Schulen in China – Totale Überwachung mit Künstlicher Intelligenz

Chinas Weg hin zur Nutzung der digitalen Überwachung in den Schulen

Tagesspiegel, 17.08.2019, Ning Wang

Kameras werden die neuen Lehrer in China. Sie studieren die Gesichtsausdrücke der Schüler während des Unterrichts ganz genau – abschreiben oder gar einschlafen wird hier keiner. Offiziell sollen die Daten, die gesammelt werden, Aufschluss darüber geben, ob und wie sich das Lernverhalten verändert. Was für Deutschland undenkbar wäre [?], ist Teil eines Plans, mithilfe künstlicher Intelligenz Chinas Schüler digital zu optimieren. Das Kamerasystem kann erkennen, ob Schüler interessiert sind, traurig, wütend oder gelangweilt. Es ist wie der Videobeweis beim Fußball: Ein Schiedsrichter bekommt nicht alles mit, auch ein Lehrer nicht – aber dank der Kameras soll er seine Schüler umfassender beurteilen können. Die Kontrolle ist künftig umfassend.

Bald werden „überall Sensoren unseren Alltag prägen und in unseren privatesten Bereich vordringen. Wir sollten uns darüber klar sein, dass sich dann ein wesentliches Prinzip umkehrt: Nicht mehr wir machen die Bilder, sondern wir werden von Bildern erfasst und gedeutet. Wenn dieser Strom aus visuellen Datenanalysen seinen Fokus auf uns richtet, werden es diese Bilder sein, die über uns bestimmen oder uns richten.“ Aus: Yogeshwar, Ranga, (2017): Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel, Kiepenheuer & Witsch, Köln, S. 284.

In China ist die digitale Rundumüberwachung und Verhaltenskontrolle der Bürger schon länger Alltag. Schon 2017 verkündete der Staatsrat einen „Entwicklungsplan für Künstliche Intelligenz der neuen Generation“, bis 2030 sollen demnach umgerechnet 150 Milliarden US-Dollar investiert werden. Viele Chinesen sind durchaus bereit, Überwachungskameras, Gesichtserkennung oder gar Zensur- und Spionage-Apps hinzunehmen, wenn das zu mehr Sicherheit führt. Im Mai wurde nun Guangzhou als Pilotregion für die Ausbildung im Fach Künstliche Intelligenz an den Schulen auserkoren. Es soll ab September an den Mittel- und Oberschulen gelehrt werden. Parallel dazu wird das Kamerasystem erprobt.

Die menschlichen Lehrer erfahren, was ihre Schüler lesen, was sie in der Kantine essen, wie aufmerksam oder müde sie sind und wie sie sich am Unterricht beteiligen. So hat etwa die Oberschule Nr. 11 in Hangzhou ein „intelligentes Verhaltensmanagementsystem für Klassenräume“ installiert, das die Ausdrücke und Bewegungen der Schüler erfasst und große Datenmengen analysiert. Das System identifiziert die Schüler auch in der Mensa per Gesichtsscan und regelt die Abbuchung des Geldes für das Essen.

Neben der Aufzeichnung schulischer Leistungen liefert die Datenerfassung so noch eine Analyse des Ernährungsverhaltens der Jungen und Mädchen. Eltern bekommen einen Überblick darüber, ob ihre Kinder nur noch Kohlenhydrate essen und Gemüse und Fisch oder Fleisch links liegen lassen, und vor allem, wie häufig sie zu Snacks und zuckerhaltigen Getränken greifen. Das sind Daten, die für die Hersteller von Fertignahrung oder Getränken von Interesse sein können.

Die Bundesregierung will „grundsätzlich auf einseitige, nationale Regulierungen verzichten, um die europaweite Umsetzung von digitalen Geschäftsmodellen zu erleichtern. Wir streben an, die Freizügigkeit von Daten als fünfte Dimension der Freizügigkeit zu verankern.Koalitionsvertrag, CDU, CSU und SPD, 12.03.2018, Zeile 2177

„Es wird alles digitalisiert werden, was digitaisiert werden kann. Wir bauchen ein positives Verhältnis zu Daten“. Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Wirtschaftstag des Wirtschaftsrates der CDU, 2015.

