Schlagwort-Archiv: Schulpolitik

Berliner Bildungsdesaster – Wo bleibt der Aufschrei der Eltern?

Berlin braucht 1000 neue Grundschullehrer – hat aber nur 175

Der Senat in Berlin hat es versäumt, von den Universitäten eine größere Zahl von Studienplätzen für spätere Grundschullehrer zu verlangen. Die fehlen jetzt.

08.02.2016, Susanne Vieth-Entus
In Berlin verschärft sich dieses Jahr der Mangel an Grundschulpädagogen massiv. Knapp 1000 für das Jahr 2016 zu besetzenden Stellen stehen nur 175 vollständig ausgebildete Referendare gegenüber. Dies teilte die Bildungsverwaltung auf Anfrage mit. (…)
Der Bedarf war aufgrund der Pensionierungswelle vorhersehbar. (…) Offenbar hat niemand den Hochschulen rechtzeitig vermittelt, wie viele Lehrer in Pension gehen und ersetzt werden müssen. (…)

Quelle: Senatsverwaltung für Bildung; TSP

Quelle: Senatsverwaltung für Bildung; TSP

In Berlin ist fast jeder fünfte Lehrer über 60 Jahre alt. Es gibt somit weit über 5000 Lehrer in dieser Altersgruppe. Dies bedeutet, dass pro Jahr rund 1000 Lehrer in Pension gehen. Hinzu kommt, dass die Schülerzahl – etwa durch Zuzüge aus anderen Bundesländern – um jährlich rund 5000 wächst. Auch das treibt den Lehrerbedarf hoch. Zusätzlich werden für tausende Flüchtlingskinder Pädagogen gebraucht. (…)
Bald wird jeder zweite Berliner Schüler eine nichtdeutsche Muttersprache haben, aber es fehlen Pädagogen, die den schwierigen Prozess der zweisprachigen Alphabetisierung steuern können. Es mangelt an Lehrern, die allen Kindern, ob deutschstämmige oder nicht, das Fundament aller Fundamente beibringen können, nämlich lesen und schreiben. Regelmäßig schneiden die Drittklässler bei Vergleichsarbeiten in diesen Fächern schlecht ab. (…)
Im Ressort von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) laufen alle Fäden und Planungen zusammen. Sie hat theoretisch viel Macht, um den jungen Menschen einen erfolgreichen Start ins Leben zu ermöglichen. (…)

Zu den Artikeln: Der Tagesspiegel, 08.02.2016, Susanne Vieth-Entus, Berlin braucht 1000 Grundschullehrer S.1, Berliner Bildungsdesaster S.1, Leerstellen, Fragen des Tages, S. 2


Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft:

„Was Berlin bildungspolitisch in den letzten Jahren vorangebracht hat, sucht seinesgleichen in anderen Bundesländern. (…)“

„(…) Denn es geht um nichts Geringeres als die Chancen der jungen Generation und damit um die Zukunft unserer gesamten Gesellschaft.“

„Die Berliner Schulpolitik hat das Ziel, dass alle Schülerinnen und Schüler sehr gute schulische Erfolge erzielen und den bestmöglichen Schulabschluss erlangen. Ohne die erfolgreiche Absolvierung der Schule ist es sehr schwer, eine Berufsausbildung oder ein Studium zu erlangen.“

Keine überprüfbaren Aussagen

Wie die Friedrich-Ebert-Stiftung eine umstrittene Schulreform schönredet

09.01.2016, von Rainer Werner

Als bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg im Jahre 2011 die grün-rote Regierung an die Macht kam, machte sie sich sofort ans Werk, das bis dahin sehr erfolgreiche Schulsystem gehörig «umzupflügen». Zentrum der «Schulreform» war die Gründung von Gemeinschaftsschulen, mit deren Hilfe das Kernanliegen von Grün-Rot, ein (sozial) «gerechtes Schulsystem» verwirklicht werden sollte. Da an dieser Schulform die Spreizung der Begabungen bei den Schülern sehr groß ist, kann der Unterricht nicht mehr im Klassenverband stattfinden, er wird deshalb individualisiert. Jeder Schüler arbeitet einen auf sein Leistungsvermögen abgestimmten Lernplan ab. Vier Jahre später ist Ernüchterung eingekehrt. Weder die Wissenschaft noch die Eltern sind von dieser Schulform völlig überzeugt, weil sich nicht nur bei den Schülern Leistungsdefizite gezeigt haben, sondern weil im Unterricht Begleiterscheinungen zu beobachten waren, die man kaum als «sozial» bezeichnen kann. Einige Eltern sprechen sogar von einer perfiden Form der Selektion innerhalb der Schülerschaft, die die Individualisierung des Lernens mit sich gebracht habe. (…)

