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Bildungsforschung John Hattie: Weniger Lehrplan, mehr Leidenschaft!

Kaum eine Studie aus der Bildungsforschung hat in den letzten 15 Jahren so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie die Hattie-Studie. Über zwei Millionen Mal wurde das zugehörige Buch „Visible Learning“ verkauft. Das Schulportal sprach mit dem neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie über die Schwächen des deutschen Schulsystems, Kompetenzen im KI-Zeitalter und darüber, warum viele Schulen die Ergebnisse seiner Studie missverstehen.

Alexander Brand, 28. Januar 2025

Schulportal: John Hattie, Sie haben bei Ihrem letzten Besuch in Deutschland deutliche Kritik am gegliederten Schulsystem geübt. Warum ist Ihnen das ein so wichtiges Anliegen?
John Hattie: Ich habe vor Kurzem eine Neuauflage meiner Forschungssynthese „Visible Learning“ [siehe Bücherliste] veröffentlicht. Eine der wichtigsten Erkenntnisse im Vergleich zur Erstauflage vor 15 Jahren war, dass jegliche Art von dauerhafter Gruppierung in Schulen im Durchschnitt keinen Effekt hat. Das zeigen die Metaanalysen. Es macht also unterm Strich keinen Unterschied, ob die Kinder getrennt oder gemeinsam lernen.

Warum dann die Kritik?
Mir geht es um die Gerechtigkeitsfrage. Natürlich haben mir bei meinem Besuch in Deutschland viele Leute gesagt, dass Schülerinnen und Schüler auch die Schulform wechseln können. Aber wenn ein Kind jahrelang nicht mit einem Gymnasiallehrplan in Berührung kommt, ist es fast unmöglich, diese Lücke später zu schließen. Das System nimmt den Kindern diese Chance. Das dient nicht unserer Gesellschaft oder unserer Demokratie. Natürlich mögen Lehrkräfte weniger heterogene Klassen. Sie erleichtern uns die Arbeit. Aber die Schule ist nicht für die Lehrkräfte da. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, wo das Talent steckt – auch wenn es sich erst später zeigt. Wir müssen das Beste aus jedem Kind herausholen.

Wie sollten Schulen in Deutschland stattdessen mit Heterogenität umgehen?
So wie praktisch jedes andere Land der Welt damit umgeht! Ich will nicht so tun, als wäre das einfach, aber das ist die Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Wir wissen zum Beispiel, dass Peer-Tutoring, also die gegenseitige Unterstützung von Schülerinnen und Schülern, den größten Effekt auf die Person hat, die unterstützt. Wir wissen auch, dass Schülerinnen und Schüler beim kooperativen Lernen bestimmte Kompetenzen brauchen, um mit Heterogenität umzugehen. Diese werden aber in unseren Schulen in der Regel nicht vermittelt. In 60 bis 80 Prozent der Schulzeit vermitteln wir Faktenwissen. Auch unsere Prüfungen belohnen Faktenwissen.

Wie viel Fachwissen sollte Schule noch vermitteln?
Ich werde oft gefragt, wenn ich um die Welt reise, ob ich in Ausschüssen zur Reform des Lehrplans mitarbeiten würde, und ich habe eine feste Regel: Ich sage, ich komme gerne, solange dem Ausschuss erlaubt ist, die Hälfte des Lehrplans zu streichen. Ich weiß nicht, wie der deutsche Lehrplan aussieht, aber der australische Lehrplan ist ausgedruckt 3.500 Seiten lang. Das ist Unsinn. Der Lehrplan in Neuseeland war, als ich 2011 ging, für jedes Fach, für jede Jahrgangsstufe 39 Seiten lang. Heute ist er auf 76 Seiten angewachsen. Wir brauchen keinen Lehrplan mit 3.000 Seiten!

Manche behaupten, in Zeiten von Google und Co. brauche es gar kein Faktenwissen mehr.
Nein, dem stimme ich nicht zu! Ohne Fachwissen kann man keine Probleme lösen. Wissen und Kompetenzen sind keine Gegensätze. Es ist kein Entweder-oder. Ich habe vor ein paar Wochen mit neun Koautoren ein Buch veröffentlicht, in dem wir argumentieren, dass es eine Balance von Wissen und Kompetenzen braucht. Wenn man sich die meisten Lehrpläne auf der Welt anschaut, dann sprechen sie alle von Kompetenzen oder Problemlösung. Aber was wird tatsächlich unterrichtet, was wird bewertet? Wissen. Ich möchte, dass Kinder eine tiefe Leidenschaft entwickeln können. Wenn wir den Stoff in den Lehrplänen reduzieren, dann gibt das den Schulen die Freiheit, die Themen zu behandeln, die die Schülerinnen und Schüler interessieren und die sie dann vertiefen können.

