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„Lernen sichtbar machen“

Wie man das LERNEN besser lernt

Fanny Jimenez
[…] „Dass man das Lernen lernen muss, weiß man erst, wenn man scheitert“ sagt Barbara Oakley [Professorin für Ingenieurwissenschaften an der Universität Oakland und ausgezeichnet als Lernexpertin]. Zu zeigen, dass es geht, dass man alles lernen kann, was man will, ist heute ihre Lebensaufgabe. […] Noch immer gebe es viele Mythen darüber, was beim Lernen hilft, was schadet oder unnötig ist. Dabei wisse man inzwischen sehr genau, wie und warum Neues am besten im Gehirn gespeichert wird und welche Lerntechniken deshalb wirklich funktionieren, und zwar bei jedem. […]

Beim Lernen denken viele: “Wenn ich es verstanden habe, dann kann ich es auch. Aber verstehen ist nur ein Teil des Lernens.“ Schließlich nehme man ja auch nicht an, ein Lied singen zu können, nur weil man einmal die Melodie gesummt und dabei den Text gelesen habe.
Aber genau dieser Illusion unterliegen viele Schüler. Vor allem, wenn sie mit Texten arbeiten. Wer unterstreicht, notiert und markiert, hat oft das Gefühl, alles verinnerlicht zu haben. Dass das nicht stimmt, konnten die Psychologen Jeffrey Kapicke und Januell Blunt von der Purdue University nachweisen. Von vier Studiengruppen schnitten drei Gruppen gleich ab, nur eine stach heraus, die sich die meisten Fakten gemerkt hatten: Diese Gruppe sollte den Text nur einmal lesen und direkt danach aufschreiben, was sie behalten hatten. Dann lasen sie erneut und schrieben wieder sofort auf, woran sie sich erinnerten.
Lesen und sofort schriftlich wiederholen ist also die beste Methode, mit Texten umzugehen. Lesen und sofort anwenden die beste Art, Formeln auswendig zu lernen. Jedes Mal ist das ein kleiner Test, jedes Mal weiß man hinterher genau, was man kann – und was nicht.

Auch wenn das viele Schüler nicht gerne hören: Das spricht für Hausaufgaben. Wenige, dafür täglich. Das, was man morgens in der Schule gelernt hat, nachmittags zu wiederholen ist lernpsychologisch gesehen ideal für das Gehirn. […]

Wichtig ist auch, dass man sich vor dem Lernen Gedanken darüber macht, was man erreichen will. „Dazu gehört ein guter Plan, der aufschlüsselt, wie viel man in welcher Zeit lernen muss und welches Ziel man hat“ sagt Tina Seufert, die an der Universität Ulm Lernstrategien erforscht. Dieser Plan sieht anders aus, wenn man eine Drei anstrebt, als wenn man unbedingt eine Eins schaffen will.“ Wer das macht, weiß, was genau ihn erwartet, bevor er sich an den Schreibtisch setzt. Oft brauchen die Kinder und Jugendlichen dabei unsere Hilfe, diesen Plan aufzustellen und einzuhalten.
Nur wer neuen Stoff über mehrere Tage wiederholt, kann sicher sein, dass alles Neue zuverlässig im Langzeitgedächtnis landet. […] Das bedeutet aber auch, dass nächtliche Lernmarathons kurz vor Prüfungen ineffizient sind. Sie fördern die Wissensillusion, aber nicht das Wissen, sagt Barbara Oakley.

Regelmäßig zu Üben mag anfangs nerven, ist aber allen Lernexperten zufolge das Wichtigste. Wiederholung verstärkt die neuronale Spur im Gehirn und automatisiert das Wissen. So fällt den Schülern die Lösung auch dann noch ein, wenn sie aufgeregt in der Prüfung sitzen.
Wer Lehrstoff häufig wiederholt, hat natürlich auch mehr Gelegenheit, Fehler zu machen. [Lehrer und] Eltern sollten ihren Kindern beibringen, sich davon nicht entmutigen zu lassen. Denn über Fehler findet man oft alternative Lösungen und versteht, dass manche Regeln nur für bestimmte Kontexte gelten. Wenn Kinder auf diese Weise immer wieder kleine Hürden überwinden, macht das Lernen mehr Spaß, sagt Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich. „Wenn man das Gefühl hat, Hürden überwinden zu können, sich kompetent zu fühlen und selbst die Kontrolle darüber zu haben, wie man ein Problem löst, dann entsteht Motivation.“ […]

Oft sagen ihr Studenten, dass ihnen das alles zu viel Aufwand sei. Dass es ihnen nur darum gehe, die Prüfung zu bestehen. Diese Art zu denken ist aber fatal. Nur für Tests zu lernen hilft zwar unmittelbar, macht aber auf lange Sicht Probleme. […]
Wer nur auf die nächste Prüfung lernt, bei dem findet kein „Chunking“ statt. Neurowissenschaftler bezeichnen damit Abläufe, die aus vielen einzelnen Schritten, also neuronalen Spuren, bestehen – und die das Gehirn nach vielen Wiederholungen zusammenfasst. Ohne Wiederholung und Üben bleiben die neuronalen Spuren getrennt – und das Lernen bleibt immer neu und anstrengend. […]

„Musik ist bei allem, wo man sich wirklich konzentrieren muss, eher störend“ sagt Elsbeth Stern. „Wo man sie aber gut einsetzen kann, ist in den Pausen. Zum Abschalten, um sich selbst in eine gute Stimmung zu bringen. Das kann beim Lernen danach helfen“. […] Und je öfter man lernt, umso leichter fällt das Anfangen beim nächsten Mal.

zum Artikel:  Welt am Sonntag, Wissen, 03.09.2017, Fanny Jimenez, Wie man das LERNEN besser lernt

siehe auch: John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen

Herausfordernde Klassen führen – Classroom-Management

„Ohne eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung ist guter Unterricht nicht möglich“

Der Schulpsychologe Christoph Eichhorn ist ein gefragter Experte im Bereich Classroom-Management. Im Interview mit Stefanie Rietzler (Akademie für Lerncoaching) steht der renommierte Autor Rede und Antwort zur Frage:

„Wie können herausfordernde Klassen so geführt werden, dass guter Unterricht überhaupt möglich wird?“ 

Stefanie Rietzler: Herr Eichhorn, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema , haben dazu unzählige Beiträge veröffentlich und viele hundert Fachpersonen weitergebildet. Warum ist Classroom-Management so wichtig?

