Schlagwort-Archiv: Schulpolitik

Der Spion im Klassenzimmer

Learning Analytics: „Big Brother is watching you“ und „Big Brother is teaching your Children“.

FAZ, 17.01.2018, Forschung und Lehre, Ralf Lankau

Ralf Lankau ist Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Er leitet dort das Labor »Grafik.Werkstatt« an der Fakultät Medien und Informationswesen, forscht zu experimenteller Medienproduktion in Kunst, Lehre und Wissenschaft und publiziert zu Design, Kommunikationswissenschaft und (Medien-) Pädagogik.

In Frankreich werden Handys auf Anordnung von Präsident Macron aus den Schulen verbannt. Deutsche Schüler sollen dagegen in einer Lern-Cloud ausspioniert werden.

Von September 2018 an, dem Beginn des neuen Schuljahrs, sollen Mobiltelefone an französischen Schulen verboten sein. „Heute spielen die Kinder nicht mehr in der Pause, sie stehen nur noch vor ihren Smartphones, und das ist aus pädagogischer Sicht ein Problem“, sagte [Bildungsminister] Jean-Michel Blanquer in einem Interview. Es sei eine Frage der „öffentlichen Gesundheit“, unzweckmäßigen Gebrauch von privaten Mobiltelefonen in der Schule zu reglementieren.

Das Verbot wird ergänzt um massive Investitionen in bessere Bildungschancen vor allem für sozial Benachteiligte. Zusätzlich zu Sofortinvestitionen von zunächst fünfzehn Milliarden Euro sollen mehr als viertausend Lehrkräfte eingestellt und die Klassengröße verkleinert werden.[…] Bei der Bildung liegt der Schwerpunkt in Frankreich eindeutig auf dem Personal und auf der direkten Betreuung. Lehren und Lernen funktioniert nun einmal über menschliche Beziehungen.

Deutschland geht den entgegengesetzten Weg. Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) hat in Kooperation mit dem nationalen Excellence-Schulnetzwerk MINT-EC und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Schul-Cloud entwickelt. Software und Bildungsinhalte lassen sich laut HPI bequem über die Cloud beziehen. Um Konfiguration und Administration kümmern sich Experten. Die Schulen müssen sich nur noch aus dem bedienen, was ihnen externe Dienstleister liefern. Eine moderne Lehr- und Lerninfrastruktur, heißt es in einer Broschüre des HPI, sei „unabdingbar, um die digitale Transformation im Bildungssektor zum Erfolg zu führen“. Gefordert wird dies wohlgemerkt von IT-Anbietern, nicht von Pädagogen. Ob man Kinder optimal auf das Leben vorbereitet, indem man sie möglichst früh an das Arbeiten an Bildschirmen gewöhnt, bezweifeln diese mehrheitlich.

Mit der Schul-Cloud werden Hardware- und Softwareverwaltung ausgelagert. Interessanterweise steht über die dadurch entstehenden Kosten nichts im Papier. Das Ziel, öffentliche Bildungseinrichtungen in Bildungsmärkte umzuwandeln, wird dagegen unumwunden eingestanden: „Die Schul-Cloud wird dazu beitragen, einen prosperierenden Bildungsmarkt mit innovativen digitalen Bildungsprodukten zu etablieren. […] Über integrierte Evaluationsmechanismen können die Lernprogramme bewertet und kommentiert werden, so dass diese beständig weiterentwickelt werden können.“

Mit Weiterentwickeln meinen die Verantwortlichen auch das vollständige Erfassen der Schülerdaten, denn ohne personenbezogene Daten keine digital gestützte Fortbildung. Bei Lernprogrammen heißt das entsprechende Fachwort Learning Analytics. In der Praxis bedeutet das nicht mehr nur „Big Brother is watching you“, sondern „Big Brother is teaching your Children“.

Big-Data-Technik ist die Grundlage für das sogenannte individualisierte oder personalisierte Lernen, für das möglichst viele Daten über jeden Nutzer erfasst und ausgewertet werden. Das gesamte Lernverhalten bis hin zu Emotionen, Einstellungen und sozialem Umfeld werden dafür laut Dirk Ifenthaler von der Universität Mannheim „in Echtzeit erfasst und im weiteren Verlauf berücksichtigt. Somit werden individuelle dynamische Curricula und Echtzeit-Feedback möglich.“

Diese Profile sind derart umfangreich, dass das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Schüler gar nicht mehr gewährleistet werden kann, sobald jemand Zugriff auf die Daten hat. Das ist nicht nur juristisch fragwürdig, sondern auch pädagogisch absurd. Ziel von Lernprozessen ist nicht Messbarkeit, sondern die Persönlichkeitsentwicklung und das Fachverständnis. Die Lerncloud ist deshalb ein massiver Eingriff in Bildungs- und Erwerbsbiographien. Wer den Handelswert von persönlichen Daten kennt, wird nicht darauf vertrauen, dass solch detaillierte Datensätze ungenutzt bleiben. Auch die Anonymisierung der Datensätze ist kein Schutz, wie Forensiker bestätigen. Es ist nur eine Frage des Aufwands, anonymisierte Datensätze zu repersonalisieren.