zum Artikel:  Für eine gute Schule, 09.01.2016, Rainer Werner, wie-die-friedrich-ebert-stiftung-eine-umstrittene-schulreform-schoenredet

siehe auch: Für eine gute Schule, Rainer Werner, Neue Schulformen oder eine bessere Pädagogik?

Es wird auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge auf Anweisung der Kultusbehörde experimentiert

Arbeitskreis Schule und Bildung in Baden-Württemberg

06.01.2016,  Pressemitteilung
Bildungspolitischem Landtagswahlkampf droht bislang Oberflächlichkeit
Neuerscheinung aus der Schweiz gibt der Diskussion über Erziehung und Bildung wieder Gewicht und Niveau

Zwei Monate vor der Landtagswahl befürchtet der «Arbeitskreis Schule und Bildung in Baden-Württemberg», dass sich die bildungspolitischen Auseinandersetzungen im Rahmen des Wahlkampfes auf Oberflächliches beschränken werden.

Einen ersten Eindruck von dem, was zu erwarten ist, bot die im Dezember 2015 von der Friedrich Ebert Stiftung herausgegebene, knapp 50 Seiten umfassende Studie «Kontrovers, aber erfolgreich!? Eine Zwischenbilanz grün-roter Bildungsreformen in Baden-Württemberg».

Im Auftrag der SPD-nahen Stiftung hatten Marius R. Busemeyer und Susanne Haastert, Politikwissenschaftler an der Universität Konstanz, Gespräche mit 25 zu meist Verbands- und Parteifunktionären sowie mit Schulleitungen und ganz wenigen Lehrern, Eltern, Schülern und Vertretern der kommunalen Verwaltung von 4 Gemeinschaftsschulen geführt, um deren Meinung über die grün-rote Bildungspolitik, deren Ziele und deren Zielerreichungsgrad zu erfragen.

Die schriftlich vorliegenden Ergebnisse der Studie zeichnen sich durch eine erschreckende Oberflächlichkeit aus. Bildungspolitischer oder gar pädagogischer Tiefgang fehlt völlig.
Hier eine Kostprobe, der man viele weitere hinzufügen könnte:

«Die Erfahrungen mit der Gemeinschaftsschule bewerten die Schüler_innen trotz der anfänglichen Umstellung auf den ungewohnten Unterrichtsstil sehr positiv. Zwar verbringen die Schüler_innen durch den Ganztagsbetrieb mehr Zeit in der Schule, haben danach aber keine Schularbeiten mehr zu erledigen. Dadurch empfinden sie weniger Druck zu Hause – und wenn doch einmal Unterstützung beim Lernen gebraucht wird, sei die Hilfsbereitschaft der Eltern größer. Die Eltern bestätigen, dass den Familien durch den Wegfall der Verantwortung für Hausaufgaben und Lernen mehr freie Zeit für gemeinsame Aktivitäten bleibt.»

Nirgendwo ist zum Beispiel die Rede davon, wie und was genau die Schüler in den seit 3 Jahren bestehenden Gemeinschaftsschulen wirklich gelernt (oder aber nicht gelernt) haben und wie sie sich als junge Menschen in ihrer Persönlichkeit tatsächlich entwickelt haben. Geschweige denn, dass solche Ergebnisse mit denen von anderen Schulen verglichen wurden. Schon gar nicht gefragt wurde nach der Gemeinwohltauglichkeit grün-roter Bildungspolitik.

Das entspricht den bisherigen Versuchen der grün-roten Landesregierung, die Diskussion über ihre Schulreformen zu banalisieren, zu trivialisieren und allein oberflächlich zu gestalten (mit Parolen wie «Vielfalt macht schlauer»). Soll noch der denkende und mitfühlende Mensch, der mündige Bürger in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft angesprochen werden? Oder nur noch eine Karikatur des Menschen, die auf «Funktionen» wie Produktion und Konsum, Spaß und Bequemlichkeit reduziert wird – messbar, berechenbar und steuerbar, aber ohne wirkliche Individualität und ohne Gemeinschaftsgefühl? Was ist das verdeckte Ziel der Schulreformen?

In unserem Nachbarland Schweiz haben sich nun auch «Professoren, Lehrer, Wissenschaftler, Kulturschaffende und Eltern mit links-liberaler Gesinnung »mit deutlicher Kritik an den dortigen Schulreformen zu Wort gemeldet. Frappant sind die Parallelen zur Entwicklung in Baden-Württemberg.

Was in der Schweiz zum Beispiel als «Lehrplan 21» sehr umstritten ist und intensiv diskutiert wird, sind in Baden-Württemberg die für dieses Jahr geplanten neuen Bildungspläne. Alle Schlagwörter aus Baden-Württemberg geistern auch durch unser Nachbarland Schweiz. Die Stellungnahmen aus der Schweiz haben nicht nur Gewicht und Niveau, sie sind auch für unser Bundesland von großer Bedeutung.  (Die Broschüre hat den Titel «Einspruch. Kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan21» und kann bei einem der Herausgeber, dem Schweizer Lehrer Alain Pichard, per E-Mail (arkadi@bluemail.ch) bestellt werden.)

c/o Ewald Wetekamp, Wassergasse 12, 78333 Stockach
mail@arbeitskreis-schule-und-bildung.de
www.arbeitskreis-schule-und-bildung.de


Weitere Auszüge aus der Auftragsstudie „Kontrovers, aber erfolgreich!? – Eine Zwischenbilanz grün-roter Bildungsreformen in Baden-Württemberg“:

(…) Die Oppositionsparteien, Realschul-, Gymnasial- und Berufsschullehrerverbände sowie der Volkshochschulverband kritisieren, dass die grün-rote Landesregierung keine Problemanalyse durchgeführt habe (Exp13, Exp23); stattdessen, so das Verständnis dieser Akteur_innen, dienten die Reformen primär der Umsetzung einer ideologischen Vorstellung mit dem Ziel der „Einheitsschule“ (Exp4, Exp13, Exp17, Exp20, Exp23, Exp25). (…) (Seite 18)

Bildungsgerechtigkeit und Qualitätsverbesserung werden von allen Akteur_innen als sehr hohe – oder sogar die höchsten – Ziele von Bildungspolitik eingeschätzt.
Jedoch sind die Auffassungen darüber sehr unterschiedlich, was Bildungsgerechtigkeit oder auch Qualität im Schulsystem konkret bedeuten. (…) (Seite 19)

Aus Sicht dieser Akteur_innen (Exp2, Exp4, Exp17, Exp20, Exp23, Exp25) waren die von der grün-roten Landesregierung durchgeführten Reformen nicht nur unnötig, sondern haben sogar einen gegenteiligen Effekt auf Bildungsgerechtigkeit, weil sie die Vielfalt der Schulformen angriffen, die leistungsstarken Schüler_innen nicht angemessen förderten und zu einem Anstieg der Schülerzahlen an Privatschulen geführt hätten (ebd.). Tendenziell sprechen sich diese Akteur_innen dafür aus, das gegliederte System beizubehalten. (…) (Seite 19)

(…) Befürworter_innen als auch Kritiker_innen der Landesregierung [sagen], dass noch abzuwarten bleibt, ob sich die Reformen tatsächlich auf die Bildungsgerechtigkeit auswirken werden. (Seite 20)

(…) Insgesamt sind Vertreter_innen aller Akteursgruppen der Meinung, dass die Entscheidung für eine weiterführende Schule teilweise nicht am Kindeswohl ausgerichtet werde und dann dem Kind eher psychisch schade (Exp2, Exp4, Exp5, Exp7, Exp8, Exp11, Exp12, Exp13, Exp14, Exp19, Exp20, Exp22). Dies resultiere aus einem Mangel an Beratung für die Eltern (Exp5, Exp6, Exp7, Exp8, Exp11, Exp14, Exp15, Exp16, Exp18, Exp20); zum einen hätten die Grundschullehrer_innen keine zusätzlichen Stunden für die erforderliche intensivere Beratung zugesprochen bekommen (Exp3, Exp19, Exp25), zum anderen wollten einige Eltern die Beratung nicht zur Kenntnis nehmen bzw. folgten auch nicht der unverbindlichen Empfehlung (Exp2, Exp22). (…) (Seite 26)


Zusammenfassend kann man mit dem Erziehungswissenschaftler Ulrich Steffens (Direktor am hessischen Landesschulamt in Wiesbaden) sagen:

“Pädagogische Fragen sind leider häufig eine Domäne parteipolitischer Interessen, wobei politische Parameter und manchmal auch ideologische Standpunkte Vorrang vor sachlogischen Gesichtspunkten haben”.
Aus dem Artikel: “Mit den Augen der Lernenden”, siehe unter der Seite „Lernen“

Die Unterrichtskonzepte ändern sich nicht deshalb, weil sie sich als untauglich erwiesen haben. Nach Belegen für ihre Wirksamkeit wird selten gefragt. Sie werden abgelöst, weil die Politik es will! Es wird auf Kosten ganzer Schülerjahrgänge auf Anweisung der Kultusbehörde experimentiert.

siehe auch: FAZ, 10.05.2013, Dr. Matthias Burchardt und Prof. Jochen Krautz, Neue „Lernkultur“ im Musterländle

siehe auch:  FAZ, 16.08.2015, Heike Schmoll, Studie zur Gemeinschaftsschule – Schwäbisches Himmelfahrtskommando
Ein Gutachten stellt dem Vorzeigeprojekt Gemeinschaftsschule ein vernichtendes Urteil aus. Vor allem das individuelle Lernen erweise sich als denkbar ineffektiv.

Hamlet stört im Unterricht – Zur Ökonomisierung der Schule

Das verlorene Subjekt

von Hinrich Lühmann, ehemaliger Schulleiter des Humboldt-Gymnasiums in Berlin-Tegel. Unter dem Titel: „Zur Handhabbarkeit von Bildung – Output-Phantasien“ vorgetragen auf dem Kongress „Irrwege der Unterrichtsreform“, Frankfurt, Goethe Universität, 24. März 2012.

(…) Meine Damen und Herren: Hamlet stört. Wie sehr und auf welche Weise, das verrät uns in schöner Offenheit ein „Fachbrief“ der Berliner Senatsschulverwaltung; dabei geht es um neue Aufgabenformate für Grund- und Leistungskurse Englisch im schriftlichen Abitur. Ich zitiere:

„[…Wir haben] uns daran gewöhnt, dass unsere Schülerinnen und Schüler sehr gezielt auf die
Aufgabenstellungen im Abitur vorbereitet werden und diese daher auf einem vergleichsweise hohen Niveau bearbeiten. Doch diese Spezialisierung kostete ihren Preis: […] der Unterricht befähigte sie nicht dazu, Texte im Kontext ihres realen Lebensumfelds zu analysieren und zu erstellen. Das Verfassen eines Essays über ein literarisches Werk stellt beispielsweise eine außerhalb der Schule äußerst seltene Anforderung dar, wohingegen Briefe […] immer wieder verlangt werden.Vor allen Dingen kommt es bei den Anforderungen, mit denen unsere Schülerinnen und Schüler in Ausbildung und Beruf konfrontiert sein werden, darauf an, dass sie in der Lage sind, sich schnell zu orientieren und über aktuelle Zusammenhänge zu recherchieren. Diese Fähigkeit lässt sich nicht durch die Vermittlung eines Wissenskanons erzeugen, denn dieser hat in unserer Zeit bekanntlich nur kurz Bestand. Stattdessen benötigen sie Kompetenzen und Grundkenntnisse, die als eine Art Fundament für den Erwerb der jeweils benötigten Spezialkenntnisse in den unterschiedlichsten Bereichen dienen.
[…] Anspruchsvolle Klausuren [stellen] keine […] Vorbereitung dar auf eine Welt, in der Flexibilität und die Fähigkeit zum schnellen Erwerb von Wissen überlebensnotwendig sind. [Daher setzt sich] das [neue] Zentralabitur zum Ziel zu überprüfen, ob die Prüflinge […] Aufgabenstellungen gerecht werden, die sich an realen Anforderungen orientieren.“
„Es sei hier auch noch einmal darauf verwiesen, dass die wenigsten unserer Schülerinnen und Schüler, die am Englisch-Unterricht teilnehmen, ein Literaturstudium anstreben. Die meisten von ihnen werden voraussichtlich in ihrem weiteren Leben Englisch als Verkehrssprache […] nutzen.“