Christoph Eichhorn: Eigentlich ist es Prävention im Unterricht. Das Ziel besteht darin, den Unterricht so zu organisieren und zu strukturieren, dass sich die Schüler/innen wohl fühlen und gut lernen können. Dadurch soll es seltener zu Störungen kommen, die das Klima belasten. Angenommen, Sie übernehmen eine neue Klasse als Lehrperson. Gleich am ersten Tag stolpern Sie beim Betreten des Klassenzimmers über einen Schüler, der weinend auf dem Boden sitzt. So hatten Sie sich Ihren ersten Tag natürlich nicht vorgestellt.  Aber jetzt sind Sie von einer Sekunde auf die andere voll beschäftigt. Erstmal versuchen Sie vielleicht, das Kind zu trösten, was sich als gar nicht so einfach herausstellt. Dann fragen Sie, was geschehen sei. „Julian hat mir auf den Rücken geschlagen“, bringt der Schüler weinend hervor. „Aber Marius hat mir die Zunge rausgestreckt!“ entgegnet der andere. Was soll man mit diesem Wissen tun? Die Klasse wird in der Zwischenzeit immer unruhiger. Der Unterricht ist noch keine drei Minuten alt und schon ziemlich verfahren. Ein typischer Fall für Classroom-Management!

Dieses unterstützt das Handeln von Lehrpersonen im Unterricht, in dem es ihnen Anhaltspunkte dafür liefert, was gerade wichtig ist und was weniger. Vor allem in schwierigen Klassen. Darüberhinaus bietet es ein breites Repertoire an Anregungen, was Lehrpersonen tun können, damit es in ihrem Unterricht rund läuft. Auf unser Fallbeispiel bezogen bedeutet das: Am wichtigsten ist jetzt, dass sich die Lehrkraft um einen geordneten Start in den Unterricht bemüht. Um dieses Ziel zu erreichen kann sie beispielweise eine Routine einführen, die die Schüler und Schülerinnen dabei unterstützt, das Klassenzimmer angemessen zu betreten. Die Regie führt dabei die Lehrperson.

Stefanie Rietzler: Wie kann das konkret aussehen?

Christoph Eichhorn: Nehmen wir dazu das Beispiel von Herrn Wirz. Er hat von seinem Vorgänger erfahren, dass es sich bei seiner neuen Klasse um eine „schwierige Klasse“ handelt. Also bespricht er mit den Schüler/innen gleich in den ersten Schultagen das Ritual „Klassenzimmer betreten“. Bereits während der Sommerferien hat er für sich geklärt, was er von seinen Schüler/innen erwartet. Dann hat er seine Erwartungen aus Schülersicht formuliert. Diese zeigt er seiner Klasse auf einer Folie:

  • Ich betrete ruhig das Klassenzimmer
  • Ich gehe zügig und direkt an meinen Platz
  • Ich nehme dort gleich mein Lieblingsbuch hervor und beginne zu lesen.

Stefanie Rietzler: In diesem Beispiel bestimmt der Lehrer, welche Regeln gelten. Wäre es nicht sinnvoll die Schüler/innen mit einzubeziehen?

Christoph Eichhorn: Prinzipiell gilt: Je schwieriger die Klasse – desto eher gibt die Lehrperson die Regeln selbst vor.

In der Literatur lesen wir ja immer wieder, dass die Lehrkraft ihre Schüler/innen beim Aufstellen von Regeln und Routinen einbeziehen soll. Ich finde das eine gute Idee. Aber sie hat ihre Grenzen. Und das sind vor allem schwierige Klassen.

Bei schwierigen Klassen ist es oft sinnvoll, dass die Lehrkraft erst einmal bestimmte Vorgaben macht, die darauf abzielen, aktuell besonders problematische Unterrichtssituationen präventiv abzufedern. Wie in unserem Fallbeispiel, die Art und Weise, wie die Schüler/innen ihr Klassenzimmer betreten. Wenn es Herrn Wirz gelingt, seine Schüler/innen bei diesem wichtigen Schritt zu unterstützen, dann hat er einen bedeutenden Beitrag zu einem ruhigeren Klassenzimmer geleistet. Und davon profitieren alle: Lehrer und Schüler/innen. Vor allem fördert er damit die Beziehung zu den Kindern, weil er dann weniger eingreifen und ermahnen muss. Und ohne eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung ist guter Unterricht nicht möglich.

Klar, bei einer Klasse mit kooperativen Schüler/innen und solchen mit hohen Kompetenzen in der Selbstregulation und im Sozialverhalten kann man die Kinder stärker einbeziehen.

Stefanie Rietzler: Viele Lehrpersonen machen die Erfahrung, dass sie die Klassenregeln zwar einführen, aber die Kinder sich nicht daran halten. Woran liegt das?