Studien zeigen, dass sich Schülerinnen und Schüler in Deutschland in etwa 30 Prozent der Unterrichtszeit langweilen. Müsste Schule stärker auf forschendes, projektbasiertes und entdeckendes Lernen setzen?
Das größte soziale und emotionale Problem in unseren Schulen ist eindeutig Langeweile, aber problembasiertes oder forschendes Lernen ist die falsche Antwort. Oder anders gesagt: Die Idee hinter solchen Unterrichtsmethoden ist gut, aber sie werden oft zum falschen Zeitpunkt eingeführt. Wenn wir uns die Forschung zu problembasiertem Lernen, forschendem Lernen oder entdeckendem Lernen anschauen, stellen wir fest, dass die Effektstärken sehr gering sind – weil sie oft zu früh eingesetzt werden. Wenn Kinder nicht über das nötige Wissen verfügen, um in problembasiertes Lernen einzusteigen, wird es eine Katastrophe.

Es gibt den richtigen Zeitpunkt für direkte Instruktion und Faktenwissen und den richtigen Zeitpunkt für problemorientiertes Lernen. Der Fehler vieler Schulen ist, dass sie bei einem Problem sofort eine Entweder-oder-Lösung sehen. Es geht darum, den richtigen Zeitpunkt zu finden, wann welche Methode sinnvoll ist. Dieses Pendeln zwischen Extremen – erst nur das eine, dann nur das andere – bringt uns nicht weiter.

Viele Lehrkräfte schätzen die Klarheit der von Ihnen ermittelten Effektstärken für Unterrichtspraktiken. Was wirkt, was wirkt nicht? Jetzt sagen Sie ja: So einfach ist das nicht.
Als ich meine Studie zum ersten Mal veröffentlichte, habe ich eine Rangliste der wirksamen Interventionen erstellt. Seit etwa acht Jahren verwende ich sie nicht mehr, und zwar genau aus dem Grund, den Sie nennen. Natürlich möchte ich, dass Lehrkräfte evidenzbasierte, erfolgversprechende Interventionen wählen. Aber es kommt darauf an, wie sie diese umsetzen. Nehmen Sie etwa die Methode „Lernen durch Lehren“, die eine sehr hohe Effektstärke hat. Wenn sie aber schlecht umgesetzt wird, wird sie keinen Effekt haben. Ich bereue es nicht, diese Rangliste erstellt zu haben, weil sie viel Aufmerksamkeit erregt hat, und die Leute haben angefangen, über diese Themen zu sprechen. Aber sie haben oft die Nuancen übersehen.

Gibt es andere Nuancen Ihrer Forschung, die in der Bildungslandschaft übersehen wurden?
Ja, die Bedeutung von geringen Effektstärken! Nehmen wir die Hausaufgaben in der Grundschule. Manche denken, weil sie eine niedrige Effektstärke haben, seien sie unwichtig. Viele Schulen haben Hausaufgaben aufgrund meiner Forschung abgeschafft. Aber das ist falsch. Eine geringe Effektstärke bedeutet zunächst nur, dass wir noch nicht die richtige Umsetzung gefunden haben. Hausaufgaben haben etwa in der Sekundarstufe einen viel größeren Effekt. Der Unterschied ist, dass Hausaufgaben in der Sekundarstufe meist das Üben dessen beinhalten, was schon gelernt wurde. In der Grundschule sind es eher Projekte oder Aufgaben, bei denen die Eltern stark involviert sind, was den Effekt negativ beeinflusst. Es geht also nicht darum, Hausaufgaben abzuschaffen, sondern darum, die Art der Aufgaben zu überdenken.

Auch der Einsatz digitaler Medien im Unterricht schneidet in Ihrer Forschungssynthese nicht besonders gut ab.
Seit 1976 ist Technologie im Bildungsbereich präsent, aber die Effektgrößen sind durchweg klein geblieben. Warum ist das so? Der Bildungsforscher Larry Cuban und andere argumentieren, dass Lehrkräfte Technik vor allem zur Effizienzsteigerung nutzen: Tablet statt Arbeitsblatt, Lehrvideo statt Demonstration. Das ist an sich kein Problem, aber die Art und Wiese, wie sie unterrichten, hat sich dadurch nicht grundlegend verändert.

Laufen wir jetzt beim Einsatz künstlicher Intelligenz Gefahr, einen ähnlichen Fehler zu machen?
Künstliche Intelligenz ist die größte Veränderung in meinem Leben, aber die Schulen werden die Letzten sein, die sich damit befassen. Wir sind sehr widerstandsfähig. Bei meinem Besuch in Berlin habe ich mich mit Bildungsministerinnen und -ministern sowie KI-Experten aus ganz Europa getroffen. Und ich war fast den Tränen nahe: Alles, worüber sie sprachen, waren die Apps, die sie entwickeln. Es gibt bereits über 200.000 Apps für Lehrkräfte. Aber sie werden nicht genutzt. Mehr Apps allein reichen nicht aus, um das Potenzial von KI auszuschöpfen. Wir müssen aufhören, nur über die großartigen Dinge zu sprechen, die KI für uns tun kann, und anfangen, darüber zu diskutieren, welche Fähigkeiten Lehrkräfte und Lernende benötigen, um KI sinnvoll zu nutzen.

Und die wären?
Ich arbeite noch an einer Liste. Aber das Erste, was man lernen muss, ist, gute Fragen zu stellen – sonst gibt die KI nur schlechte Antworten. Doch den Schülerinnen und Schülern wird derzeit nicht beigebracht, wie man Fragen stellt. Untersuchungen zeigen, dass Lehrkräfte täglich 200 bis 300 Fragen stellen, die mit weniger als drei Wörtern beantwortet werden können. Eine Schulklasse stellt pro Tag nur etwa zwei Fragen zu Dingen, die sie nicht versteht. Wohl gemerkt, nicht ein Schüler, sondern eine ganze Klasse stellt nur zwei Fragen pro Tag!

Zweitens: Qualitätskontrolle. In fast allen Klassenzimmern der Welt liegt die Qualitätskontrolle – also die Frage, ob eine Aussage richtig oder gut genug ist – in den Händen der Lehrkraft. Aber Schülerinnen und Schüler müssen lernen, die Antworten der künstlichen Intelligenz zu überprüfen. Mein Punkt ist, dass die Kompetenzen, die für die erfolgreiche Nutzung von KI erforderlich sind – wie Urteilsvermögen –, nicht die Kompetenzen sind, die wir derzeit vermitteln. Das ist die Debatte, die wir führen sollten.

Siehe auch: „So viel Potential geht verloren“, Hattie in einem Interview mit dem Online-Magazin Schulmanagement.

„So viel Potenzial geht verloren”

Im exklusiven Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement erklärt Professor John Hattie, Bildungsforscher und Speaker beim 1. Schulleitungssymposium Baden-Württemberg in Heilbronn am 11. November 2024, auf was es wirklich ankommt bei erfolgreichem Unterricht – und warum das deutsche Schulsystem so viel Potenzial vergeudet.

Hattie hat Daten von 400 Millionen Schülern und Beobachtungen aus 20.000 Unterrichtsstunden analysiert. „Wie oft hat ein Lehrer einen Schüler aufgefordert, laut zu denken? Die Antwort war: nie.“ Leidenschaftlich erinnert er daran, dass es die Aufgabe der Schule ist, Schülerinnen und Schüler für das Lernen zu begeistern.

Redaktion: Herr Professor Hattie, in “Visible Learning: The Sequel” betonen Sie, dass die Qualität der Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen einen größeren Einfluss auf die Lernergebnisse hat als spezifische Lehrmethoden. Wie können Lehrkräfte, insbesondere angesichts von Lehrkräftemangel und der daraus resultierenden Überlastung, sicherstellen, dass sie qualitativ hochwertige Interaktionen aufrechterhalten, um das individuelle Lernen von Schüler:innen zu unterstützen?

Prof. Dr. John Hattie: Die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen sowie zwischen den Schüler:innen untereinander sind von entscheidender Bedeutung, da sie ein Umfeld fördern, in dem Fehler und Unwissenheit willkommen sind. Ausschlaggebend ist es, qualitativ hochwertige Interaktionen zu pflegen, die die Botschaft vermitteln: Lernen ist nicht immer einfach. Es geht darum, Selbstvertrauen zu vermitteln, um Herausforderungen überwinden und das Unbekannte erforschen zu können. Dieser Ansatz ermutigt die Schülerinnen und Schüler, laut zu denken, Fragen über ihr Lernen zu stellen und motiviert zu bleiben, um die Erfolgskriterien der Unterrichtsstunde zu erfüllen. Der Schlüssel zur Vermeidung von Überlastung besteht darin, kontinuierlich zu beobachten, wie der Unterricht sich auswirkt. Indem man bewertet, welche Lehrkräfteinputs, welches Feedback und welche Interaktionen tatsächlich einen Unterschied machen – und diejenigen reduziert, die das nicht tun – konzentriert man sich auf die Wirkung und nicht auf die Quantität. 

Redaktion: Sie haben häufig betont, dass die Einstellung einer Lehrkraft – also, wie sie über Lehren und Lernen denkt – wichtiger ist als spezifische Lehrstrategien. Welche Schritte können Schulen und die Lehrkräftebildung unternehmen, um Lehrkräften zu helfen, diese wirkungsvollen Denkrahmen zu entwickeln?

Hattie: Es geht weniger darum, was Lehrkräfte tun, sondern vielmehr darum, wie sie über die Auswirkungen ihres Handelns denken. Wir haben mehrere wirkungsvolle Ansätze für den Unterricht identifiziert, darunter auch die Haltung: „Ich glaube, dass meine Rolle in dieser Klasse darin besteht, meine Wirkung zu bewerten.” Bei dieser Denkweise werden drei wichtige Fragen zum Einfluss der Lehrkräfte gestellt: Was habe ich gut unterrichtet, und was nicht? Wen habe ich gut unterrichtet und wen nicht? Und wie sehr hat sich das Lernen der Schüler:innen verbessert? Im Wesentlichen geht es also um das Was, das Wer und das Wieviel. Durch berufliche Weiterbildungen können wir diese Denkweisen umreißen, bestimmte Überzeugungen und Glaubenssätze neu formulieren und ihre Auswirkungen auf das Lernen der Schüler:innen aufzeigen. Zum Beispiel schaffen Lehrer:innen, die hohe Erwartungen haben, eine deutlich andere Unterrichtsatmosphäre und Lernergebnisse als diejenigen mit niedrigen Erwartungen. Es sind die Erwartungen, die diese Unterschiede bewirken.

Redaktion: In Deutschland wird viel über soziale Ungleichheit im Bildungssystem diskutiert, insbesondere hinsichtlich der frühen Selektion in unterschiedliche Schulzweige. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kinder aus privilegierten Verhältnissen eine signifikant höhere Chance haben, höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen. Wie bewerten Sie mit Ihrer langjährigen Expertise in der Bildungsforschung die Situation?

Hattie: Es gibt kaum Belege dafür, dass die Aufteilung von Schüler:innen in verschiedene Leistungsgruppen etwas anderes ist als ungerecht und von begrenztem Nutzen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der deutschen Bundesbildungsministerin, in dem ich über das deutsche Auswahlsystem befragt wurde. Ich sagte, ich sei beeindruckt, wie sie die Zukunft eines 30 Jahre alten Menschen vorhersagen könne, wenn er oder sie gerade einmal 11 Jahre ist. Dieses System führt dazu, dass so viel Potenzial verloren geht, weil es den Schüler:innen  den Zugang zu einem reichhaltigen, anspruchsvollen Lehrplan verwehrt, sie daran hindert, mit Gleichaltrigen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zu lernen – ein Skill, den sie ihr ganzes Erwachsenenleben lang brauchen werden! Und es erstickt die Fähigkeit, sich an Variabilität anzupassen, im Keim. Stattdessen brauchen wir Systeme, die auf Chancengleichheit ausgerichtet sind, in denen die Schüler:innen Unterschiede akzeptieren und aus verschiedenen Perspektiven lernen können, und in denen Spätzünder:innen nicht zurückgelassen werden. Da sich die Adoleszenz bis zum Alter von 27 Jahren hinzieht, werden viele Menschen mehrere Karrierewege und Chancen haben, mit anderen zusammenzuarbeiten. Aber diese Möglichkeiten sind begrenzt, wenn ihre Zukunft im Alter von 11 Jahren vorbestimmt ist.

Redaktion: In Ihrer Studie betonen Sie, wie wichtig es ist, ein Lernumfeld zu fördern, in dem Fehler als Chance für Wachstum gesehen werden. Wie können Schulen diese gesunde Fehlerkultur fördern?

Hattie: Zunächst ist es entscheidend, ein Umfeld mit hohem Vertrauen und Sicherheit zu schaffen, in dem Schülerinnen und Schüler sich ermutigt fühlen, zuzugeben, was sie nicht wissen, einschließlich ihrer Missverständnisse und Fehler. Schulen sollten Orte sein, an denen es in Ordnung ist, etwas nicht zu wissen, und an denen man sich traut, Herausforderungen anzugehen. Wie bereits eingangs erwähnt: Sowohl die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern als auch zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander sind von entscheidender Bedeutung, denn sie fördern ein Klima, in dem Nichtwissen willkommen ist. Lehrkräfte können dies vorleben, indem sie selbst offen Fehler zugeben und korrigieren. Wir können Schülerinnen und Schüler einladen, Fehler bereits vor dem Unterricht zu identifizieren. Wir können sie dazu auffordern, sich selbst einzuschätzen, um zu sehen, was sie bereits wissen und was nicht. Wir können Beispiele mit absichtlichen Fehlern präsentieren und die Schülerinnen und Schüler bitten, diese ausfindig zu machen und zu verstehen, oder Fehler gezielt durch zusätzliche Herausforderungen in Lernaufgaben provozieren. Dieser Fokus auf Fehler verbessert nicht nur die Problemlösungsfähigkeiten, sondern auch die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, Wissen zu transferieren.

Redaktion: Ein wichtiger Aspekt Ihrer Arbeit ist die Rolle des Feedbacks im Unterricht. Wie würden Sie gutes Feedback definieren, und wie kann es effektiver gestaltet werden, um das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu maximieren?

Hattie: Wirksames Feedback ist solches, das gehört, verstanden und umgesetzt wird. Allzu oft konzentrieren wir uns auf das Feedback der Lehrkraft – Quantität, Qualität, Zeitpunkt –, während der eigentliche Schwerpunkt auf dem Feedback liegen sollte, das die Schülerinnen und Schüler erhalten. Schülerinnen und Schüler streben nach Feedback, durch das sie besser werden, daher müssen wir der Anleitung zum nächsten Schritt Vorrang einräumen. Es ist wichtig, darauf zu achten, wie die Schülerinnen und Schüler dieses Feedback aufnehmen, interpretieren und nutzen. Feedback ist auch dann am effektivsten, wenn es Fehler anspricht – weshalb eine vertrauensvolle, sichere Unterrichtsumgebung von essenzieller Bedeutung ist. Schülerinnen und Schüler müssen sich wohl fühlen, so dass sie ihre Missverständnisse, Fehler und Unsicherheiten zugeben können. Nur so kann Feedback tatsächlich seine Wirkung entfalten.