Das leuchtet ein: da sich kaum jemand sich auf Literatur „spezialisieren“ wird, braucht man auch keine zu lesen. „Hamlet“ stört solchen Unterricht. (…)

(…) dieses ministerielle Rundschreiben spiegelt ein funktionales Denken, ausgerichtet an angeblichen Anforderungen des Arbeitsmarktes, dem die Schule zuarbeiten müsse. Wer so denkt, fällt zweihundert Jahre zurück und gesellt sich zu jenen Philanthropen, die das „Gelehrtenwissen“ für „unnütz“ erklärt hatten. Insofern ist dieses Rundschreiben ein Sprung zurück hinter die einst exemplarisch vorgelebte und artikulierte Bildung der Brüder Humboldt, es ist nicht modern, sondern schlicht reaktionär. Diese Abwendung von den Inhalten, die Hinwendung zu nützlichem Alltagswissen, das der „Output“ unserer Schulen sein soll, verdanken wir, Sie wissen es, einer einseitigen Interpretation der PISA-Resultate. (…)

In dieser Situation: great expectations ohne Geld in den Kassen, haben Unternehmensberater den entscheidenden Tipp geliefert: ökonomisiert die Schule, leitet sie wie ein Unternehmen. Die Betriebskosten bleiben gleich, das Produkt wird besser: Effizienz endlich auch in der Bildung!
Gesagt, getan. Ein betriebswirtschaftlicher Begriffsnebel hat sich über uns gelegt.

Zur neuen Schule gehören seither:
Corporate identity, Output–Orientierung, Normierung, Controlling, Qualitätsmanagement. Ein Leitbild muss her und ein Schulprogramm. Eine Steuerungsgruppe formuliert nach Bestandsaufnahme und Stärken–Schwächen–Analyse Entwicklungsziele. Zielvereinbarungen binden Schulaufsicht, Schulleitung und Lehrer in ein Geflecht von Anforderungen, die sie gemeinsam unter Anwendung infantilisierender
Moderationsmethoden entwickelt haben. Wer nicht mitzieht, der wird in einem von gegenseitiger Wertschätzung getragenen Mitarbeitergespräch vom rechten Weg überzeugt. So werden Lehrer endlich professionell. Der Schulleiter, einst administrativ dilettierender Primus inter pares, übernimmt Ergebnisverantwortung; er wird Vorgesetzter und regiert top down: ist Manager, nur nebenher noch Pädagoge. Wo einst ein fahles Humboldtbild die Lehrerzimmer zierte, strahlen heute quietschbunte Zahlen und Figuren: Säulendiagramme illustrieren die datengestützte Bewertung der Qualität einer Schule. Denn die Schulinspektion war da, die alle paar Jahre für drei Tage einfällt, jeden Lehrer für ganze zwanzig Minuten besucht; ein hochkomplexes Zahlenwerk, sortiert in neunzig Kategorien, Lob und Tadel und gute Besserungswünsche hinterlässt – in dem Glauben, dass man Unterrichtsqualität ohne Ansehen der Individuen beurteilen könne, und nun der einzelne Lehrer aufgrund der akkumulierten Zahlen der ganzen Schule einen besseren Unterricht geben werde und dass es dem Management der Schule jetzt gelinge, alle zu neuen Ufern zu führen. (…)

zum Beitrag:  Irrwege der Unterrichtsreform, „Das verlorene Subjekt“, Hinrich Lühmann

siehe dort auch die weiteren Beiträge z.B. „Betrieb Schule. Eine Polemik“

Zitate aus: Fachbrief Englisch Nr. 11, 27. November 2006, S.11, Hg.: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung / Landesinstitut für Schule und Medien.

Ein Rahmenlehrplan für alle: Etwas „nachjustiert“ aber Richtung beibehalten – Kritik ebbt nicht ab

Einer für alle – Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg verabschiedet

18.11.2015, Susanne Vieth-Entus

Berlin und Brandenburg haben als bundesweit erste Länder am Mittwoch einen gemeinsamen Rahmenlehrplan für alle Schulformen verabschiedet. Es ist zugleich das erste Mal, dass sich zwei Bundesländer auf identische Inhalte für alle Fächer geeinigt haben. Ab 2017/18 sollen die neuen Vorgaben umgesetzt werden. Die seit Monaten geäußerte Kritik an den Neuerungen riss auch nach der Unterzeichnung durch Bildungssenatorin Sandra Scheeres und Bildungsminister Günter Baaske (beide SPD) nicht ab. (…)

