Archiv des Monats: April 2016

Lieblingslösung: „Weniger Bildung“

Das Gymnasium und die Bildungsreformer

von Harald Martenstein in der Zeitschrift PROFIL des Deutschen Philologenverbandes

Ich verdanke dem Gymnasium fast alles, zumindest  im geistigen Bereich. Als Kind hatte ich keine idealen Startbedingungen. Dass ich heute vom Schreiben leben kann, verdanke ich vor allem meiner Schule und meinen Lehrern. Zum Glück haben sie mich gezwungen, an meine Grenzen zu gehen und meine Grenzen zu erweitern. Deshalb verteidige  ich das Gymnasium, mit jeder Faser meines Herzens. Was die Bildungspolitik betrifft, wird es für mich allerdings  immer schwieriger, mich zu äußern, ohne satirisch zu werden.

2014 haben etliche Bildungspolitiker einen gemeinsamen  Aufruf zur ‚Zukunft des Gymnasiums‘ veröffentlicht. Das hat mich sehr gewundert, weil ‚Gymnasium‘ doch für viele Bildungsreformer beinahe ein Hasswort ist. Warum? Gymnasium, das hießt immer: umfassende Bildung. Und je umfassender ein Mensch gebildet  ist, desto skeptischer steht er natürlich in der Regel Bildungsreformen gegenüber. Wenn Bildungsreformer sich zur ‚Zukunft  des Gymnasiums‘ äußern, dann ist das ungefähr so, als ob Nordkorea einen Aufruf zur ‚Zukunft der Meinungsfreiheit‘ veröffentlicht. (…)

Das Turboabitur nach acht statt neun Jahren ist eine typische deutsche Bildungsreform. Das heißt, sie wird relativ unvorbereitet gegen den Widerstand vieler Eltern und nicht weniger Lehrer in hohem Tempo durchgesetzt, dann gibt es Probleme, und nach einigen Jahren wird der Menschenversuch unter heftigen Rückzugsgefechten abgebrochen. (…)

Die Autoren des Aufrufs schlugen vor, einfach die Stundenzahl und damit die Bildungsstandards  zu senken. Weniger Bildung, das ist immer ihre Lieblingslösung. (…)

Seit Jahren werden auch die Schulnoten in Deutschland immer besser. Wenn man sich die Noten anschaut, dann ertrinkt das Land fast in einer Flut von Universalgenies. An der Spitze steht Berlin. ln den wenigen Jahren von 2006 bis 2012 hat sich in Berlin die Zahl der Abiturienten mit dem Notendurchschnitt 1,0 vervierfacht. (…) Das Abitur wird immer einfacher, damit es soziale Gerechtigkeit gibt. Das Abitur soll kein Privileg von Besserlernenden oder Besserwissenden mehr sein, fast alle Schüler sollen es bekommen. Weil aber nun einmal nicht alle Menschen so intelligent, ehrgeizig oder fleißig sind, dass sie ein schwieriges Abitur ablegen können, muss es einfach sein. (…)

Ein anderes Reformprojekt ist die Abschaffung der Schulnoten. Die frühere  Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud  Wende, begründete diese Maßnahme in einem Artikel  für die ZEIT damit, dass Noten unfair  sind. (…) Statt Noten soll es in Zukunft ‚Kompetenzbeschreibungen‘ geben. Die Lehrer müssen ausführlich Kompetenzen und Defizite jedes Schülers beschreiben. (…) Im Fach Deutsch zum Beispiel soll auch ‚Zuhören‘ bewertet  werden. Ein Schüler, der weder lesen noch schreiben kann, immer  Kaugummi kaut und niemals ein Wort sagt, findet  in seinem Abiturzeugnis  dann den Satz: „Ben kann gut zuhören und versteht auch manches.“ Offenbar werden, um seelische Verwundungen  zu vermeiden, Schulzeugnisse den Arbeitszeugnissen angeglichen. (…)

Das Gymnasium, das ich mir als Ideal vorstelle, ist offen für alle Begabten, es schaut auf die Intelligenz  und nicht auf die Abstammung. Aber es fordert  auch Leistung. Jeder soll eine Chance auf Bildung bekommen, aber er muss sie auch nutzen. Eine Abiturientenquote von sechzig Prozent eines Jahrgangs, die durch Absenkung des Niveaus erreicht wird, ist in Wirklichkeit nur ein fauler Trick, eine Manipulation der Statistik, davon hat weder der Arbeitsmarkt noch der Abiturient etwas. (…)

Ich dachte immer, bei ‚Bildung‘ gehe es darum, den Horizont der Schüler zu erweitern, nicht darum, ihren Horizont  widerzuspiegeln. (…)

Statt die vorhandenen guten Schulen endlich zu stärken, mehr Schüler, mehr Lehrer, mehr Förderung, machen die Reformer den guten Schulen, zum Beispiel den Gymnasien, das Leben schwer und erfinden  ständig etwas Neues. (…)

zum Beitrag:  PROFIL, Deutscher Philologenverband, April 2016, Seite 21-26, Harald Martenstein, Das Gymnasium und die Bildungsreformer

Harald Martenstein ist Kolumnist der ZEIT und des Berliner Tagesspiegels

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Berücksichtigung des Bürgeranspruchs auf Transparenz staatlicher Aktivitäten

Große Anfrage 21 der Fraktion der PIRATEN zu Aktivitäten und politischen Initiativen der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen im mittelbaren und unmittelbaren Zusammenhang mit der Bertelsmann-Stiftung (…)

Auszüge aus der Vorbemerkung der Großen Anfrage:

(…) Über die Meinungsmacht der Bertelsmann-Unternehmensgruppe hinaus übt Bertelsmann über die Stiftung eine politische Gestaltungsmacht aus, die weit über den Einfluss von Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften, ja sogar von Parteien hinausgeht. (…)

Geradezu paradox am Verhalten der Bertelsmann-Stiftung ist, dass sie zwar überall nach
Wettbewerb ruft, diesen Wettbewerb aber bei sich selbst konsequent verhindert. Das nicht nur, indem sie „ausschließlich operativ“ arbeitet, d.h. nur ihre von ihr selbst initiierten Projekte fördert und keine Projektanträge von außerhalb zulässt, also wissenschaftlichen Pluralismus satzungsmäßig ausschließt, sondern darüber hinaus indem sie sich vor keinem Parlament und keinem Rechnungshof und nicht einmal vor einem Aufsichtsrat, der wenigstens unterschiedliche Interessen von Kapitalanlegern vertreten könnte, für den Einsatz ihrer Gelder und die damit verfolgten Ziele rechtfertigen muss.

Die Bertelsmann-Stiftung hält über drei Viertel des Kapitals der Bertelsmann SE & Co. KGaA, die sich auf zahlreichen Politikfeldern und u.a. auch auf dem Bildungsmarkt engagiert. Zudem sind die 100%ige Bertelsmanntochtergesellschaft Arvato AG und deren Tochtergesellschaften u.a. im Bereich der Dienstleistungen für die öffentliche Hand tätig.
Darüber hinaus wird seitens der Stiftung beispielsweise im Bereich der Bildung ein Wachstumsmarkt für private Anbieter gesehen, in vielen Fällen zeigen die Beratungsdienstleistungen und -inhalte der Stiftung eine deutliche Tendenz hin zur Privatisierung. (…)

Darüber hinaus geraten die wissenschaftliche Qualität sowie die methodische als auch die auf die erhobenen Daten bezogene Genauigkeit von durch die Bertelsmann-Stiftung oder ihren Tochtergesellschaften und Beteiligungen erstellten Studien und Rankings zu gesellschaftspolitischen Fragen immer wieder in die Kritik namhafter Einzelwissenschaftler und Fachverbände.

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Bürgeranspruchs auf Transparenz
staatlicher Aktivitäten stellte die Piratenpartei 42 Fragen an die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen über den Zeitraum vom 1. Januar 1992 bis heute.

Auszug einiger Fragen zur Bildungspolitik:

13. Wurden oder werden Schulinspektor/innen durch die Bertelsmann-Stiftungsgruppe (BSG) oder andere private Anbieter/innen oder beide ausgebildet und führen auf dieser Basis gesetzlich vorgeschriebene Evaluationsaufgaben durch?

14. Sind die sog. Bildungsbüros aus gemeinsamen Konzepten oder Kooperationsprojekten
zwischen der Landesregierung oder dem Schulministerium und der BSG oder der Bertelsmann-Unternehmensgruppe (BUG) oder beiden hervorgegangen?

15. Sind durch die BSG oder die BUG oder beide entwickelten Evaluationsaufgaben sowie
die Evaluationskriterien in den offiziellen Qualitätsrahmen von Schulentwicklung aufgenommen worden, bzw. wurden die Landesregierung und das Schulministerium, durch die BSG oder die BUG oder beide in derartigen Vorhaben begleitet oder unterstützt? Gibt es dazu interne oder öffentliche Stellungnahmen seitens der BSG oder der BUG oder beider an die Landesregierung oder das Schulministerium?

20. Welche Landesbediensteten oder Hochschullehrer/innen bekleideten oder bekleiden Funktionen bei der BSG oder bei der BUG oder beiden oder begleiten oder begleiteten die BSG oder die BUG in beratender Form? Bitte ehrenamtliche Funktionen mitberücksichtigen, bitte Angabe der Zeiträume.

zur Großen Anfrage


Die Landesregierung von NRW hat drei Monate Zeit, die Anfrage zu beantworten.

Antwort zur Großen Anfrage vom 6.07.2016


Weitere Informationen:  Kraus, Josef (Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)) – Über den Wert von Bertelsmann-„Studien“


Einfluss von Bertelsmann auf die NRW-Landesregierung –
Wie nah ist zu nah?

Bonn. Bertelsmann berät die NRW-Landesregierung umfassend. Der Einfluss auf die Landesregierung ist aus Sicht von Juristen mit staatsrechtlichen Grundsätzen nur schwer zu vereinbaren.
23.02.2017, Kirsten Bialdiga,

(…) Dass Bertelsmann die NRW-Landesregierung umfassend berät, ist nicht neu, aber vielen unbekannt. Obwohl die Piraten-Fraktion eine Große Anfrage an die Landesregierung auf den Weg brachte, die im Sommer 2016 in eine lebhafte Landtagsdebatte mündete. Die enge Kooperation wirft nicht nur aus staatsrechtlicher Sicht Fragen auf. (…)

Tatsächlich listete die Landesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Piraten-Fraktion auf knapp 50 Seiten auf, was es an Kontakten, Kooperationen und Verträgen in den vergangenen zehn Jahren mit Bertelsmann gab. Doch aus Sicht des Staatsrechtlers Christoph Degenhart bleiben wesentliche Fragen offen: „Es ist ein Problem, dass sich diese Zusammenarbeit in einer Grauzone abspielt und daran Vertreter maßgeblich mitwirken, die dem Volk nicht zur Verantwortung verpflichtet sind“. (…)

Degenhart kommt zu dem Ergebnis, dass die Antwort der NRW-Landesregierung auf die Große Anfrage Transparenz schuldig bleibe, insbesondere auch hinsichtlich personeller Verflechtungen: „Am problematischsten ist es, wenn es personelle Überschneidungen gibt und Lobbyvertreter in staatlichen Bereichen aktiv sind.“

Aus Sicht des Wissenschaftlers sollte die Landesregierung vollständig offenlegen, worin die Zusammenarbeit auf den einzelnen Gebieten jeweils besteht. Auskünfte über „Drehtür-Personalien“, also ein Beschäftigungswechsel zwischen der Landesregierung und Bertelsmann, hatte die Landesregierung mit Verweis auf Persönlichkeitsrechte und Datenschutz weitgehend abgelehnt. (…)

Zum Artikel:   General Anzeiger, Bonn, 23.02.2017, Kirsten Bialdiga, Einfluss von Bertelsmann auf die NRW-Landesregierung , Wie nah ist zu nah?

Integration im Klassenzimmer

Mikrokosmos statt Mikroghetto

TSP, 12.04.2016, Kommentar von Caroline Fetscher

An den Tag werden sie noch lange denken – und ihre Lehrer auch. An einem Gymnasium in Berlin haben sie ein klassisches Theaterstück inszeniert, ein Dutzend Schülerinnen und Schüler. Sie haben lange geprobt, nachgedacht, viel gelacht, sich manchmal gezankt, eine Menge Text gelernt – und schließlich das Stück klar, klug und spielfreudig auf die karge Bühne ihrer kahlen Aula gestemmt. Grandios! Dann das Wunder: Als alles vorüber war, wollten sie gar nicht mehr weg. Am liebsten wären die jungen Schauspieler über die Osterferien in der Schule geblieben, staunt strahlend einer der Lehrer. So etwas passiert selten, schon gar nicht hier. Und hier auch nur, weil sich Pädagogen, oft in ihrer freien Zeit, enorm engagieren für Kinder und Jugendliche, die Mustafa oder Fatima heißen.

Es ist nämlich eine der Schulen im Land, wie es sie gar nicht geben dürfte.  (…) 97 Prozent [der Schüler] sind „nicht deutscher Herkunft“, was Ämter gern mit „ndh“ abkürzen. Längst hätte eine Quotenregelung für „ndh-Kinder“ solchen Missständen vorbeugen müssen: maximal 50 Prozent, minimal 10 Prozent Kinder, die nicht Muttersprachler sind, das wäre ein Anfang, das groteske Ungleichgewicht zu verändern. (…)

Parallelgesellschaft pur, sozialpolitisch absurd, bildungspolitisch ein Irrsinn. Wie passiert das? Na ja, heißt es bei den Verantwortlichen, das kam einfach so, mit der Zeit. (…)

Naja ist nicht genug. Naja ist ein Armutszeugnis (…) für die fatale Denkarmut der Funktionseliten, die nicht verstehen wollen, was Teilhabe an einer aufgeklärten, dialogfähigen Öffentlichkeit bedeutet – und dass sie durch Schulen zur Welt kommen muss. Wo Lehrende die einzigen Muttersprachler sind, wie sollen da Schüler ohne enorme, zusätzliche Kraftanstrengung in der Landessprache heimisch werden? Wie soll das gehen? Höchstens in Glücks- und Einzelfällen, wenn so ein seltener Funke überspringt von der Probebühne ins Leben. (…)

[Unsere Schulen werden] zum elementar wichtigsten Ort, um in der aufnahmefähigsten Phase der Entwicklung Gemeinsamkeit zu erfahren. In der Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft wird deren demokratisches Fundament kontinuierlich erneuert. Dabei entsteht die Öffentlichkeit von morgen. Vor allem darum darf kein einziger solcher Mikrokosmos ein Mikroghetto sein.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 12.04.2016, Caroline Fetscher, Mikrokosmos statt Mikroghetto

Stand Schuljahr 2015/16:

48 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 95,5% – 50%
59 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 49% – 10%
18 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 9% – 1,9%

siehe vollständige Tabelle unter:  Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache/Migrationshintergrund in Berlin, Schuljahr 2011/12 bis 2015/16