Redaktion: Herr Professor Hattie, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Siehe:  https://www.campus-schulmanagement.de/magazin/deutsches-bildungssystem-john-hattie-schulleitungssymposium-baden-wuerttemberg-heilbronn

Siehe auch: FAZ, 30.11.2024, Fokus auf das Lernen statt auf das Lehren, von Heike Schmoll. https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/langeweile-im-unterricht-die-lust-am-lernen-wird-schuelern-schon-frueh-abgewoehnt-110123306.html

Siehe auch: Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht. Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion, Miriam Lotz & Frank Lipowsky, https://www.frank-lipowsky.de/wp-content/uploads/Lotz-Lipowsky_Hattie-Unterricht.pdf

Zur Person

John Hattie ist emeritierter Professor an der Graduate School of Education der Universität von Melbourne, Australien. Der gebürtige Neuseeländer befasst sich vor allem mit Einflussfaktoren auf Lernerfolg und gilt als Verfechter evidenzbasierter Forschungsmethoden. Weltweit bekannt wurde John Hattie durch seine umfassende Metaanalyse vorliegender Forschungsarbeiten, aus denen er ableitete, welche Faktoren für den Lernerfolg in der Schule maßgeblich sind. Durch sein 2009 erstmals erschienenes Buch „Visible Learning“ fanden seine Thesen international Beachtung und Anerkennung.

Siehe auch weitere Beiträge von John Hattie auf Schulforum-Berlin

Generation Angst

Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen.

Jonathan Haidt, 2024, Rowohlt Verlag

Aber selbst wenn Schüler ihre Mobiltelefone einmal nicht checken, beeinträchtigt allein schon deren Präsenz  ihr Denkvermögen. (S. 164f)

Die visuell orientierten Plattformen gründen allesamt auf dem von Facebook entwickelten Geschäftsmodell: Maximierung der auf der Plattform verbrachten Zeit, um die Extraktion von Daten und den Wert der Nutzer für die Inserenten zu maximieren. (S. 191)

Warum behandelt jemand seine Kunden so? Weil die Nutzerinnen und Nutzer für die meisten Social-Media-Unternehmen gar nicht wirklich die Kunden sind. Wenn Plattformen freien Zugang zu Informationen oder Dienstleistungen anbieten, dann meist deshalb, weil die Nutzer das Produkt sind. Ihre Aufmerksamkeit ist eine kostbare Substanz, die extrahiert und an die zahlende Kundschaft verkauft wird – die Werbekunden. Die Unternehmen konkurrieren untereinander um die Aufmerksamkeit und tun – wie Spielkasinos – alles, um ihre Nutzer an sie zu binden, selbst wenn sie ihnen dabei schaden. (S. 282f)

Das auf Werbung basierende Geschäftsmodell macht die Nutzer zum Produkt, das an den Haken genommen und eingeholt werden soll.

Jüngere Nutzerinnen und Nutzer sind besonders wertvoll, weil man Gewohnheiten, die man sich schon früh zulegt, oft lebenslang beibehält; die Unternehmen brauchen sie also, um die Nutzung ihrer Angebote auch in Zukunft sicherzustellen. (S. 285f)

Smartphonefreie Schulen

Als Shane Voss die Leitung der Mountain Middle School in Durango, Colorado, übernahm, litten die Schüler und Schülerinnen „unter heftigem Cybermobbing, Schlafmangel und ständigen sozialen Vergleichen“. Voss ordnete in der Schule ein Smartphoneverbot an. 76 Prozent der öffentlichen Schulen in den Vereinigten Staaten, gaben bei einer Umfrage im Jahr 2020 an, dass sie den Gebrauch von Smartphones während des Unterrichts untersagen.
Die Belege dafür, dass Smartphones in der Nähe der Schüler (Schultasche, Hosentasche…) das Lernen beeinträchtigen, sind heute so eindeutig, dass die UNESCO, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, im August 2023 einen Bericht herausgab, der sich mit den negativen Auswirkungen von digitalen Technologien, insbesondere Smartphones, auf die Bildung in aller Welt beschäftigt. Siehe dazu: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/unesco-bericht-zu-it-in-schulen-fordert-mehr-bildungsgerechtigkeit.html

Der Bericht weist darauf hin, dass es erstaunlich wenige Belege dafür gibt, dass digitale Techniken das Lernen in einem typischen Klassenzimmer verbessern. Angemerkt wird zudem, dass der Gebrauch von Smartphones mit einem verminderten Lernerfolg und vermehrten Störungen in der Klasse einhergeht. (S. 308ff)

Die Smartphones der Schüler stecken voller Apps, die dafür konzipiert sind, die Aufmerksamkeit junger Menschen zu erregen und diese mit Benachrichtigung-Pings aus dem Klassenzimmer in die virtuelle Welt zu locken. Das ist der größte Störfaktor für Lernen und Beziehungen. (S. 311)

[D]as was sie [z.B. Eltern] tun, hat viel mehr Wirkung als das, was sie sagen; achten sie also auf ihren eigenen Umgang mit dem Smartphone. Seien sie ein Vorbild, das seine Aufmerksamkeit nicht ständig zwischen dem Smartphone und dem Kind aufteilt. (S. 333)

Kinder gedeihen, wenn sie in Gemeinschaften der wirklichen Welt verwurzelt sind, nicht in körperlosen virtuellen Netzwerken. Das Aufwachsen in der virtuellen Welt fördert Angst, Anomie und Einsamkeit. Die große Neuverdrahtung der Kindheit von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit war ein katastrophaler Fehler.

Es ist Zeit, das Experiment zu beenden. (S. 361)

Textauswahl aus „Generation Angst“ durch Schulforum- Berlin

Weitere Artikel von Johnathan Haidt: https://jonathanhaidt.com/articles/

Siehe auch: FAZ, 18.09.2024, „Depressionen sind Teil der Kindheit geworden“. Zach Rausch hat sich ausführlich damit befasst, wie soziale Medien und Smartphones auf Kinder und Jugendliche wirken. Seine Befunde sind alarmierend.

Ein Grundgesetz für Lehrer?

In der letzten Zeit haben wir einiges über unser Grundgesetz gehört. Seit 75 Jahren gibt es dem Zusammenleben der Menschen in Deutschland eine rechtliche Grundlage, nicht in den Details, aber in den grundlegenden Zügen. Es gilt für alle hier Lebenden, nicht zuletzt auch für Lehrer. Aber für diese müsste man es eigentlich noch ein wenig spezifizieren. Denn Lehrer haben ja in besonderer Weise mit unserem Gemeinwesen und unserer Zukunft zu tun – wir vertrauen ihnen immerhin unsere Jugend an.

Gastbeitrag von Michael Felten

Die Lehrerinnen und Lehrer unserer Kinder sind recht unterschiedliche Typen, das ist erstens nicht zu ändern und zweitens gar nicht so übel. Denn auf diese Weise lernen Heranwachsende, mit der Verschiedenheit von Menschen zurecht zu kommen. Zudem ist unser Bildungswesen föderal strukturiert, Lehrer in Bayern und Lehrer in Bremen handeln also nicht nach exakt gleichen Devisen. Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass es – neben den Richtlinien und Dienstordnungen der Länder – einige Basisregeln der pädagogischen Zunft geben sollte. Nur sind diese nirgendwo aufgeschrieben – wohlan, ein Versuch sei gewagt.

Artikel 1: Lehrkräfte sind pädagogische Führungsfiguren.

Lehrerinnen und Lehrer sind weder beste Freunde noch Offiziere. Sie müssen vielmehr die Kunst beherrschen, gleich und ungleich zugleich mit jungen Menschen umzugehen. Sie müssen sich einerseits in kindliches Denken und Empfinden sensibel einfühlen, andererseits aber auch unerschrocken die Richtung weisen und Beurteilungen aussprechen können.

Artikel 2: Skepsis ist eine der wichtigsten Eigenschaften von Lehrkräften.

Denn sie arbeiten in einer Art Bermuda-Dreieck: Schüler wollen möglichst wenig Hausaufgaben machen, Eltern wollen für ihr Kind zumindest das Abitur, und das Bildungsministerium will vor der Wahl dieses und nachher jenes. Lehrkräfte sollten deshalb innerlich unabhängige und kritische Personen sein, denn sie müssen denjenigen Weg finden, den sie für ihre jeweilige Lerngruppe und ihre speziellen Schüler verantworten können.

Artikel 3: Es gibt viele Möglichkeiten, lernwirksam zu unterrichten.

Das hört sich banal an, ist es aber nicht. Vielerorts galt lange Zeit die Parole, es gebe eine allein seligmachende Lehr-Lern-Methode, etwa das selbstorganisierte, eigenverantwortliche Lernen von Schülern. Die Forschung hat das widerlegt, einzelne Autoritäten haben dies auch eingestanden – aber die Lehrkräfte im Lande sollten auch davon wissen. Überhaupt sollten sie sich auf dem Laufenden darüber halten, was die Forschung darüber weiß, welche Wege eher nach Rom führen – und welche eher nicht. Entscheidend darf nicht sein, ob eine Methode einen wohlklingenden Namen hat oder gut aussieht. Sondern ob die Lernprozesse der Schüler nachhaltig, ob sie tiefenwirksam sind.

Artikel 4: Menschen sind wichtiger als Zahlen.

Neuerdings wird ja all unser Tun vermessen – und gewiss, auch im Bildungswesen liefert Evaluation interessante Daten. Aber Kennwerte sind in Schule lange nicht alles. Unterricht ist ganz wesentlich Beziehungssache, ein emotional grundierter Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden. Er funktioniert anders als die Abläufe in einer Brötchenbackstraße, lässt sich höchstens ansatzweise in der Sprache der Ökonomie beschreiben, wird durch Begriffe wie Output oder Income letztlich nicht erfasst.

Artikel 5: Bildung für morgen geschieht an Gegenständen im heute.

Allenthalben hört man, die Schule müsse völlig umgekrempelt werden – für das 21. Jahrhundert mit seiner Unsicherheit und Komplexität brauche es ganz neue Kompetenzen. Bildung könne deshalb nicht länger Wissenserwerb sein, vielmehr gehörten Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken und Kommunikation auf die Agenda. Nun, das waren natürlich immer schon ungemein wichtige Fähigkeiten – nur lassen sich diese nicht im Trockendock erwerben, sondern gerade im Rahmen von fachlichem Lernen.

Ohnehin war die Zukunft auch für frühere Generationen vor allem eines: ungewiss. Ernsthafte und anspruchsvolle Bildung in einer historisch reflektierten Gegenwart, das war immer schon das Beste, was eine Gesellschaft ihrer Jugend mitgeben konnte.

