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’Sanfter’ Totalitarismus im Lehrerzimmer: „Sie sollen wollen, was sie sollen“

Im Hamsterrad Schule zwischen Überlastung und Anpassungsdruck

von Jochen Krautz

Prof. Dr. Jochen Krautz lehrt Kunstpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal und ist Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Wer heute in Schulen arbeitet und einmal versucht, sich selbst über die Schulter zu schauen, ist mindestens irritiert, welche unproduktive Geschäftigkeit dort herrscht. Deren Sinn erschließt sich auch den Beteiligten nicht immer. Das bezieht sich weniger auf das selbstverständliche Kerngeschäft wie Unterricht vorzubereiten und zu halten, Klassenarbeiten zu korrigieren oder Erziehungsaufgaben wahrzunehmen, etwa in Lerngesprächen mit der Klasse oder einzelnen Schülern, durch Streitschlichtung auf dem Pausenhof, in Elterngesprächen oder durch Kooperationen mit Institutionen der Jugendpflege u.v.m.

Dieses Kerngeschäft von Bildung und Erziehung wird nach Aussage der meisten Lehrerinnen und Lehrer an sich bereits immer anspruchsvoller. Früher selbstverständliche Einstellungen und Haltungen der Schülerinnen und Schüler und der Eltern zu den Aufgaben der Schule brechen immer mehr weg. Immer stärker sind die erzieherischen Voraussetzungen erst zu legen, damit Unterricht überhaupt stattfinden kann. Dass in der Folge das erreichbare fachliche Niveau zunehmend sinkt, will zwar in der Bildungspolitik niemand zugeben, ist aber unübersehbar. So würden allein diese pädagogischen Herausforderungen intensive gemeinsame Arbeit der Kollegien fordern, um sie halbwegs zu bewältigen.

In Absurdistan

Doch was geschieht tatsächlich? Wer überhaupt noch Zeit und Kraft findet, darüber nachzudenken, der wähnt sich in Absurdistan. Denn es werden zwar immer neue Maßnahmen und Projekte ein- und durchgeführt, so dass Arbeit und Belastung weiter zunehmen. Doch obwohl das schulische Hamsterrad in der Folge immer schneller rotiert, scheinen gerade diese Maßnahmen und deren Tempo die Lage nicht zu verbessern, sondern eher zu verschlimmern. Dazu nur einige Beispiele, die nahezu unbegrenzt zu vervielfältigen wären:

Zunächst wird die Bewältigung der genannten Schwierigkeiten den Lehrerinnen und Lehrern stillschweigend als selbstverständlich überlassen. Die Behörden sorgen sich neuerdings nur um deren Arbeitsbelastung und Gesundheitszustand und führen entsprechende Befragungen durch. Als Folge wird aber nicht mehr Personal eingestellt oder überflüssige Belastungen abgeschafft, sondern man bietet Gesundheitstrainings und Organisationspsychologie an und verpflichtet Schulleitungen zu »gesunder Führung in Schulen« (vgl. Krautz/Burchardt 2018).

Weil Schule angeblich im ’Wettbewerb’ stehe, sehen sich Schulleitungen oft unter dem Druck, eine glänzende Außendarstellung abzuliefern, wodurch pädagogische Ressourcen abgezogen werden, die den Schülerinnen und Schülern dienen müssten. Und schnell wird von realistischer Notengebung und sinnvollen Erziehungsmaßnahmen abgesehen, um Schülerzahlen um jeden Preis zu hoch halten.

Seitens der Politik wurde als Reaktion auf zunehmende Heterogenität etwa aufgrund von Migration das Recht auf ’individuelle Förderung’ festgeschrieben: Lehrer und Schule haben nun zu garantieren, dass Schüler mitkommen, ohne dass sie durch die notwendigen Ressourcen dazu in die Lage versetzt würden. Vielmehr wird die ohnehin wachsende Anspruchshaltung von Schülern und Eltern verschärft und das pädagogische Verhältnis gravierend gestört. Als Folge muss nun für jede nicht ausreichende Note ein ’Förderplan’ erstellt und ein Elterngespräch geführt werden, was wiederum bürokratischen und formalisierten Aufwand bedeutet, aber wenig pädagogischen Ertrag bringt.

Die politisch gegen jedes mäßigende Argument (vgl. Ahrbeck 2016) forcierte Inklusion bei gleichzeitiger Mangelausstattung vervielfachte die beschriebenen Probleme und bringt das System Schule an den Rand des Kollapses.

