschaftsschulen.