Integration im Klassenzimmer

Mikrokosmos statt Mikroghetto

TSP, 12.04.2016, Kommentar von Caroline Fetscher

An den Tag werden sie noch lange denken – und ihre Lehrer auch. An einem Gymnasium in Berlin haben sie ein klassisches Theaterstück inszeniert, ein Dutzend Schülerinnen und Schüler. Sie haben lange geprobt, nachgedacht, viel gelacht, sich manchmal gezankt, eine Menge Text gelernt – und schließlich das Stück klar, klug und spielfreudig auf die karge Bühne ihrer kahlen Aula gestemmt. Grandios! Dann das Wunder: Als alles vorüber war, wollten sie gar nicht mehr weg. Am liebsten wären die jungen Schauspieler über die Osterferien in der Schule geblieben, staunt strahlend einer der Lehrer. So etwas passiert selten, schon gar nicht hier. Und hier auch nur, weil sich Pädagogen, oft in ihrer freien Zeit, enorm engagieren für Kinder und Jugendliche, die Mustafa oder Fatima heißen.

Es ist nämlich eine der Schulen im Land, wie es sie gar nicht geben dürfte.  (…) 97 Prozent [der Schüler] sind „nicht deutscher Herkunft“, was Ämter gern mit „ndh“ abkürzen. Längst hätte eine Quotenregelung für „ndh-Kinder“ solchen Missständen vorbeugen müssen: maximal 50 Prozent, minimal 10 Prozent Kinder, die nicht Muttersprachler sind, das wäre ein Anfang, das groteske Ungleichgewicht zu verändern. (…)

Parallelgesellschaft pur, sozialpolitisch absurd, bildungspolitisch ein Irrsinn. Wie passiert das? Na ja, heißt es bei den Verantwortlichen, das kam einfach so, mit der Zeit. (…)

Naja ist nicht genug. Naja ist ein Armutszeugnis (…) für die fatale Denkarmut der Funktionseliten, die nicht verstehen wollen, was Teilhabe an einer aufgeklärten, dialogfähigen Öffentlichkeit bedeutet – und dass sie durch Schulen zur Welt kommen muss. Wo Lehrende die einzigen Muttersprachler sind, wie sollen da Schüler ohne enorme, zusätzliche Kraftanstrengung in der Landessprache heimisch werden? Wie soll das gehen? Höchstens in Glücks- und Einzelfällen, wenn so ein seltener Funke überspringt von der Probebühne ins Leben. (…)

[Unsere Schulen werden] zum elementar wichtigsten Ort, um in der aufnahmefähigsten Phase der Entwicklung Gemeinsamkeit zu erfahren. In der Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft wird deren demokratisches Fundament kontinuierlich erneuert. Dabei entsteht die Öffentlichkeit von morgen. Vor allem darum darf kein einziger solcher Mikrokosmos ein Mikroghetto sein.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 12.04.2016, Caroline Fetscher, Mikrokosmos statt Mikroghetto

Stand Schuljahr 2015/16:

48 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 95,5% – 50%
59 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 49% – 10%
18 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 9% – 1,9%

siehe vollständige Tabelle unter:  Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache/Migrationshintergrund in Berlin, Schuljahr 2011/12 bis 2015/16