Es ist unschwer zu erkennen, welche Absicht hinter dem Cloudcomputing steht. Auf der einen Seite werden Schüler und Lehrkräfte mit zunächst kostenlosen Diensten und dem Versprechen moderner Lernformen ins Netz gelockt. Darüber werden sie zu unfreiwilligen Datenspendern und der Prozess des Lernens zu einer Quelle von immer mehr Daten über jeden Einzelnen. Schule und Unterricht werden abhängig von der technischen Infrastruktur. Programme und Nutzerdaten sind in der Cloud gespeichert. Ohne Netzzugang lässt sich weder auf Programme noch auf eigene Daten zugreifen. Schulen und Schüler hängen buchstäblich im Netz der Cloudbetreiber. Die französische Regierung holt das Lernen wieder in die Schule zurück und sperrt das Ablenkungsmedium Smartphone aus. In Deutschland hingegen richtet das Hasso-Plattner-Institut von SAP-Gründer Hasso Plattner eine Schul-Cloud ein, um Schüler und Lehrkräfte mit ihren Geräten ins Netz zu schicken. […]

Die kommissarisch noch amtierende Wissenschaftsministerin Wanka lässt sich unter anderem von August-Wilhelm Scheer beraten, mehrfaches Mitglied im Aufsichtsrat des Softwarekonzerns SAP und ehemaliger Präsident des IT-Branchenverbandes Bitkom. Zusammen mit Frau Wanka ist er Vorsitzender der vom BMBF gegründeten IT-Gipfel-Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“, die den Digitalpakt#D verantwortet. […] So schließen sich die Kreise. Techniker vertrauen auf für sie einträgliche technische Lösungen bei der „Produktion von Humankapital mit validierten Kompetenzen“. Wer aus der Schulpraxis kommt, weiß hingegen, dass die Automatisierung und Medialisierung von Lernprozessen regelmäßig scheitert. Aber um Lernen, Fachwissen und Persönlichkeitsbildung soll es bei der Digitalisierung von Schulen ja auch nicht gehen.

Hervorhebungen im Fettdruck und Einzug durch Schulforum-Berlin
zum Artikel:  FAZ, 17.01.2018, Forschung und Lehre, Ralf Lankau, Der Spion im Klassenzimmer


Leserbrief zu obigem Artikel der Klasse 811 und 812 (8. Klasse) der Sophie-Scholl-Oberschule (Integrierte Sekundar Schule), Berlin

Der Leserbrief erschien am 5.02.2018 in der FAZ:

Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben im Unterricht den Artikel „Der Spion im Klassenzimmer“ vom 17.1. 2018 gelesen und darüber diskutiert. Wir stimmen Herrn Lankaus kritischer Sicht zur Digitalisierung von deutschen Schulen zu.

Empört sind wir darüber, dass den Computern die Macht über die Schüler gegeben werden soll, damit einzelne Institute und Firmen Geld damit verdienen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung sollte etwas dagegen unternehmen, anstatt diesen Plan zu fördern.

Wir sind eine bilinguale Klasse in der Sophie-Scholl-Europaschule in Berlin und haben daher eine besondere Beziehung zu Frankreich. Dort soll, wie man in dem Artikel erfährt, die öffentliche Gesundheit in den Vordergrund gestellt werden. Die französische Regierung will ab dem neuen Schuljahr 2018 das Mobiltelefon komplett in den Schulen verbieten.

Wir sind gegen die Digitalisierung von Schulen, weil wir nicht wollen, dass unsere Daten ausgekundschaftet und benutzt werden. Dass die Schulen dafür noch bezahlen sollen, finden wir absurd. Gewisse Daten könnten in unserem späteren Leben wieder verwendet werden. Wir haben als Jugendliche das Recht, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne dass sie uns im späteren Leben zum Verhängnis werden.

Berlin, den 12.1.2018, Schüler der Klasse 811 und 812 der Sophie-Scholl-Oberschule

Kritik an der Grundschule – Weg von der Selbstlernidylle

Die „neuen Lernformen“ scheinen flächendeckend ihre Opfer gefunden zu haben

Deutschlandfunk Kultur, Politisches Feuilleton, Beitrag vom 08.01.2018
Von Michael Felten

Die Grundschulstudien der letzten Zeit zeigen, Viertklässler verstehen Texte noch schlechter als vor zehn Jahren. Außerdem können sie weniger gut rechnen als der europäische Durchschnitt. Um das zu ändern, sieht der Publizist Michael Felten nicht nur die Politik in der Verantwortung.

Nach jeder Schulstudie gibt’s einige Wochen Aufregung und Streit, aber irgendwann einigt man sich auf die üblichen Verdächtigen: zu wenig Lehrer, zu große Klassen, zu viele Migrantenkinder, diesmal auch noch die verkorkste Inklusion. Dabei wäre genug Geld da. Nur fließt vieles eben in irgendwelche Bankenrettungen oder wird am Hindukusch verpulvert. Berechtigte Forderungen verhallen, das Thema landet wieder in der Versenkung.

Aber jetzt ist eben die Grundschule betroffen, das Fundament unserer Wissensgesellschaft bröckelt. Höchste Zeit also, bezüglich der ersten Schuljahre tiefer zu bohren, Fragen zu stellen, die nicht an Strukturen oder gar Äußerlichkeiten hängen bleiben, sondern ins Innere des Betriebs zielen. Könnte es sein, dass in der Primarstufe im Pädagogischen etwas schief läuft?

Spaßpädagogik, dieser Vorwurf wäre sicher allzu grobschlächtig. Aber dass sich die Grundschule immer noch als Ort der Vermütterlichung versteht, ist eigentlich ein offenes Geheimnis. Viele Lehrer fürchten, von ihren Schützlingen zu viel zu verlangen, sie beim Lernen unter Stress zu setzen. Obwohl alle Unterrichtsforschung sagt: Hohe Erwartungen – verbunden mit guter Unterstützung – sind besonders entwicklungsförderlich, gerade auch für langsamere Lerner. Zudem leiden nicht wenige Pädagogen unter einer Art Führungsschwäche. Sie brauchen etwa arg lange, um Arbeitsruhe in der Klasse herzustellen.