Der Autor, Michael Felten, Jg. 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst unterrichtet, ist Autor von Sachbüchern und Unterrichtsmaterialien, arbeitet als freier Lehrerweiterbildner, Human Award 2014 der Uni Köln, www.eltern-lehrer-fragen.de

Der Beitrag erschien zuerst bei News4Teacher (5.6.2024), mit Lesermeinungen.

Die Bedeutung des Lehrers

Die Physikerin und Nobelpreisträgerin Anne l´Huillier berichtet in einem Interview im Tagesspiegel vom 26.3.2024 zum Thema: „Eine Frauenquote erzeugt nicht automatisch Gerechtigkeit“ über Vorurteile, Vorbilder und die ungewollten Konsequenzen positiver Diskriminierung. Zum Thema „Vorbilder“ zwei Fragen und die Antworten aus dem Interview:

Wer hat Ihnen Physik beigebracht?

Ich hatte in verschiedenen Phasen meines Lebens gute Lehrer, die eine große Rolle gespielt haben. Im letzten Jahr des Gymnasiums hatte ich eine sehr gute Lehrerin in Mathematik. Und dann hatte ich gegen Ende meines Studiums gute Dozenten in Atomphysik, wegen derer ich überhaupt erst in mein Forschungsgebiet gegangen bin. Das waren Claude Cohen-Tannoudji und Serge Haroche, beide haben später Nobelpreise bekommen. Sie waren hervorragende Lehrer, die das Fach wirklich interessant machten und mich inspirierten, mehr erfahren zu wollen.

Es gab in Deutschland nach der letzten Pisa-Studie eine große Diskussion darüber, warum es vielen Lehrern nicht gelingt, Schüler mitzureißen und zu begeistern. Was hat die Menschen, die Sie geprägt haben, zu guten Lehrern gemacht?

Ihr Enthusiasmus. Als ich hier in Lund zur Professorin ernannt wurde, habe ich in meiner Antrittsrede gesagt:

Man lehrt nicht was man weiß, sondern was man ist. Der Grundgedanke ist, dass nichts den Lehrer als Person ersetzen kann. Man kann nicht auf dieselbe Weise unterrichten, indem man auf einen Computer schaut, sondern man muss mit einer Person sprechen. Und diese Person lehrt viel mehr als nur das Fach, sondern auch ihre Persönlichkeit, die die Schüler beeinflusst.

Aus: https://www.tagesspiegel.de/wissen/physik-nobelpreistragerin-anne-lhuillier-eine-frauenquote-erzeugt-nicht-automatisch-gerechtigkeit-11217106.html

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms? Summary.

Aus der deutschen Übersetzung der deutschen UNESCO-Kommission einige Kernaussagen mit Schwerpunkt „Digitale Medien in der Bildung“:

Es gibt einen Mangel an guten, unvoreingenommenen Erkenntnissen über die Auswirkungen von digitalen Medien in der Bildung.

  • Es gibt wenige belastbare Belege für den Mehrwert von digitalen Medien in der Bildung. Die Technologie entwickelt sich schneller, als wir sie evaluieren können: Produkte aus dem Bereich der Bildungstechnologien ändern sich im Durchschnitt alle 36 Monate. Der Großteil der Erkenntnisse stammt aus den reichsten Ländern. Im Vereinigten Königreich haben 7 % der Unternehmen für Bildungstechnologien randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, und 12 % nutzten eine externe Zertifizierung. Eine Umfrage unter Lehrkräften und Schulverwaltungen in 17 US-Bundesstaaten ergab, dass nur 11 % von ihnen vor der Einführung nach einer von Fachleuten geprüften Bewertung fragten. (S. 1)
  • Ein Großteil der Studien stammt von den Anbietern, die die Produkte verkaufen wollen. Pearson [der weltweit größte Bildungskonzern und Buchverlag, zudem Marktführer für Bildungsmedien in Großbritannien, Indien, Australien und Neuseeland, zugleich die zweitgrößte Verlagsgruppe in den USA und Kanada] finanzierte eigene Studien und bestritt unabhängige Untersuchungsergebnisse, wonach die Produkte des Unternehmens keine Effekte zeigten. (S. 1)

Kurz gesagt: Wir verfügen zwar über viele allgemeine Forschungsarbeiten zum Lernen mit digitalen Medien. Der Umfang der Forschung zu konkreten Anwendungen und Rahmenbedingungen ist jedoch unzureichend, sodass es schwierig ist, nachzuweisen, dass eine bestimmte Technologie eine bestimmte Art des Lernens fördert. (S. 7)

Warum entsteht dennoch häufig der Eindruck, dass digitale Medien die Antworten auf die großen Herausforderungen im Bildungsbereich bieten könnten?

Um den Diskurs über digitale Medien in der Bildung zu verstehen, ist es wichtig, dass wir die Sprache, mit der sie beworben werden, und die Interessen, denen sie dienen sollen, hinterfragen.