Zhang Guanchao, der stellvertretende Rektor der Oberschule, sieht sich in einer der Vorreiterrolle und ist stolz darauf, dass seine Schule zu den ersten gehört, die nicht nur Gesichtserkennung in den Schulklassen, in der Mensa und an den Getränkeautomaten einsetzen, sondern auf dem gesamten Schulgelände. Selbst in der Schulbibliothek werden die Bücher schon seit 2017 per Gesichtsscan ausgeliehen. Vonseiten der Eltern gab es jedoch durchaus Kritik, in den sozialen Netzwerken machte sich Unmut breit. Sie sahen ihre Kinder als Versuchskaninchen. „Technologien sollten uns dienen, nicht uns überwachen“, schrieb ein Nutzer. Zwischenzeitlich ist das System an der Musterschule in Hangzhou ausgesetzt worden.

Chinas Schulsystem setzt bis heute größtenteils auf Frontalunterricht und Auswendiglernen von Fakten, die bei der Abschlussprüfung, Gaokao genannt, abgefragt werden. Die Punktzahl entscheidet darüber, ob man an einer der führenden Elite-Unis oder den eher unbekannten Hochschulen studieren darf.

Digitales Lernen löst Frontalunterricht ab“ heißt es in der Smart City PR-Broschüre der Stadtwerke Arnsberg, NRW. Mehr entpersönlichter, isolierender Frontalunterricht geht nicht! Die Phraseologie, mit der die Digitalisierung propagiert wird, ist immer wieder erstaunlich. Mit Testergebnissen und Meinungsumfragen wird vermittelt, dass das bestehende Schulsystem verstaubt und marode noch in der Kreidezeit vegetiert, und deshalb nach den Geschäftsmodellen der IT-Branche reformiert werden müsse. Peter Hensinger u.a., Smart City- und 5G-Hype, pad-Verlag, 2019, S. 33

Aber die Curricula sind nun in Bewegung geraten – es scheint, als könne die KI-Nutzung im Unterricht und zur Kontrolle der Schüler nicht schnell genug gehen. […] Chinas Weg hin zur Nutzung der digitalen Überwachung in den Schulen scheint festzustehen.

Prof. Lankau stellt bei einem Vortrag vor Elternverbänden in NRW der derzeitigen Digitaleuphorie eine realistische und kritische Sichtweise gegenüber. Versprochen werde wachsende Freiheit und Erleichterung, ernten würden wir aber vor allem totale Überwachung und Steuerung. Im Bildungsbereich sei das besonders brisant: Lernende degenerierten zum umfassenden Datensatz, ihr Lernverhalten werde bis ins Kleinste erfasst und abgespeichert, Bildungsgüter automatentauglich zerhackt. Hingegen könne sich humane Bildung nur als offenes, beziehungsgestütztes Lernen vollziehen. Die empirische Unterrichtsforschung – nicht zuletzt die derzeit weltgrößte Metastudie von John Hattie – zeige denn auch keinerlei Verbesserung der Lernqualität durch Technologie. Es sei zu befürchten, dass der aktuell vieldiskutierte Digitalpakt versteckte Absichten verfolge:  nicht nur Lehrer durch Software zu ersetzen, Prüfungen zu automatisieren, Bildungsinhalte durch Konzerne statt durch Bürgervertreter zu steuern; auch unmerklich jede Regung unserer Kinder und Jugendlichen zu erfassen, abzuspeichern und profitmaximierend zu nutzen. Für die IT-Industrie winke jetzt ein riesiges Geschäft – und für viele andere Machtakteure demnächst die optimierte Steuerung. Unkontrollierte Digitalisierung sei die aktuelle Form der Gegenaufklärung. Siehe auch nebenstehende Bücherliste: Ralf Lankau, Kein Mensch lernt digital.

Grau unterlegte Einschübe, [Anmerkungen] und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Zum Artikel: Tagesspiegel, 18.08.2019, Ning Wang, Totale Überwachung in Chinas Schulen – Wenn Kameras jede Gesichtsregung auswerten