Nicht zuletzt scheinen die „neuen Lernformen“ flächendeckend ihre Opfer gefunden zu haben: Mancher Lehrer hofft immer noch, das sogenannt „selbstgesteuerte, eigenverantwortliche Arbeiten“ – gemeint ist Einzellernen mit Arbeitsblattstapeln – produziere mündigere Bürger. Das Ergebnis solcher Selbstlernidyllik ist aber keineswegs Tiefgang, sondern Oberflächlichkeit. Deshalb war ja auch die Erziehung zur Rechtschreibanarchie so verfehlt – korrekte Orthografie ist eben kein formaler Selbstzweck, sondern Denkschulung und Schlüsselqualifikation, etwa für zügiges Recherchieren.

Der Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke hat schon lange vermutet, dass „nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, gerade Kinder aus bildungsfernem Umfeld diskriminiert“ – übrigens ebenso die wachsende Schar emotional instabiler Kinder. Die Lernforschung konnte das breit bestätigen: „direct instruction“ etwa – also abwechslungsreicher, lehrergelenkter Klassenunterricht – hat sich als eine der leistungsförderlichsten Arbeitsformen erwiesen, gerade in prekären Milieus. Die derzeit heiligen Kühe namens „Freiarbeit“ oder „Individualisierung“ schneiden dagegen vergleichsweise wirkungslos ab. [siehe Anmerkung am Ende des Beitrags]

Was also hilft sozial benachteiligten Kindern am besten, sich aus ihrem Status zu befreien? Die Antwort klingt altmodisch, ist indes schon wieder Avantgarde: ein direkt anleitender und anregender, geduldiger und ermutigender Unterricht. Zudem schadet strukturiertes Lernen besseren Schülern natürlich auch nicht.

Nähmen wir diesen Befund wirklich ernst, würden die Bildungschancen hierzulande wieder weniger auseinanderklaffen. Viele von uns könnten dabei mit Hand anlegen: Lehrer, indem sie es fertigbringen, sich von liebgewordenen Bildungsillusionen zu verabschieden. Und Eltern, die sich trauen, von den Lehrern ihrer Kinder ganz einfach soliden Unterricht zu verlangen.

Michael Felten, geboren 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst an einem Gymasium in Köln unterrichtet. Er ist weiterhin in der Lehrerausbildung tätig und berät Schulen bei ihrer Entwicklung (www.eltern-lehrer-fragen.de). Ihm geht es darum, den Praxiserfahrungen der Lehrer und den Befunden der Unterrichtsforschung mehr Gehör in der Bildungsdebatte zu verschaffen. Seit dem UN-Weltkindertag 2015 betreut er eine Info-Plattform zur Inklusionsdebatte: www.inklusion-als-problem.de

zum Beitrag:  http://www.deutschlandfunkkultur.de/kritik-an-der-grundschule-weg-von-der-selbstlernidylle.1005.de.html?dram:article_id=407745


Erläuterungen zu „direct instruction“ (siehe John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2015, S. 242ff):

Die „Direkte Instruktion“ (= lehrerzentrierte Lenkung des Unterrichtsgeschehens. Die Lehrperson ist in allen Lernprozessen präsent. Ein solcher Unterricht darf nicht mit einem fragengeleiteten Frontalunterricht verwechselt werden) besteht nach Hattie aus sieben Schritten, und zwar aus:

  • Klaren Zielsetzungen und Erfolgskriterien, die für die Lernenden transparent sind;
  • Der aktiven Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler in die Lernprozesse;
  • Einem genauen Verständnis der Lehrperson, wie die Lerninhalte zu vermitteln und zu erklären sind;
  • Einer permanenten Überprüfung im Unterrichtsprozess, ob die Kinder bzw. Jugendliche das Gelernte richtig verstanden haben, bevor im Lernprozess weiter vorangegangen wird;
  • Einem angeleiteten Üben unter der Aufsicht der Lehrperson;
  • Einer Bilanzierung des Gelernten auf eine für die Lernenden verständliche Weise, bei der die wesentlichen Gedanken bzw. Schlüsselbegriffe in einem größeren Zusammenhang eingebunden werden;
  • einer wiederkehrenden praktischen Anwendung des Gelernten in verschiedenen Kontexten.

 Weitere Stellungnahmen:

Dr. Andreas Helmke ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau.
Dr. Volker Reinhardt ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der PH Weingarten

[…] Reinhardt: Was charakterisiert denn nun guten Unterricht?

Helmke: Gut im Sinne von Hattie, also lernwirksam, ist ein Unterricht, (1) in dem den Schülern viel zugetraut, aber auch zugemutet wird, (2) in dem jeder einzelne Schüler an die Grenzen seines Potenzials geführt wird, (3) der alle Möglichkeiten nutzt, sich im Austausch mit Kollegen kontinuierlich ein Bild der Lernprozesse der Schüler sowie des eigenen Lehrens zu machen, (4) der durch strukturierte, effiziente, störungspräventive Klassenführung geeignete Rahmenbedingungen für das Lernen schafft und (5) der in einem Klima stattfindet, das durch Fürsorge, Respekt, Wertschätzung und Freundlichkeit gekennzeichnet ist. (…)

Reinhardt: Kann man auch Erkenntnisse für eine gute Schule aus der großen Metaanalyse von Hattie ableiten?

Helmke: Schulen, die sich die Erkenntnisse von Hattie zu eigen machen, sind solche, in denen zentrale Prinzipien eines lernförderlichen Unterrichts bewusst thematisiert und realisiert werden. (…) Und schaut man sich die Ergebnisse zur Rolle der Schulleitung bei Hattie differenziert an, dann zeigt sich, dass eine unterrichtsbezogene Führung, verbunden mit starken Bemühungen um ein störungsfreies Lernklima, hohe Erwartungen an Lehrpersonen und herausfordernde Ziele für Lernende, besonders lernwirksam sind.