Christoph Eichhorn: Wenn eine Lehrperson „nur“ mit ihren Schüler/innen über eine Routine spricht, dann haben es einige spätestens am nächsten Tag schon wieder vergessen. Selbst wenn die Lehrkraft exakt erklärt hat, was sie von ihren Schüler/innen erwartet. Natürlich können sie dann den Erwartungen nicht nachkommen – selbst wenn sie es wollten. Es reicht nicht aus, Regeln einfach zu kommunizieren. Sie müssen trainiert werden! Herr Wirz könnte dazu gleich einen Schüler darum bitten, allen nochmal zu erklären, wie das Klassenzimmer betreten wird. Er kann sich bedanken und dann sagen, „wir üben es gleich mal“. Dadurch signalisiert die Lehrkraft den Schüler/innen, dass es ihr wichtig ist, dass das Klassenzimmer angemessen betreten wird. Beim Üben gibt es außerdem die Möglichkeit, den Schüler/innen genau zu zeigen, was man von ihnen erwartet. Und man kann sie entsprechend korrigieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Schüler/innen den Ablauf schneller lernen.

Stefanie Rietzler: Üben wird von den Kindern ja oft als öde erlebt. Wie bewegt man die Klasse zur Mitarbeit?

Christoph Eichhorn: Eine wichtige Frage. Wenn wir die Kooperation unserer Schüler/innen erreichen wollen, dann spielt Kommunikation eine Schlüsselrolle. Und diese muss positiv angelegt sein. Unser Ziel ist, diese Routine zu etwas Attraktivem zu machen. Herr Wirz fragt zum Beispiel, „wer will denn zeigen, dass er es schon kann?“ Das ist eine attraktive Formulierung. Klar hätte er auch sagen können, „Dario, du musst es als erster vormachen.“ – kein so günstiger Einstieg. Jetzt aber melden sich einige Schüler/innen. Herr Wirz bedankt sich bei diesen und wählt dann vier aus, die es vormachen dürfen. Auf sein Zeichen hin verlassen sie das Klassenzimmer, kommen wieder rein und setzen sich auf ihren Platz – genau wie besprochen. Herr Wirz lobt diese Schüler/innen. So macht die Lehrperson die Routinen attraktiver. Dann dürfen die Jungen zeigen, dass sie es schon können und dann die Mädchen – oder umgekehrt.

Stefanie Rietzler: Was kann man tun, wenn die Klasse trotz allem Probleme hat, sich an die Regel zu halten oder sich dem Üben entzieht?

Christoph Eichhorn: Manchmal wird sehr ungünstig reagiert. Es fallen Sätze von der Lehrkraft wie: „lernt ihr das nie?“ Oder, „was seid ihr bloss für eine Klasse?“ Damit feuert man aber den Widerstand seiner Schüler/innen an. Ungünstig wäre es auch, wenn man einfach weiter üben würde, obwohl in der Klasse deutliche Zeichen von Unlust offen zu Tage treten. Auch das würde nur den Widerstand einiger Schüler/innen entfachen.

Herr Wirz aus unserem Beispiel achtet stattdessen auf kleine Schritte in die richtige Richtung. Deshalb sagt er, „die meisten von euch haben es sehr gut geschafft. Ihr seid direkt und zügig an euren Platz gegangen, habt euch hingesetzt, euer Buch hervor genommen und zu lesen begonnen“. Sein Tonfall drückt Begeisterung aus. Er agiert also wie eine Art Coach, der ein Team von einer Idee begeistern möchte. Damit lobt er nicht nur die Schüler/innen, die es gut gemacht haben, sondern er formuliert noch einmal detailliert seine Erwartungen. Aber, und das ist entscheidend, in einem Kontext von Wertschätzung und Anerkennung. Durch seine positive Kommunikation gelingt es ihm, die Attraktivität der Routine zu steigern, was die Chancen erhöht, dass seine Schüler/innen sie einhalten. Allerdings reicht das allein bei schwierigen Klassen nicht aus. Daher tut er noch mehr.

Wenn seine Schüler/innen deutliche Zeichen von Widerstand zeigen, lässt er es auf keinen Machtkampf ankommen. Deshalb bricht er das Üben an dieser Stelle ab. Aber, und das ist ganz entscheidend, er fügt hinzu, „wir üben es morgen noch einmal und ich bin sicher, dass ihr es dann noch besser könnt.“ Damit signalisiert er seiner Klasse, dass sie seine Erwartungen noch nicht wirklich erfüllt hat – ohne zu kritisieren. Gleichzeitig vermittelt er damit, dass er den Kindern mehr zutraut.

Stefanie Rietzler: Wovon hängt es ab, ob man eine kritische Unterrichtssituation langfristig in den Griff bekommt? Was sind die häufigsten Stolpersteine?

Christoph Eichhorn: Es kann sehr anspruchsvoll sein, in schwierigen Klassen eine Routine einzuüben. Denn wir haben ja nicht nur das Ziel, dass die Schüler/innen die Routine genau ausführen, sondern das Üben soll in einem positiven und wertschätzenden Kontext geschehen. Es lohnt sich deshalb, sich vorher detailliert Gedanken zu machen. Man kann seine Erwartungen stärker anpassen und sich beispielsweise bereits im Vorfeld darauf einstellen, dass es am nächsten Tag nicht alle korrekt machen werden. Gleichzeitig lohnt es sich, sich Handlungsoptionen für schwierige Situationen zurechtzulegen. Günstig ist es auch, in einer kritischen Situation von Anfang an eine hohe Präsenz zu zeigen. Herr Wirz kann seine Schüler/innen beispielsweise schon an der Tür erwarten, sie dort freundlich begrüßen und dann beobachten, wie gut sie es schaffen, sich direkt an ihren Platz zu begeben. Und hin und wieder kann er einem Schüler zuflüstern: „Das hast du gut gemacht.“ Je präsenter eine Lehrkraft ist, desto weniger stören die Schüler/innen.