  • Wer definiert den Rahmen für die Probleme, die mit digitalen Medien gelöst werden sollen?
  • Welche Folgen entstehen daraus für die Bildung?
  • Wer präsentiert digitale Medien in der Bildung als Voraussetzung für die Transformation von Bildung?
  • Wie glaubwürdig sind solche Behauptungen?
  • Welche Kriterien und Standards müssen festgelegt werden, um den aktuellen und potenziellen künftigen Beitrag digitaler Medien für die Bildung zu beurteilen, damit wir Hype und Substanz unterscheiden können?
  • Können Forschung und Evaluation mehr sein als kurzfristige Beurteilungen von Auswirkungen auf das Lernen und potenziell weitreichende Folgen des umfassenden Einsatzes digitaler Medien in der Bildung erfassen? (S. 7)

Übertriebene Erwartungen an digitale Medien gehen Hand in Hand mit übertriebenen Schätzungen zur Größe des weltweiten Marktes. Die Schätzungen von Business-Intelligence-Anbietern für das Jahr 2022 bewegen sich zwischen 123 Mrd. und 300 Mrd. US-Dollar. Solche Berechnungen werden fast immer in die Zukunft projiziert und sagen ein optimistisches Wachstum voraus, aber sie geben keine Auskunft über historische Entwicklungen und prüfen nicht, ob sich frühere Prognosen bewahrheitet haben. Solche Berichte bezeichnen Bildungstechnologien routinemäßig als unverzichtbar und Technologieunternehmen als Enabler und Disruptoren. Wenn sich die optimistischen Prognosen nicht erfüllen, wird die Verantwortung implizit auf die Regierungen abgewälzt, um den indirekten Druck auf diese aufrechtzuerhalten, vermehrt in entsprechende Anschaffungen zu investieren. Das Bildungswesen wird dafür kritisiert, dass es sich nur langsam verändere, in der Vergangenheit verhaftet sei und in Sachen Innovation hinterherhinke. Eine solche Darstellung spielt mit der Faszination der Menschen für Neues, aber auch mit ihrer Angst, abgehängt zu werden. (S. 7)

Technologieunternehmen können einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Entwicklung entsprechender Untersuchungen haben. So finanzierte [der weltweit größte Bildungskonzern] Pearson beispielsweise Studien, mit denen unabhängige Analysen angefochten wurden, die ihrerseits gezeigt hatten, dass die Produkte von Pearson keine Wirkung hatten. (S. 11)

Studien auf der Grundlage von PISA-Daten deuten auf einen negativen Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler hin, sobald die Schwelle einer moderaten Nutzung überschritten ist. Lehrkräfte empfinden die Nutzung von Tablets und Handys als Beeinträchtigung ihrer Klassenführung. Mehr als eine von drei Lehrkräften in sieben Ländern, die an der ICILS-2018-Studie teilnahmen, stimmten zu, dass die Verwendung digitaler Medien im Klassenzimmer die Lernenden ablenkt. (S. 11f)

Bildungssysteme sollten bei der Entscheidung über die Einführung digitaler Technologien stets sicherstellen, dass die Interessen der Lernenden im Mittelpunkt eines auf Rechten basierenden Rahmens stehen. Der Fokus sollte nicht auf digitaler Infrastruktur, sondern auf den Ergebnissen des Lernens liegen. Zur Verbesserung des Lernens sollten digitale Medien die persönliche Interaktion mit Lehrkräften nicht ersetzen, sondern ergänzen. (S. 20)

Weitere Fragestellungen und Hinweise:

Die Rolle von digitalen Medien in der Bildung ist seit langem Gegenstand intensiver Debatten:

  • Sorgen sie für eine Demokratisierung des Wissens – oder bedrohen sie die Demokratie, indem sie die Kontrolle über Informationen in die Hände weniger Auserwählter legen?
  • Bieten sie grenzenlose Möglichkeiten, oder führen sie in eine zukünftige Technologieabhängigkeit, aus der es kein Zurück mehr gibt?
  • Führen sie zu einer Angleichung der Bedingungen, oder verschärfen sie die Ungleichheit?
  • Sollten sie für den Unterricht junger Kinder eingesetzt werden, oder besteht ein Risiko für deren Entwicklung? (S. 33)

Der UNESCO-Bericht „Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?“ empfiehlt, dass Technologie in der Bildung evidenzbasiert eingeführt werden sollte, also auf Grundlage von Nachweisen, dass sie geeignet, chancengerecht, skalierbar und nachhaltig ist. Mit anderen Worten: Ihr Einsatz sollte im besten Interesse der Lernenden liegen und die zwischenmenschliche Interaktion ergänzen. Digitale Medien sollten als Werkzeug verstanden werden, das unter diesen Bedingungen genutzt werden kann. (S. 33)

Technologie [in der Bildung] kann aber auch ausgrenzend, irrelevant und belastend, wenn nicht sogar schädlich sein. Regierungen müssen für die richtigen Bedingungen sorgen, um einen chancengerechten Zugang zu Bildung für alle zu ermöglichen, und müssen die Nutzung von Technologien so regulieren, dass die Lernenden vor deren negativen Einflüssen geschützt werden. (S. 33)

Weitere Informationen:

UNESCO-Bericht zu IT in Schulen fordert mehr Bildungsgerechtigkeit

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?