[Hervorhebungen im Text durch den Autor]

zum Artikel:  Interview mit Prof. Dr. Andreas Helmke zur Hattie-Studie interviewt von Prof. Dr. Volker Reinhardt, Lehren & Lernen, 7 – 2013, Seite 8-15

„Es werden inkompetente Lehrer erzeugt“

Lehrerausbildung und zu viele Quereinsteiger sorgen für weniger Professionalität unter den Lehrern, kritisiert der Historiker und Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth, Humboldt-Universität zu Berlin

FAZ, 28.12.2017, Bildungswelten, Heike Schmoll im Interview mit Prof. Tenorth

[…] Heike Schmoll: In Sachsen und Berlin wird inzwischen der Grundschulunterricht mit über 50 Prozent Quer- bzw. Seiteneinsteiger in den Lehrerkollegien aufrechterhalten. Wo liegen die Gefahren des Unterrichtens ohne ausreichende didaktische und pädagogische Schulung?

Prof. Tenorth: Es fehlen vor allem die lehramtsspezifischen Fähigkeiten – für die Grund- oder Berufsschule – und die pädagogisch-psychologischen Kompetenzen. Es gibt zwar ein Fachwissen, aber nicht die Erfahrung, es einem Lehrplan zeitlich, sachlich und adressatenspezifisch zuzuordnen, anregende Aufgaben zu erfinden und qualifizierte Rückmeldungen zu geben. Die Lehrenden können die Erfahrungen, die sie machen, auch ihre Fehler, nicht angemessen zurechnen und selbstkritisch einordnen, sie schreiben Misserfolge den Schülern zu oder verzweifeln, was genauso verfehlt ist. Das ist besonders für die Grundschule fatal, weil damit Motivation und Neugier der Kinder enttäuscht und die Fundamente für alles weitere Lernen nicht aufgebaut werden.

Wie kommt man denn aus diesem Dilemma raus? Sind Coaching und berufsbegleitende Fortbildung nicht zu wenig?

Solch kurzfristigen Maßnahmen sind wenig erfolgreich, weil die Quereinsteiger viel zu früh viel zu viel Unterricht halten müssen und die Kollegen, die sie betreuen und einführen sollen, genauso überlastet sind. Wenn die Quereinsteiger in der Schule und im Kollegium lernen sollen und nicht in der Universität, fehlt richtige Unterstützung. Die betreuenden Mentoren werden nicht freigestellt, bekommen ihre Arbeit nicht honoriert, ihre Motivation wird systematisch zerstört, und man betreibt sehenden Auges eine Entprofessionalisierung des Lehrerberufs.

Zugleich ist die Botschaft aller Leistungsstudien, dass es auf die Professionalität der Lehrer und die Qualität des Unterrichts ankommt.

Ja, aber dann müssen Lehrer erstens Experten ihrer Fächer sein, zweitens Fachdidaktik gelernt haben, um Lernprozesse sach- und adressatenspezifisch organisieren zu können. Und sie müssen drittens pädagogisch-psychologisch kompetent sein, schon um mit den Schwierigkeiten im täglichen Unterricht fertig zu werden. Also mit Störungen, mit schwierigen Schülern, mit den Stundentakten, mit eigenen Enttäuschungen. Erst dann gibt es die Ruhe, trotz des alltäglichen Chaos handlungsfähig zu bleiben. All das fehlt den Quereinsteigern, und das ist in kurzer Frist nicht zu erlernen, das dauert acht bis zehn Jahre. […]

Gibt es für Sie eine Grenze der Heterogenität für einen gelingenden Unterricht, wenn Sie auf die aktuelle Flüchtlingswelle schauen?

Wir haben natürlich schon früher keine homogenen Lerngruppen gehabt. Es gibt immer, selbst an Gymnasien, unterschiedliche kognitive Voraussetzungen, unterschiedliche Schulerfahrungen, Differenzen der Geschlechter, des kulturellen Hintergrundes oder der Erwartungen der Peergroup oder der Eltern oder der Lernenden. Inklusionserwartungen und Migrationserfahrungen erweitern das Spektrum und erzeugen ganz neue Herausforderungen. Dann kann man nicht so tun, als könne man die Gruppe der aktuell kommenden Flüchtlinge rasch nachalphabetisieren oder unterrichtsfähig machen. Das überfordert die Arbeitsfähigkeit eindeutig, denn qualitativ, in den Kompetenzen, und quantitativ gibt es dafür gar kein Personal. Dann schadet man den Behinderten, indem man sie inkludiert, und das ist der harte Skandal. Für die zu integrierenden Flüchtlinge müsste man die Verkehrssprache, die entscheidende Kompetenz, aufbauen. Auf die Frage, wie viele Fachlehrer für Deutsch als Zweitsprache dafür in den Schulen präsent sind, werden die Kultusministerien nicht antworten, weil sie Angst haben, die blamable Realität offenzulegen. Einigermaßen gesichert ist aktuell nur die Kustodialfunktion der Schule, das heißt, sie bewahrt die Schüler auf, dort ist es warm und meist auch zivilisiert – das ist auch was wert.

Aber das ist doch ein bisschen wenig.

Ja, es ist zu wenig. Aber die pädagogischen Programme, die aus dieser Aufbewahrungsleistung etwas machen, fehlen. Viele Lehrer erleben stattdessen kurze Lernzeiten, raschen Wechsel der Schüler, immer neue Anforderungen, überhaupt keine Stetigkeit, ganz zu schweigen davon, dass kaum messbare Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben werden. Die Ganztagsschule wäre nützlich, sie war ja auch mit dem Versprechen angetreten, viele Defizite auszugleichen. Aber die Leistungsdimension fehlt schon in der großen Ganztagsschuluntersuchung. Die haben die Kultusminister – für sich selbst fürsorglich – einfach ausgespart. Gefragt wurde nur nach dem Wohlbefinden.

Die Hoffnung, durch die Ganztagsschule auch die sozial bedingten Unterschiede im Bildungserfolg ausgleichen zu können, ist also Utopie?

Angesichts der Realität von Ganztagsschulen ist es nicht utopisch, sondern blauäugig oder gar eine Täuschung der Öffentlichkeit. Das ginge nur in Ganztagsschulen, in denen auch ganztags gelernt wird, auch mit speziellen Förderprogrammen, reich differenziert. Betreuung allein kompensiert nicht. […]

Was müsste man tun, um das Dilemma zu lösen, dass es Grundschulen offenbar nicht gelingt, die kulturellen Basiskompetenzen so zu vermitteln, dass weiterführende Schulen darauf aufbauen können?

Für die Grundschullehrer müssten die Lernbereiche Deutsch und Mathematik obligatorisch sein. Noch gibt es Länder, in denen man wählen kann. Damit werden mutwillig inkompetente Lehrer erzeugt. Ich wehre mich allerdings dagegen, alle Dilemmata der Schule nur über die Lehrerbildung lösen zu wollen – Kooperation mit den Herkunftsmilieus ist notwendig. Quereinsteiger oder umgeschulte und enttäuschte Gymnasiallehrer sind nicht dazu geeignet, beispielsweise in das Lesen oder den Schriftspracherwerb einzuführen. Man braucht auch genügend Zeit für das Lesen, für das Üben, für das Anwenden. Die Grundschule garantiert die basale Grundbildung nicht, weder im Lesen, Schreiben und der Orthographie, noch für mathematische Basaloperationen oder naturwissenschaftliche Grundeinsichten im Sachunterricht. Wie kann ein Land, eine Schule, eine professionelle Lehrerschaft damit zufrieden sein oder mit dem Befund, dass sie im besten Fall zehn Prozent in den oberen Leistungsstufen hat? [ …]

Hier in Berlin könnte man bei der [Schul-]Verwaltung zuweilen den Eindruck haben, dass man Leistung gar nicht will.

In der Tat gibt es in der Grundschulpädagogik auch die Auffassung, dass man in der Primarstufe nicht leistungsdifferent arbeiten darf, weil das Enttäuschungen bereitet, die Kinder verletzt und ihre Zukunft verbaut – eine Kritik, die ich für aberwitzig halte. Es gibt aber immer noch die Befürworter des Schreibens nach Gehör, die Gegner der Leistungsbewertung und bei allen Bundesländern die Angst, wegen zu strenger Standards schlecht dazustehen. Iglu- und Pisa-Pressekonferenzen sind wohlgeplante Inszenierungen, weil die beteiligten Politiker wochenlang daran gearbeitet haben, nicht über das reden zu müssen, was sie schlecht aussehen lässt. Diese Strategie ist bei allen Bildungspolitikern, gleich welcher Couleur, stark ausgeprägt. Länder wie Bayern tragen das relativ gefasst, weil sie auch relativ gute Ergebnisse haben. Doch auch dort wird daran gefeilt, dass nirgendwo ein kritisches Wort steht, das ein Versäumnis der Bildungspolitik anzeigen könnte. […] Stattdessen hat die Politik ein permanentes Interventionsregime errichtet. Die Politik bejubelt sogar, dass nur noch sechs bis sieben Prozent kein Abschlusszeugnis haben, und ignoriert – gegen die eigenen Kompetenzmessungen –, dass mehr als zwanzig Prozent in der Schule nicht die Kompetenz erwerben, am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt teilzunehmen, und dass etwa 25 Prozent der Ausbildungsverträge nach kurzer Zeit wieder aufgelöst werden, weil elementare Fähigkeiten fehlen. Jetzt fangen die Betriebe an nachzualphabetisieren.

Was bedeutet das für die Abschlüsse?

Die symbolische Garantiefunktion der Abschlüsse ist zunehmend geschwächt. Wer ein Abiturzeugnis hat, ist nicht unbedingt studierfähig. Zeugnisse bescheinigen Kompetenzen, die gar nicht da sind. Die mit dem Zertifikat verbundenen Versprechen werden nicht eingelöst. Statt mit dem Berechtigungssystem Schule und Beruf, Schule und Hochschule, Fort- und Weiterbildung chancenfördernd zu verbinden, also die egalisierende Funktion schulischer Leistungsbewertung zu erhalten, kann es zu einer völligen Entwertung der schulischen Bildung und zu amerikanischen Verhältnissen kommen. […]

zum Artikel:  FAZ, 28.12.2017, Bildungswelten, Heike Schmoll im Interview mit Prof. Tenorth, Humboldt-Universität zu Berlin, Es werden inkompetente Lehrer erzeugt

«Eine gute Schule für unsere Kinder»

Baden-württembergische Eltern brachten folgende Anzeige in der „Stuttgarter Zeitung“ am 23.04.2016. Heute so aktuell wie damals!

Elternanzeige als PDF-Datei

Die Ungereimtheiten der Bildungspolitik der vergangenen Jahre hatten einige Eltern motiviert, mit anderen Eltern ins Gespräch zu kommen und aktiv zu werden. Das Ergebnis war eine Anzeige in der «Stuttgarter Zeitung» im April 2016, von über 100 Eltern unterschrieben. Sie ist auf ein enormes Echo gestoßen, woraufhin die Elterninitiative Schule Bildung Zukunft gegründet wurde. Für den 7. Oktober 2017 hatte die baden-württembergische Elterninitiative Schule Bildung Zukunft zu einer Vorstellung der Initiative und zu einem Vortrag mit Diskussion nach Böblingen geladen.