Bei wenig motivierten und schwierigen Klassen ist es zudem besonders wichtig, dass die Lehrperson angemessenes Verhalten ihrer Schüler/innen laut beschreibt. In der Fachliteratur wird dies als „narrating positive behavior“ bezeichnet. Im Fall von Herrn Wirz könnte das so aussehen: Während der Lehrer seine Schüler/innen dabei beobachtet, wie sie das Klassenzimmer betreten und zu ihren Plätzen gehen, sagt er: „Anäis, Larissa, Seyma und Dario gehen direkt an ihren Platz, Rahman sitzt ruhig an seinem Tisch und liest schon in seinem Buch“. Er erwähnt natürlich vor allem Schüler/innen, die entweder eher Schwierigkeiten haben, das Ritual einzuhalten oder solche, die weniger motiviert sind.

Als alle an ihren Plätzen sitzen, sagt er: „heute seid ihr schon v-i-e-l besser ins Klassenzimmer gekommen, als gestern  –  prima.“ Er schaut dabei seine Schüler/innen freundlich an und seine Stimme drückt Wertschätzung und Motivierung aus.

Stefanie Rietzler: Was ist, wenn einzelne dennoch aus der Reihe tanzen?

Christoph Eichhorn: Entspannt und gelassen bleiben und üben, üben, üben. Herr Wirz könnte sagen: „wir machen es gleich nochmal.“, wenn die Schüler/innen bestimmte Regeln und Vereinbarungen nicht einhalten, oder sich unangemessen verhalten. Dabei gilt: nicht zu früh aufgeben.

Angenommen, nur vier Schüler/innen brauchen etwas länger, bis sie an ihrem Tisch sitzen. Drei von ihnen holen ihr Buch nicht hervor. Einer der drei schaut aus dem Fenster. Der andere flüstert einem Mitschüler etwas zu. Der dritte sucht etwas in seinem Mäppchen. Alles keine großen Störungen. Nur, die Anforderung von Herrn Wirz lautete, „wenn ich am Platz sitze, nehme ich gleich mein Lieblingsbuch hervor und beginne zu lesen.“ Und das haben diese drei Schüler nicht gemacht. Was jetzt? Soll Herr Wirz darauf bestehen, dass sie die Routine korrekt ausführen? Wenn „ja“, könnte das nicht in offenen Widerstand von Seiten der Klasse umschlagen? Oder soll er es durchgehen lassen – seine Schüler/innen halten ja die Routine schon deutlich besser ein? Je nachdem, für welches Vorgehen er sich entscheidet, wird er in Zukunft mit dieser Klasse deutlich mehr Schwierigkeiten haben oder klar weniger. Classroom-Management empfiehlt Lehrpersonen, auf exakter Regeleinhaltung zu bestehen. Je schwieriger eine Klasse, desto exakter sollte eine Lehrkraft darauf bestehen, dass ihre Schüler/innen ihre Vorgaben einhalten. Warum? Weil sie sonst lernen, „der nimmt es nicht so genau.“ Einige denken sich dann: „Warum sollen wir dann in Zukunft die Anweisungen einhalten?“ Klar, dass sie in der Folge mehr stören. Auf diesen bedeutsamen Aspekt wiesen Wahl, Weinert und Huber schon 1984 hin. Sie erklärten fortbestehende Unruhe im Klassenzimmer damit, dass sich die Lehrperson mit halbem Erfolg zufrieden gibt und den Unterricht bereits wieder fortsetzt, sobald die Unruhe zwar zurückgegangen, aber noch nicht beendet ist. Die Lehrkraft achtet nicht genug darauf, ob wirklich auch sämtliche Schüler der Klasse die Regel einhalten. Vielmehr versucht sie, oft mit lauter Stimme, die verbleibende Unruhe zu übertönen. Ungewollt wird damit das störende Verhalten der Schüler/innen verstärkt.

Stefanie Rietzler: Inwiefern schalten die Schüler/innen auf Widerstand, wenn die Lehrkraft penibel auf die Regeleinhaltung pocht?

Christoph Eichhorn: Das ist eine wichtige Frage, weil wir das ja auf jeden Fall vermeiden wollen. Ob eine Klasse mit ihrem Lehrer kooperiert oder nicht, hängt weniger davon ab, ob die Lehrperson von ihren Schüler/innen einfordert, gegebene Anweisungen genau einzuhalten, sondern vielmehr davon, wie sie kommuniziert. Wenn eine Lehrkraft viel kritisiert und ermahnt, steigt das Risiko an, dass ihre Schüler/innen immer weniger kooperieren. Positive Kommunikation ist also gerade in schwierigen Klassen besonders wichtig. Und auch gegenüber Schüler/innen mit herausforderndem Verhalten.

In Herrn Wirzs Fall handelt es sich um drei Schüler. Er entscheidet sich jetzt dafür, noch einmal üben zu lassen. Zunächst bittet er den Schüler, der es am wenigsten gut geschafft hat, den Ablauf noch einmal kurz zu erklären. Aber der kann den Ablauf der Routine nicht exakt wiedergeben. Was jetzt? Klar könnte Herr Wirz empört reagieren und seinen Schüler zurechtweisen. Er wählt aber einen anderen Weg. Er hilft ihm einfach. Dann lächelt er ihm freundlich zu.

Beim Üben zeigt er wieder hohe Präsenz – vor allem bei den Schüler/innen, bei denen es noch nicht so ganz geklappt hat. Konkret heißt das, dass er Blickkontakt zu ihnen sucht, und sich überwiegend in deren Nähe aufhält. Und er setzt gerade bei diesen Schüler/innen auf narrating positive behavior. Und wenn es einmal gar nicht klappt, flüstert er auch schon mal einer Schülerin zu, „Anäis, bitte gehe direkt an deinen Platz“. Er handelt diskret und höflich, was die Kooperationsbereitschaft seiner Schüler/innen fördert. Auch von denjenigen mit Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung.

Stefanie Rietzler: Wie kann man reagieren, wenn Schüler/innen absichtlich provozieren?

Christoph Eichhorn: Für Classroom-Management Experten ist klar: Sofort reagieren, aber unaufgeregt. Weiterlesen

„Die Lehrkraft muss Mut zum Handeln und zum Vormachen haben“

Die Lehrkraft als Modell

von Dorothee Gaile
Kaum ein Thema weckt über Generationen und Professionen hinweg so starkes Interesse wie die Frage, was denn unter einem guten Unterricht und unter einer guten Lehrkraft zu verstehen sei. Schließlich verfügt jede und jeder über eigene Erfahrungen in diesem Feld.

(…) Auf der Suche nach Erfolgsfaktoren für gelingenden Unterricht wird vorrangig die Sozialform und die damit einhergehende Lehrer-Schüler-Interaktion genannt. Als Beispiel mag die ernsthafte Nachfrage einer Fortbildungsteilnehmerin gelten, ob ein zeitgemäßer Unterricht „überhaupt noch einen Lehrervortrag“ vertrage. Diese Frage ist mitnichten banal. Sie lässt sich als Symptom einer Verunsicherung mit Blick auf die eigene Rolle werten. (…) Offenbar sind das Selbstverständnis der Lehrkraft, ihre Wahrnehmung der Lernenden, ihr Handlungsziel und die damit korrespondierenden Lehr-Lernstrategien viel mehr von Bedeutung für lernwirksamen Unterricht als die äußere Inszenierung des Unterrichts. (…)

Der Erfolg von Lehr-Lernstrategien ist an gelingende Lehrer-Schüler- und Schüler-Schüler-Interaktion geknüpft. Gute Chancen hat das Lernen dann, wenn es der Lehrkraft gelingt, ein unterstützendes Interaktionsklima im Klassenraum zu schaffen. Dies hat zwei Aspekte, einen sozial-emotionalen und einen kognitiven (GAILE 2010, S. 75–84). Zum einen sollte die soziale Interaktion im Klassenraum ermutigend auf die Lernenden wirken. Nur so werden Jugendliche ihre Unsicherheiten, z. B. mit Blick auf unbekanntes Fachvokabular oder anspruchsvolle Satzstrukturen, ohne Angst vor Beschämung offen thematisieren und auch bearbeiten. Zum anderen ist unterrichtliches Vorgehen dann wirksam, wenn es die Lernenden kognitiv aktiviert und dabei ihre Lernprozesse kognitiv unterstützt (ROSEBROCK 2014, S. 73 f.). (…) Die Art und Qualität der Kommunikation zwischen Lehrkräften und Lernenden ist offenbar von ausschlaggebender Bedeutung für lernwirksames bzw. –unwirksames Unterrichtsgeschehen. (…) Setzt die Lehrkraft ihre Impulse als Denkfrage (Higher-order question), die statt des Memorierens von Fakten nach Begründungen („Worauf führst du das zurück?“) und Hypothesenbildung („Wie würde sich das Ergebnis verändern, wenn… ?“) verlangt, kann Unterricht eine Tiefendimension entfalten, bei der die Köpfe der Lernenden rauchen. (…) Als lernwirksames Verfahren gilt auch das Modellieren des angestrebten Lernverhaltens (vgl. GARBE, ROSEBROCK, HATTIE, TIMPERLEY). Dabei führt die Lehrkraft als Expertin ihres Faches den Lernenden laut denkend ihre eigenen gedanklichen Prozeduren und Problemlösungen beim Bewältigen einer Aufgabe vor. Die bewusste Übernahme der Rolle als Lernmodell gehört jedoch zumeist nicht zum Standard des Handlungsrepertoires von Unterrichtenden. (…) Der Deutschdidaktiker Heiner Willenberg benannte es so: „Der Könner muss Mut zum Handeln und zum Vormachen haben“ (WILLENBERG 2007, S. 187) (…)

In allen Facetten lässt sich Lernen am Modell in der Dokumentation des Tanzprojekts „Rhythm is it“ beobachten, geleitet vom Choreographen Royston Maldoom in Zusammenarbeit mit dem Berliner Philharmonie Orchester. 240 Schülerinnen und Schüler aus 25 Ländern, darunter viele aus kulturell unterprivilegierten Familien mit begrenzter Schulbildung, meist ohne jegliche Kenntnis klassischer Musik, übten Strawinskys „Le Sacré du Printemps“ ein und führten es erfolgreich auf. Royston Maldoom und sein Team ließen sie einen anspruchsvollen Ausbildungsprozess mit klaren Regeln für Erfolg durchlaufen. Die Erwachsenen zeigten modellhaftes Verhalten, das sich nicht nur auf Willensstärke und Ausdauer beim Umgang mit anfänglichen Misserfolgen bezog, sondern auch auf die beim Tanzen zu beherrschenden Techniken in Soloparts, Paar- und Gruppenformationen. Während sich die Tanznovizen durch das stimulierende und anspruchsvolle Modellieren zunehmend verbesserten, konnten sich ihre Vorbilder immer stärker zurückziehen, sodass die „Lehrlinge“ am Ende buchstäblich die Hauptrollen spielen konnten.

Aussichtsreiches Lernen am Modell findet seine theoretische Begründung in den Studien des russischen Lernpsychologen Lev Wygotski. Aus diesen wissen wir: Selbstständiges Problemlösen stellt sich beim lernenden Kind nicht automatisch ein. Vielmehr kann es durch geschickte Lern-Arrangements und direkte Instruktion des Erziehenden, also durch soziale Vermittlung [durch einen „kompetenten Anderen“], gefördert werden. (…)

Auf welche Weise eine möglichst effektive Lernunterstützung – mit dem Ziel der zunehmenden Selbstständigkeit der Lernenden – ablaufen kann, hat Wygotski in vier Schritten beschrieben: In einem ersten Schritt erläutert und demonstriert der Experte, also der „kompetente Andere“, als Modell das gewünschte Lernverhalten an Aufgabenbeispielen aus dem Unterrichtskontext. In einem zweiten Schritt stützt er das Lernen des Novizen durch geeignete Hilfen. Die von den Kognitionspsychologen Bruner, Wood und Ross gewählte Metapher des sogenannten „Scaffolding“, also des Bereitstellens eines Lerngerüsts, vergleichbar mit dem Gerüst beim Hausbau, drückt aus, dass die Lernunterstützung nur vorübergehend gewährt wird. Mit zunehmender Selbstständigkeit des Lernenden kann diese Unterstützung in einem dritten Schritt stufenweise abgebaut werden. Dieser Prozess wird auch als „Fading“ bezeichnet. Der vierte Schritt ist dann vollzogen, wenn Lernende das Erlernte selbstständig anwenden und reflektieren können. (…) Je mehr Autonomie ein Lernender erwirbt, umso stärker kann sich das Modell, also die Expertin oder der Experte, zurückziehen. (…)

Fazit: „Der Könner muss Mut zum Handeln und Vormachen haben und er muss später wieder loslassen können, wenn seine Schüler ihre eigene Mischung angewandter Kategorien erfolgreich praktizieren“ (WILLENBERG 2007, S. 187). Denn wenn Schülerinnen und Schüler am Modell erleben, wie sie anspruchsvolle Lernsituationen bewältigen können, entwickeln sie als Lernende ein positiveres Selbstkonzept. Sie werden zu erfolgreichen Lernerinnen und Lernern. Das führt zu einem Erfolgserlebnis für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler.

Aus:  BildungBewegt, Nr. 27, Dorothee Gaile, Die Lehrkraft als Modell oder: Könnerinnen und Könner mit Mut zum Handeln und zum Vormachen, Publikation des Hessischen Kultusministeriums für Lehrerbildung – wird nicht mehr aufgelegt!

„Verhaltensauffällige Kinder zahlen heute einen hohen Preis für den Machbarkeitswahn ideologischer Schulreformer“

Rettungsinsel für Versager

von Regina Mönch

Verhaltensauffällige Kinder sind der Schrecken ihrer Schule und doch selbst in Not. In Berlin stärkt ein exklusives Schulprojekt diese Verlierer der Inklusionsreform.

Sie rasten aus, scheinbar ohne Grund, und zwingen eine ganze Klasse in den Bann ihres Ausbruchs. Sie gelten schnell als unverbesserliche Prügler, sind unkonzentriert und laut, ihre Schulleistungen schwanken extrem – sie sind oft der Schrecken einer Schule, auch wenn das niemand so sagen würde. Psychisch auffällige Kinder und Jugendliche sind die wohl größte Herausforderung des mit aller Macht durchgesetzten Inklusionsprojektes. Lehrer verzweifeln daran nicht selten, die Kinder aber, die stark verhaltensauffälligen, immer. Es sind vernachlässigte Kinder darunter und überbehütete, Hochbegabte und solche mit enormen Lernproblemen, Hyperaktive und Depressive. Letztere, in sich zurückgezogen und still, werden dann als Erleichterung erlebt, obwohl die pädagogischen Alarmglocken schellen müssten. (…)

Fast immer erleben sie sich schließlich als böse, als permanente Versager, die keiner mag und erträgt; nach zu vielen Misserfolgen lernen sie vor allem eines: nicht zu lernen. (…)

Verhaltensauffällige Kinder zahlen heute einen hohen Preis für den Machbarkeitswahn ideologischer Schulreformer, die exklusive Förderkonzepte gerade für psychosoziale Störungen geringschätzen, sie gar als Diskriminierung, als „Abschiebepädagogik“ denunzieren – ein Störfaktor auf dem Weg „in eine neue Welt“, in der alle mit allen können sollen, koste es, was es wolle. Seit einigen Jahren gibt es in Berlin auf dem Gelände des Westend-Klinikums einen Ort für diese Kinder, eine kleine, exklusive Schule, schwer erkämpft gegen alle verbohrten Widerstände. Mit ihren hochdifferenzierten Lern- und Therapiekonzepten schafft sie überhaupt erst einmal die Voraussetzung dafür, dass diese Schüler einen Weg ins normale, selbstbestimmte Leben finden, wozu später wieder eine Regelschule oder eine Berufsausbildung gehört.

In der Nachbarschaft ist die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie; ihr Chefarzt Michael von Aster hat diese ungewöhnliche Schule, die Erziehung, Bildung und Therapie zusammenführt, erfunden. Sie war zu Beginn ein Experiment, nirgendwo erprobt, beglaubigt allein durch jahrelange Erfahrung und Beobachtung, dass genau dieser Baustein fehlt.  (…)

An seiner Seite ist von Anfang an die Sonderpädagogin Kerstin Schicke, die Schulleiterin dieser Rettungsinsel, eine begeisterte Pädagogin mit guten Nerven, die dieses Modell, das vom vermeintlich einzig wahren Weg der radikalen Inklusion abwich, selbstbewusst verteidigte, wo es nötig war. Und es war oft nötig. (…) [Sie] haben sich ein hochmotiviertes Team aus Therapeuten und Lehrern zusammengestellt, das für jedes Kind, jeden Jugendlichen ein eigenes Konzept erarbeitet, in das die Eltern einbezogen werden; denn fast allen Störungen liegt ein Beziehungsproblem zugrunde, das ohne sie nicht zu überwinden ist. Der Alltag an dieser „Schule am Westend“, die offiziell „Zentrum für schulische und psychosoziale Rehabilitation“ heißt, ist einerseits ganz normal an den Lehrplänen ausgerichtet. Zusätzlich aber arbeiten Ergo-, Kunst-, Musik- und Sporttherapeuten mit den Schülern.