Die sinkende Qualität soll nun mit aus der Wirtschaft entliehenem ’Qualitätsmanagement’ gefördert werden. ’Evaluationen’ und ’Schulinspektionen’ (in Nordrhein-Westfalen ’Qualitätsanalyse’) sollen es nun richten (vgl. Krautz/Burchardt 2018). Tatsächlich wird so aber nicht Unterricht verbessert, sondern nur die Frequenz im Hamsterrad erhöht, denn nun müssen ordnerweise Berichte und Dokumentation bereitgestellt werden und Lehrerinnen und Lehrer sollen sich in zwanzigminütigen Unterrichtsbesuchen beweisen.

Derart wird nicht ’Qualität’ von Bildung und Erziehung entwickelt, sondern es werden Vorgaben durchgesetzt, die vor allem auf den Rückzug des Lehrers und die Auflösung des Klassenunterrichts zugunsten sogenannten »selbstgesteuerten Lernens« zielen (vgl. Burchardt 2017). Die Einrichtung entsprechender ’Lernbüros’, am besten voll digitalisiert, ist dann die Konsequenz. Usw. usf.

Rasender Stillstand als Entfremdung

Nun spiegelt sich in der als sinnlos empfundenen Aufgabenvervielfachung und damit zusammenhängenden Beschleunigung der schulischen Arbeitsverhältnisse mit Sicherheit auch ein gesellschaftliches Problem wider. Das Hamsterrad steht für ein rastloses Rotieren, das in einer vom Neoliberalismus destabilisierten Arbeitswelt heute genauso verbreitet ist wie in den digitalisierten menschlichen Beziehungen: Es herrscht rasender Stillstand.

Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt die Wirkung dieser Beschleunigung genauer: »Nach meiner Überzeugung führen soziale Bedingungen, in denen soziale Akteure ethischen Vorstellungen verpflichtet sind und zu folgen versuchen, welche von den strukturellen Bedingungen ihres Handelns systematisch unterlaufen werden, notwendigerweise zu einem Zustand sozialer Entfremdung.« (Rosa 2012, S. 303) Gerade Lehrer fühlen sich ethischen Vorstellungen, nämlich dem pädagogischen Ethos verpflichtet, das die Sinnmitte ihres Berufes ausmacht. Und eben diesen sozialen Sinn des Pädagogischen unterlaufen die genannten Strukturen und entfremden von der Arbeit. Schule rast und rotiert, doch als sozialer Raum wird sie entleert. Ihr humaner Sinn droht verloren zu gehen.

Dass solche Sinnentleerung und Entfremdung vom ethischen Kern des Berufs auf Lehrerseite zu vermehrtem Ausgebrannt-Sein führt, ist auch ohne empirische Studie mehr als naheliegend: Wo das pädagogische Engagement sich nicht auf die wirklichen Problemlagen richtet, sondern in abwegige Verwaltungs- und Rechtfertigungsarbeit fließt, verliert das Tun seinen Sinn. Wo aus auch anstrengender pädagogischer Arbeit immer noch der Sinn zu ziehen wäre, jungen Menschen wirklich zu helfen, verpufft die Kraft nun in strukturellen Hamsterrädern.

Es ist insofern kein verstaubter humanistischer Traum, wenn man darauf verweist, dass Bildung scholé braucht: Wie das griechische Wort für Muße nahelegt, muss Bildung für Schüler wie für Lehrer mit einem Freiraum verbunden sein, der eine humane Entwicklung für beide Seiten überhaupt erst ermöglicht (vgl. Bossard 2018).

Achtsam im Hamsterrad?

Das politisch erzeugte strukturelle Problem wird nun aber an die Lehrer zurückgegeben: Man müsse eben auf die ’Work-Life-Balance’ achten, ’Achtsamkeit’ üben, Stimme und Atem trainieren, auf die ’nonverbalen Signale’ des Körpers achten, ’Stresstoleranz’ und ’Resilienz’ entwickeln, sich von Problemen zu distanzieren lernen, Entspannungsübungen machen, die Ernährung verbessern usw.

Nun ist es sicherlich förderlich, wenn auch Lehrer Sport treiben und nicht allein Pizza und Pommes essen. Aber: Subjektive ’Achtsamkeit’ löst kein objektives Problem. Wie soll eine ’Work-Life-Balance’ für Lehrer aussehen, wenn die drängenden und realen Probleme permanent und auch nachts am pädagogischen Gewissen rütteln? Wie lange kann Entspannung anhalten, wenn die Schulpforte die Käfigtür des strukturellen Hamsterrades bleibt? Reicht es also, darin yogagestärkt und vollwertig ernährt zu rotieren, damit man sich besser fühlt? (vgl. Bröckling 2017)