Gegen «Neue Lernkultur im Musterländle»

Der Erziehungswissenschaftler Matthias Burchardt von der Universität Köln erklärte in seinem Vortrag die Hintergründe der von den Eltern geschilderten Entwicklung. Der Referent kennt die Situation in Baden-Württemberg. 2012 und 2013 war er Lehrstuhlvertreter an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Aus nächster Nähe war er mit dem Umbau des baden-württembergischen Schulsystems in den Jahren 2011 bis 2016 konfrontiert. Mit seinem Artikel in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom Mai 2013, «Neue Lernkultur im Musterländle», trug er maßgeblich dazu bei, dass der geistige Vater des baden-württembergischen Gemeinschaftsschulmodells – der Schweizer Bildungsunternehmer Peter Fratton mit seinen 4 pädagogischen Urbitten, «Erziehe mich nicht, bringe mir nichts bei, erkläre mir nicht, motiviere mich nicht»1 – den Hut nehmen musste. Aber die Bildungspolitik blieb vorerst die gleiche.

Täuschung mit schönen Worten …

Burchardt stellte einleitend fest, dass an vielen Schulen – auch in Baden-Württemberg – nicht mehr das unterrichtet wird, was an Bildung notwendig ist, damit unsere Gesellschaft und Demokratie funktionieren kann. Er sprach von einer Täuschung mit schönen Worten und verdeutlichte dies mit verschiedenen Beispielen aus dem Wortkasten der «Schulreformer». So spreche man von einem «individualisierenden Unterricht», trage aber nichts zur Ausbildung von Individualität und Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen bei. Man spreche vom «selbstgesteuerten Lernen», lasse Kinder und Jugendlich aber eher vereinzeln und auf ihrem Weg in eine durch zwischenmenschliche Bindung gefestigte Selbstständigkeit im Stich. Man spreche von einer «Orientierung an der Arbeitswelt», bereite die jungen Menschen aber in keiner Weise auf die tatsächlichen Anforderungen im Berufsleben vor.

… und «Zahlenzauber»

Hinzu komme ein «Zahlenzauber». So rühme sich die Bildungspolitik, die Abiturientenzahlen enorm erhöht zu haben, verschweige dabei aber, dass diese Vermehrung auf Kosten der Qualität erreicht wurde. Er verwies auf das Beispiel des kompetenzorientierten Unterrichts, der dazu geführt hat, dass Neuntklässler schriftliche Abituraufgaben im Fach Biologie lösen können – weil es ausreichend viel Punkte gibt, wenn man die Texte in den Aufgabenmaterialien lesen und verstehen kann.

Akteure ohne demokratische Legitimation

Am Werk seien bildungspolitische Akteure ohne politisches Mandat. Burchardt nannte die OECD und eine Reihe privater Stiftungen wie Bertelsmann, Bosch oder Breuninger. Sie bestimmen die schulpolitische Agenda, nicht mehr die demokratisch gewählten Volksvertreter und schon gar nicht die Bürger selbst. Völlig unbegründet werde behauptet, die Schulreformen seien wie die Folgen eines Naturgesetzes, «alternativlos» und nur von «Experten» in die Wege zu leiten. Weiterlesen

Brandbrief warnt vor Quereinsteigern an Grundschulen

„Unabsehbare Folgen für den zukünftigen Bildungserfolg der Kinder“

Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), der rund 80 Professorinnen und Professoren und weitere wissenschaftliche Mitarbeiter angehören, warnt aufgrund des eklatanten Lehrkräftemangels und des verstärkten Quereinstiegs im Grundschulbereich vor den unabsehbaren Folgen für den zukünftigen Bildungserfolg der Kinder. Durch die massive Beeinträchtigung der Professionalität im System Grundschule können für die Kinder am Anfang ihrer Bildungslaufbahn, für ihre Bildung und Erziehung, erhebliche negative individuelle und gesellschaftliche Folgen resultieren.

In ihrer Funktion als Vertretung der wissenschaftlichen Grundschulforschung und der Grundschulpädagogik nimmt die Kommission mit großem Unverständnis die derzeitige Praxis zur Kenntnis, dass in vielen Bundesländern eine sehr große Anzahl von Personen OHNE entsprechende fachliche, fachdidaktische und vor allem pädagogisch-psychologische Qualifikation als sog. Seiten- und Quereinsteiger in den Schuldienst der Länder eingestellt und sogar dauerhaft übernommen wird. Gleiches gilt für Studierende, die ihr Studium noch nicht beendet haben, aber gleichwohl an Grundschulen bereits eigenverantwortlich unterrichten. Über diese Praxis sind zunehmend Personen im Schuldienst der Grundschule tätig, die kein wissenschaftliches Lehramtsstudium der entsprechenden Schulform und kein Referendariat abgeschlossen haben. […]

Die Kommission führt weiter aus: Professionelle Grundschullehrkräfte benötigen sowohl fundierte fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kompetenzen in den grundschulrelevanten Unterrichtsfächern als auch eine bildungswissenschaftliche Ausbildung mit grundschulpädagogischen und grundschuldidaktischen Schwerpunkten.

Die spezifischen inhaltlichen Anforderungen an den Grundschullehrberuf ergeben sich aus der Tatsache, dass die Grundschule als erste Schule im Bildungssystem und als Schule für alle Kinder für die grundlegende Bildung verantwortlich ist. Grundlegende Bildungsprozesse anzuregen, zu begleiten und zu unterstützen, Kinder in die sog. Kulturtechniken einzuführen und dabei allen Kindern mit ihren je eigenen und höchst unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gerecht zu werden, stellt sehr hohe Anforderungen an den Grundschullehrberuf. Gerade die gestiegenen Herausforderungen an einen im umfassenden Sinne inklusiven Unterricht erfordern besondere professionelle Kompetenzen. [..]