Der Erfolg dieser Modellschule ist überwältigend. (…) Viele Ehemalige schreiben noch jahrelang an die Schule, wie es ihnen im neuen Leben ergangen ist: dass sie sich, früher fast Schulabbrecher mit Tendenz zum funktionalen Analphabetismus, jetzt auf ihr Abitur vorbereiten oder auf andere Schulabschlüsse oder einen Beruf. (…)

Dieses mit Eigensinn und hoher Professionalität geführte Berliner Modell zeigt, dass Exklusion in vielen Fällen erst die Voraussetzung für Inklusion schafft. Wer das, aus welchen Gründen auch immer, ignoriert, nimmt das verhinderbare Versagen junger Menschen in Kauf. Die einst hochangesehene deutsche Sonderpädagogik hat durch die umstrittene Radikalreform der inklusiven Regelschule nicht nur an Niveau verloren. Es ist bereits so viel Schaden angerichtet, dass Einkehr und Umkehr in vielen Fällen eigentlich dringend geboten sind.

zum Artikel:   FAZ, Feuilleton, 27.12.2016, Regina Mönch, Rettungsinsel für Versager

Integration im Klassenzimmer

Mikrokosmos statt Mikroghetto

TSP, 12.04.2016, Kommentar von Caroline Fetscher

An den Tag werden sie noch lange denken – und ihre Lehrer auch. An einem Gymnasium in Berlin haben sie ein klassisches Theaterstück inszeniert, ein Dutzend Schülerinnen und Schüler. Sie haben lange geprobt, nachgedacht, viel gelacht, sich manchmal gezankt, eine Menge Text gelernt – und schließlich das Stück klar, klug und spielfreudig auf die karge Bühne ihrer kahlen Aula gestemmt. Grandios! Dann das Wunder: Als alles vorüber war, wollten sie gar nicht mehr weg. Am liebsten wären die jungen Schauspieler über die Osterferien in der Schule geblieben, staunt strahlend einer der Lehrer. So etwas passiert selten, schon gar nicht hier. Und hier auch nur, weil sich Pädagogen, oft in ihrer freien Zeit, enorm engagieren für Kinder und Jugendliche, die Mustafa oder Fatima heißen.

Es ist nämlich eine der Schulen im Land, wie es sie gar nicht geben dürfte.  (…) 97 Prozent [der Schüler] sind „nicht deutscher Herkunft“, was Ämter gern mit „ndh“ abkürzen. Längst hätte eine Quotenregelung für „ndh-Kinder“ solchen Missständen vorbeugen müssen: maximal 50 Prozent, minimal 10 Prozent Kinder, die nicht Muttersprachler sind, das wäre ein Anfang, das groteske Ungleichgewicht zu verändern. (…)

Parallelgesellschaft pur, sozialpolitisch absurd, bildungspolitisch ein Irrsinn. Wie passiert das? Na ja, heißt es bei den Verantwortlichen, das kam einfach so, mit der Zeit. (…)

Naja ist nicht genug. Naja ist ein Armutszeugnis (…) für die fatale Denkarmut der Funktionseliten, die nicht verstehen wollen, was Teilhabe an einer aufgeklärten, dialogfähigen Öffentlichkeit bedeutet – und dass sie durch Schulen zur Welt kommen muss. Wo Lehrende die einzigen Muttersprachler sind, wie sollen da Schüler ohne enorme, zusätzliche Kraftanstrengung in der Landessprache heimisch werden? Wie soll das gehen? Höchstens in Glücks- und Einzelfällen, wenn so ein seltener Funke überspringt von der Probebühne ins Leben. (…)

[Unsere Schulen werden] zum elementar wichtigsten Ort, um in der aufnahmefähigsten Phase der Entwicklung Gemeinsamkeit zu erfahren. In der Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft wird deren demokratisches Fundament kontinuierlich erneuert. Dabei entsteht die Öffentlichkeit von morgen. Vor allem darum darf kein einziger solcher Mikrokosmos ein Mikroghetto sein.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 12.04.2016, Caroline Fetscher, Mikrokosmos statt Mikroghetto

Stand Schuljahr 2015/16:

48 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 95,5% – 50%
59 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 49% – 10%
18 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 9% – 1,9%

siehe vollständige Tabelle unter:  Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache/Migrationshintergrund in Berlin, Schuljahr 2011/12 bis 2015/16

Ich habe einen Entschluss gefasst – Wie ich ein guter Schüler wurde

Vom schlechten Schüler zum 1,0-Abi

Pauken, lesen, melden: Eine knallharte Anleitung zum Schulerfolg. Geschrieben von einem, der erst in der Oberstufe beschlossen hat, sich anzustrengen.
16.02.2016, Christine Brinck

Schüler träumen vom Nürnberger Trichter. Manche legen immer noch das Buch unters Kopfkissen, weil das Wissen vielleicht doch osmotisch durch die Federn ins Gehirn dringt. (…) Lernen für die Klassenarbeit oder die Klausur, der direkte Weg vom Lesen der Texte zum Begreifen des Stoffs gilt dagegen als mühsam. (…)

Irgendwann vor Beginn der Oberstufe ging dem Schüler, der eher mit Dreien, Vieren und Fünfen unterwegs war, der seinen Lehrern auf die Nerven ging, einmal sogar schon vor dem Rauswurf stand, ein Licht auf. Ihm wurde klar, dass er unter seinen Möglichkeiten blieb. Er war keiner von den Jungs, die ein besonderes Talent hatten und sonst Durchschnitt waren. Er war einfach insgesamt ein uninspirierter, fauler Schüler, der auch gern mal schwänzte. Und dann beschloss er, ein gutes Abitur zu machen.