Der neue Rahmenlehrplan umfasst alle Jahrgangsstufen von Klasse 1 bis 10 und gilt für Grundschulen, Sekundarschulen, Gymnasien und alle Förderschulen, abgesehen von den Schulen für geistig Behinderte. (…)

Es werde aber eine „große Herausforderung“, ein Raster für die individuelle Benotung zu entwerfen, das starken und schwachen Schülern gerecht werde. (…)

Generelle Kritik gibt es am Gesamtkonzept des Werks. Es sei „überfrachtet“, dazu passagenweise „elaboriert oder schematisch“ geschrieben. Die Zuordnung der Kompetenzen zu acht verschiedenen Niveaustufen mache die Verwirrung komplett, heißt es. (…) Letztlich bleibe es aber dabei, dass man – auch mit dem neuen Plan – guten und schlechten Unterricht machen könne, resümiert Ursula Reichelt vom Fachverband Deutsch.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 18.11.2015, Susanne Vieth-Entus, Einer für alle – Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg verabschiedet

Sag mir, wo die Schüler sind

Wenn die duale Ausbildung zum Fremdwort wird

Im Senat herrscht Unklarheit darüber, wie viele Schulabgänger eine duale Ausbildung beginnen. Klar ist: Ihre Zahl ist vor allem bei Migranten gering.
Susanne Vieth-Entus, 14.10.2015

(…) Im Berliner Bezirk Mitte wurden die Sekundarschulen befragt, wie viele ihrer Schüler nach der zehnten Klasse eine duale Ausbildung beginnen. Das Ergebnis lautete: 60 von 1080 Abgängern – mithin 5,6 Prozent. Rund 500 Schüler „sind arbeitslos oder besuchen Maßnahmen, die nicht zu einem Berufs- oder Bildungsabschluss führen“, heißt es einem internen Bericht, der der grünen Abgeordneten Stefanie Remlinger zugespielt wurde. (…)

Schätzungen besagen, dass berlinweit nur jeder zehnte Sekundarschüler den direkten Weg in die duale Ausbildung findet. In sozialen Brennpunkten sind es noch weniger. Und am wenigsten in Mitte, wo die Quote bei besagten 5,6 Prozent liegt und der Migrantenanteil bei 80 Prozent.

Eine Sekundarschule im Bezirk, die nicht genannt werden möchte, berichtet, dass 2014 nur sechs von über 120 Absolventen eine betriebliche Ausbildung begonnen haben; vier von ihnen gaben auf, „weil die Eltern nicht dahinter standen, oder weil es den Schülern zu anstrengend war“, wie der Rektor resümiert.

Diese Bilanz ist für die Schule vor allem deshalb niederschmetternd, weil die Schüler „von hinten bis vorn gepimpt und beraten“ worden seien, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Einen Grund für den Misserfolg sieht der Schulleiter in der „Sozialisation“ der Schüler: „Sie bekommen bestimmte Dinge nicht vorgelebt.“ Oft habe in der Familie kaum jemand einen Beruf. „Die Schüler erfahren, dass sich auch ohne Arbeit ganz gut leben lässt. Darum sehen sie nicht ein, warum sie um sechs Uhr aufstehen und acht Stunden lang schuften sollen“, berichtet eine Schulleiterin im selben Bezirk. (…)

Die Erwartungen an die neue Jugendberufssagentur, die soeben ihre Arbeit aufgenommen hat, ist hoch. Ob sie die Jugendlichen in Ausbildung und Beschäftigung bringen und ergründen kann, welchen Weg die Schüler nach der Schule gehen?

zum Artikel: Der Tagesspiegel, Berlin, 15.10.2015, Susanne Vieth-Entus, Wenn die duale Ausbildung zum Fremdwort wird (Sag mir, wo die Schüler sind)


siehe auch die Meldung im Tagesspiegel vom 16.11.2015:
Susanne Vieth-Entus, 3000 Jugendliche: Nach der Schule ins Nichts

  • 3000 Berliner Jugendliche fallen allein in diesem Jahr nach dem letzten Schuljahr ins Nichts!
  • 15000 Jugendliche sind arbeitslos gemeldet.

Wo bleibt der politische und gesellschaftliche Aufschrei angesichts tausender unversorgter Jugendlicher?