Die durch das Studium des Lehramts für Grundschulen und dem anschließenden Referendariat erreichten Qualitätsstandards werden durch die Einstellung von nicht adäquat ausgebildeten Personen massiv konterkariert. Ein vergleichbares Vorgehen beispielsweise in der Medizin würde als vollkommen verantwortungslos bzw. als undenkbar bezeichnet.

Die Kommission betrachtet die Einstellung von Seiten- und Quereinsteigern deshalb mit großer Beunruhigung und sieht in dieser Entwicklung sowohl einen erheblichen Rückfall hinter die geltenden Standards für die Qualifikation von Grundschullehrkräften als auch eine massive Beeinträchtigung der Professionalität im System Grundschule. Für Kinder am Anfang ihrer Bildungslaufbahn, für ihre Bildung und Erziehung, können daraus erhebliche negative individuelle und gesellschaftliche Folgen resultieren. […]

Die Kommission fordert deshalb alle in der Bildungspolitik verantwortlichen Personen in den Bundesländern dazu auf, ihrem Auftrag gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass die scheinbar notwendige Einstellung von Seiten- und Quereinsteigern zwingend mit Maßnahmen verknüpft wird, die die Professionalität aller dauerhaft in Grundschulen als Lehrkraft tätigen Personen sicherstellt. Dies kann qualitativ nur durch eine professionsbezogene Nachqualifizierung und quantitativ durch entsprechend hochwertige Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen, in „Schnellkursen“ können keine wissenschaftlichen und universitären Standards des Grundschullehrberufs erreicht werden. Zusätzlich sind längerfristige Maßnahmen wie der Ausbau von Studienplätzen zu ergreifen, um zukünftig den Bedarf mit grundständig und vollständig ausgebildeten Lehrkräften decken zu können.

Die Reaktion auf den Brandbrief: Die Bildungsverwaltung in Berlin wiegelt ab. „Keine signifikanten Unterschiede“ zwischen gelernten Lehrern und Quereinsteigern festgestellt.

Der Gesamtpersonalrat Dieter Haase zum Thema Quereinsteiger in der Berliner Zeitung vom 10.11.17: „Mittlerweile dauert es oft zwei Jahre, bis Quereinsteiger in Berlin ihr Referendariat oder ein berufsbegleitendes Studium beginnen“. Begründung: „Die Plätze reichen einfach nicht mehr aus“.

Quereinsteiger werden auch aus dem Ausland in die Hauptstadt gelockt. Mit Sprüchen wie: „Revierwechsel gefällig? Kohle gibt´s auch bei uns“. Es reicht dennoch nicht. Dabei hat die Berliner Senatsschulverwaltung nichts unversucht gelassen, den Lehrerberuf attraktiver zu machen: Die Pflichtstundenanzahl wurde erhöht, die Verbeamtung abgeschafft und Präsenztage eingeführt. Willkommen in Berlin!

Pilot ohne Flugschein – unvorstellbar!

Der Berliner Pädagoge Robert Rauh, Lehrer des Jahres 2013, zur Entqualifizierung des Lehrerberufs im TSP vom 18.09.2016:

Stellen Sie sich vor, sie fliegen in den Urlaub und die Chef-Stewardess sagt vor dem Abflug durchs Bordmikrofon: Heute fliegt sie kein Pilot, sondern ein Quereinsteiger. Er besitzt Lebenserfahrung und eine wissenschaftliche Ausbildung als Programmierer für Flugsimulatoren. Zurzeit wird er im Cockpit nachqualifiziert. Beim Fliegen. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt an Bord. Unvorstellbar!

In Sachen Quereinsteiger ohne pädagogische Qualifikation ist Berlin mal nicht Schlusslicht, sondern Vorreiter. Da muss man sich nicht über die Ergebnisse wundern: (Im IQB-Ländervergleich 2016 wird deutlich: Wieder blieb in Berlin ein Drittel der Viertklässler unter den Minimalanforderungen für Rechtschreibung, und fast 28 Prozent verfehlten sie im Fach Mathematik)

Berlin hat mit Sachsen bundesweit die höchste Quereinsteiger-Quote. In Berlin waren mehr als die Hälfte der neu eingestellten Grundschullehrer Quereinsteiger, nämlich 56 Prozent, berichtet die Berliner Zeitung vom 10.11.2017. Besonders hoch ist der Anteil der pädagogisch nicht ausgebildeten Seiteneinsteiger ausgerechnet an den Problemschulen – etwa in Wedding oder Neukölln.

Das Experiment auf Kosten unserer Schülerinnen und Schüler geht weiter!

siehe Artikel:  https://www.berliner-zeitung.de/berlin/brandbrief-zu-quereinsteigern-kinder-koennten-schaden-nehmen-28826132

siehe Artikel:  http://www.tagesspiegel.de/politik/lehrermangel-brandbrief-warnt-vor-quereinsteigern-an-grundschulen/20565902.html

siehe Artikel:  https://www.berliner-zeitung.de/berlin/neue-lehrer-in-berlin-tausende-unqualifizierte-quereinsteiger-duerfen-nun-unterrichten-28253276

siehe auch:  Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)

Inklusion: „Zu schnell, zu radikal, zu ideologisch“

„2017 hat eine Wende in der Inklusionsdebatte gebracht“

Zu schnell, zu radikal, zu ideologisch – die Art, wie Inklusion an deutschen Schulen umgesetzt wird, gefährdet das Wohl vieler Kinder. Dieser Meinung ist Gymnasiallehrer und Autor Michael Felten. Im Interview plädiert er für eine ehrlichere Debatte.