Als er sich in den Sommerferien vor der Oberstufe an den Schreibtisch setzte, schwor er sich, „alles zu tun, um mein Ziel zu erreichen … Ich war bereit, meine komplette Freizeit aufzugeben, falls mein Ziel dies verlangte. Hätte ich jeden Nachmittag sechs Stunden lernen müssen, hätte ich es ohne mit der Wimper zu zucken getan.“ Radikal? Er hielt durch.
Während die anderen sich im Schwimmbad tummelten, füllte er seine Wissenslücken auf, die sich in den früheren Jahren aufgetan hatten. Die ersten Monate des Semesters waren noch kein Zuckerschlecken, immer wieder musste er Grundlagenstoff nachlernen, um die angepeilten Punkte schaffen zu können. So saß er schon drei, vier Stunden jeden Nachmittag in seinem Zimmer und lernte. Kein Trichter, kein Schleichweg, keine Abkürzung, einfach nur pauken. Warum gab er nicht auf? Was war sein Geheimnis?

„Dass ich die Schule zu meiner obersten Priorität machte und alles andere hintanstellte.“ (…)

In einem freilich unterscheidet sich der zielstrebige Junge von den meisten Quartalsarbeitern: „Ich wusste aber die ganze Zeit über, dass ich auf der Stelle mit all den netten Freizeitaktivitäten aufhören würde, sobald meine Leistungen in der Schule nachließen.“ Der einst schlechte Schüler entwickelte eine „I will do it at any cost“-Mentalität, um auch für Rückschläge gewappnet zu sein und ständige Kurskorrekturen vornehmen zu können, wenn das Ziel, die besagte 1,0, aus dem Visier zu geraten drohte. (…)

Die größte Gefahr und Zeitverschwendung sieht Weinstock in Planlosigkeit bei der Recherche im Internet. (…)

Weinstock ist sich auch nicht zu schade, seinen Lesern, die ja eben noch seine Schulkollegen waren, Ratschläge zu erteilen, die schon Muttern und die Grundschullehrerin dem Klein-Chaoten gepredigt haben: Arbeitsplatz aufräumen, Schulmappe richtig und insbesondere vollständig packen, Hausaufgaben als Segen betrachten und vor allem melden! Melden! Melden! „Du wirst merken“, schreibt Weinstock, „dass es Spaß macht, sich am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Es ist auf jeden Fall deutlich unterhaltsamer, als unbeteiligt im Stuhl zu hängen und auf den Sekundenzeiger der Armbanduhr zu starren!“ (…)

Weinstock, eben noch Schüler, jetzt Student, ist kein Pädagoge, er hat sich seine Theorien, wie man von Durchschnitt auf Überdurchschnitt kommt, selbst zusammengebastelt. Fortan können Oberstufenschüler von seiner Erfahrung profitieren. Nicht alle Nachahmer werden durchhalten, aber manche werden wohl mit Gewinn seine Anleitungen für ein besseres Abiturergebnis nutzen. (…)

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, Wissen und Forschen, 16.02.2016, Christine Brinck, Vom schlechten Schüler zum 1,0-Abi


Ergänzung zu obigem Artikel:

Danksagung (S. 170, 171): (…) Als Allererstes möchte ich mich deshalb bei meiner Familie bedanken. Ihr seid die wichtigsten Menschen in meinem Leben und ohne euch wäre ich nichts. Mama, Papa, Schwester Estelle, Großmutter Renate, Großmutter Aldona und alle weiteren Familienmitglieder – einer für alle und alle für einen!
Besonders herzlich möchte ich mich auch bei meinen Lehrern und bei meiner Schulleitung bedanken, dass sie mich damals nicht aufgegeben haben, sondern mir eine zweite Chance gaben und mich aktiv und selbstlos gefördert haben. Dafür werde ich euch für immer dankbar sein. Wir sind eindeutig die allerbeste Schule, weil wir die allerbesten Lehrer haben! Ich möchte mich auch für all das Wissen bedanken, das ihr mir vermittelt habt, und für die humanistischen Werte, die ihr mir an dieser interreligiösen Schule täglich vorgelebt habt. (…) Danken möchte ich auch Herrn Döring, meinem langjährigen Nachhilfelehrer, dessen geniale Erklärungen mir immer sehr weiterhalfen. (…)
Meinen Cousin Leo möchte ich hiermit offiziell herausfordern, meinen Schnitt zu schlagen. Viel Glück, Leo! (…)  Greif an!

David Weinstock: Schluss mit Ungenügend! Wie ich vom schlechten Schüler zum 1,0 Abiturienten wurde – und wie du das auch schaffst.


siehe auch: „Schluss mit ungenügend!“
Vom Nichtsblicker zum Einser-Schüler

Interview mit David Weinstock im Fritz-Radio,  11 Minuten


Bei John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von Visible Learning for Teachers, von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer, 2014, S. 78-79, ist nachzulesen:

Wenn man uns bittet, die Namen derjenigen Lehrpersonen zu nennen, die deutlich positive Effekte auf uns hatten, beträgt die Zahl normalerweise zwei bis drei, und die angegebenen Gründe beginnen meist mit Kommentaren über die Fürsorge der Lehrperson oder dass sie „an mich geglaubt haben“. Der Hauptgrund ist der, dass diese Lehrpersonen sich darum gesorgt haben, dass man ihr Fach beherrscht und ihre Leidenschaft teilt – und sie zielten stets darauf, einen mit ihrer Leidenschaft „anzustecken“. Schülerinnen und Schüler merken, wenn Lehrpersonen Fürsorge zeigen, engagiert genug sind und über ausreichend Fähigkeiten verfügen, einen dazu zu bringen, die Herausforderungen und die Freude an ihrem Fach (ob das Sport ist, Musik, Geschichte, Mathematik oder Technik) zu genießen.