Bildungsklick, 10.11.2017, Interview Johanna Böttges

Herr Felten, was läuft falsch bei der Umsetzung der Inklusion?

Das Ganze geht aus von der UN-Behindertenrechtskonvention, die dafür plädiert, allen Kindern das Recht auf Bildung im allgemeinen Schulsystem zu gewährleisten. In Deutschland ist von Teilen des pädagogischen Diskurses daraus gemacht worden: Alle Kinder mit Beeinträchtigungen haben in Zukunft das Recht, an jeder Schulform unterrichtet zu werden. Was letztlich, wenn man es praktisch betrachtet, entweder eine extrem teure Lösung bedeuten würde oder massive Beeinträchtigungen des Lernens für alle Beteiligten. Die UNO hatte aber primär diejenigen Länder im Auge, in denen Kinder mit Behinderung bislang vom öffentlichen Schulsystem ausgeschlossen sind. Was die UNO überhaupt nicht wollte, war, unser hochentwickeltes Förderschulsystem einzustampfen und dafür zu sorgen, dass sich in Deutschland eine Einheitsschule entwickelt. Wir haben es bei dieser überhasteten und schlecht ausgestatteten Inklusion mit einer Logik des Misslingens zu tun. Man findet einen schönen Begriff, „Gemeinsames Lernen“, um das Empfinden von Unterschieden zu reduzieren. Tatsächlich wird dieses dadurch aber verstärkt.

Welche Rolle sollen Förderschulen künftig spielen? 

Unsere Förderschulen, in denen die Lehrer kleine Gruppen betreuen und die Kinder über längere Zeit kennen, haben bisher sehr gute Arbeit geleistet. Das ist durch die Inklusionseuphorie der letzten Jahre arg in den Hintergrund getreten. Die Förderschule sollte auf jeden Fall erhalten bleiben, weil sie den Kindern mit besonderen Entwicklungsstörungen – entweder in bestimmten Phasen ihrer Schullaufbahn oder in manchen Fällen auch während der ganzen Zeit – die besseren Förderbedingungen bietet. Die Übergänge zwischen Förderschulen und Regelschulen müssten aber flexibler sein. Wir müssen dual-inklusiv denken. Diesen Begriff hat Otto Speck, emeritierter Sonderpädagoge der LMU München, geprägt. Es geht darum, für jedes einzelne Kind festzustellen, wo es optimal aufgehoben ist. Das ist für die meisten Kinder die Regelschule. Und für manche Kinder ist es eben, phasenweise oder auch für die ganze Schulzeit, die Förderschule mit ihrer hochspezifischen Expertise.

Wie könnte Gemeinsames Lernen an Regelschulen aussehen?

Man muss es einfach wörtlich nehmen: Wo findet denn tatsächlich Gemeinsamkeit statt? Zwei, drei Förderkinder in einer Regelklasse, die erleben doch ganz oft: „Ich bin ganz anders als die anderen!“ In Bayern und Baden-Württemberg gibt es sogenannte Partner- oder Außenklassen. Das sind Förderklassen in einem Schulverband, also etwa einer Real- oder Hauptschule, die eine Regelklasse als Partnerklasse haben. Sie feiern nicht nur Feste miteinander, sondern haben zum Beispiel auch gemeinsamen Sportunterricht. Sinnvoll scheint mir auch, Schwerpunktschulen zu bilden, so wie es in Nordrhein-Westfalen jetzt angestrebt wird. Das sind Regelschulen, die personell und sächlich so gut ausgestattet sind, dass man Kindern mit verschiedenen Förderbedarfen wirklich gerecht werden kann. Dort würden dann mehrere Sonderpädagogen arbeiten, die alle sonderpädagogischen Fachrichtungen abdecken.

In NRW will die neue Landesregierung einen Gang zurückschalten und hat zum Beispiel die Schließung von Förderschulen vorerst gestoppt. Auch in Niedersachsen und anderen Bundesländern fordern Eltern und Politiker, die Entwicklung zu verlangsamen. Sehen Sie einen bundesweiten Trend? 

Ich glaube, das Jahr 2017 hat so etwas wie eine Wende in der Inklusionsdebatte gebracht. Es ist deutlich geworden – sei es durch Studien und andere Veröffentlichungen, sei es durch die Debatten im Vorfeld der Landtagswahlen – dass es mit Wohlfühlfloskeln bei diesem heiklen Thema nicht getan ist. In der überregionalen Presse wurde kritischer als zuvor über die Inklusionspraxis berichtet, und  in der Fachpresse kommen verstärkt Experten zu Wort, die davor warnen, übereilt, ohne ausreichende Ressourcen und ohne gesicherte Standards vorzugehen. Ich glaube, dass jetzt eine Phase begonnen hat, in der man etwas behutsamer an diese Frage herangeht.

zum Interview:  https://bildungsklick.de/schule/meldung/2017-hat-eine-wende-in-der-inklusionsdebatte-gebracht/


Vom 20. bis 24. Februar 2018  findet wieder in Hannover die Bildungsmesse didacta statt. Zu den Referenten gehört auch Michael Felten:

Forum Bildung
Inklusion: Was läuft falsch?
24. Februar 2018, 12:15 – 13:15 Uhr

Forum Unterrichtspraxis
Gute Lehrer-Schüler-Beziehung, der Geheimcode für Unterrichtserfolg – wie geht das eigentlich
23. Februar 2018, 15:00 – 16:00 Uhr

Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.
Michael Felten, Lehrer und Publizist, freier Schulentwicklungsberater in Köln, Lehrbeauftragter in der Lehrerausbildung an der PH Heidelberg, Autor (zuletzt 2017: Die Inklusionsfalle, siehe Bücherliste)