Subjektivierungstechnik

Solche Verinnerlichung der Imperative einer unsichtbaren Macht wird als ’Subjektivierung’ beschrieben (vgl. Bröckling 2017): Wir können gar nicht genau sagen, wer oder was uns eigentlich treibt, aber wir übernehmen die Forderungen einer nie wirklich greifbaren Autorität und machen sie zu unserem Problem (vgl. Rosa 2012, S. 284 ff.). Wir fühlen uns defizitär und schuldig, versuchen, die unerfüllbaren Ansprüche, die an uns gestellt werden, auszugleichen. So wird man gefügig, ohne es recht zu bemerken. Gerade im schulischen Kontext ist dies zu beobachten: Kaum jemand vermag noch zu sagen, wie der erlebte Wahnsinn eigentlich zustande kommt, worum es dabei überhaupt geht und wer daran Interesse haben kann. Die Akteure der Bildungspolitik scheinen unsichtbar zu werden. Auch die Administration in Düsseldorf oder den Bezirksregierungen sieht sich oft nur noch als ausführendes Organ (zu den Hintergründen vgl. Krautz 2012). Was bleibt, sind die Imperative des ’Neuer, Schneller, Besser’, die das Hamsterrad beschleunigen, aber zu nichts führen.

Change durch Überlastung

Doch hat die erste Tagung ’Time for Change?’ (vgl. Krautz/Burchardt 2018) [siehe auch Seitenleiste „Tagungen“] darauf aufmerksam gemacht, dass der politische Sinn der Überlastung noch tiefer greift: Sie soll bereit machen, den bildungspolitischen Vorgaben nicht nur irgendwie widerwillig zu folgen, sondern sie als neue pädagogische Überzeugungen innerlich zu übernehmen. Überlastung gilt den sozialpsychologischen Manipulationstechniken des sogenannte Change-Managements als erster Schritt, um Menschen ’aufzutauen’: Sie sollen seelisch weichgekocht werden, um sich für ’das Neue’ zu öffnen, was ihnen angesichts der Lage als alternativlos dargestellt wird. Und wer einmal so unter Druck steht, greift oft gerne nach vermeintlich rettenden Angeboten.

So etwa das ’selbstgesteuerte’, ’individualisierte’ Lernen, am besten in ’Lernbüros’ und mit digitalen Geräten: Nachdem die ohnehin wachsende Heterogenität der Schülerschaft durch politische Maßnahmen massiv erhöht wurde, legte die Bertelsmann Stiftung (immer noch gemeinsam) mit dem Schulministerium als Antwort darauf Fortbildungen auf, die die Aufhebung der Klassengemeinschaft und das ’selbstgesteuerte Lernen’ als Lösung ausgeben – neuerdings selbstverständlich digital. Man müsse sich »gemeinsam auf den Weg machen«, so säuseln die Schalmeien der ’Menschenregierungskünste’ (Bröckling 2017) der verzweifelnden Lehrerschaft zu, und sich von überkommenen Vorstellungen lösen und anpassen. Warum, auf welchen Weg, wohin der führt, und wie denn die neuen Ideen begründet sind, wird schon nicht mehr diskutiert. Überlastung dient hier als Einfallstor, um Lehrer in eine vorbestimmte Richtung zu steuern – ’sanfte Führung’ nennt sich das. (vgl. Krautz/Burchardt 2018)

Überlastung als neue Form des Totalitarismus

Wenn daher wiederum Hartmut Rosa »Beschleunigung als neue Form des Totalitarismus« beschreibt (Rosa 2012, S. 284), der sich als »vages Gefühl der Fremdbestimmung ohne Unterdrücker« äußere (ebd., S. 304), dann wird diese gewagt klingende These in Bezug auf den Schulalltag durchaus nachvollziehbar: Das Hamsterrad als Käfig der Selbstaktivierung ist nicht nur einfach absurd, sondern hat einen verborgenen Herrschaftssinn. Das permanente Rotieren entfremdet von der eigenen pädagogischen Professionalität und soll bereit machen, unbegründete Vorgaben nicht nur auszuführen, sondern selbst zu wollen. Der hechelnde Lehrer-Hamster soll auch selbst wollen, was er soll. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dieses System funktioniert an Universitäten genauso und sogar noch besser, weil die Hamster sich untereinander noch um Geld und Reputation balgen …

Pädagogische Freiheit und Verantwortung

Wenn wir es aber mit einem neuen, ’sanften’ Totalitarismus zu tun haben, dann wird klar, warum Achtsamkeit auf sich selbst allein nur begrenzt weiterhilft. Es gilt, den Blick zu weiten, achtsam zu werden auf die beschriebenen Zusammenhänge. Es braucht eine klare Analyse der Zustände und Zusammenhänge und ein Bewusstsein dafür, dass weder mein Problem noch das von Schule und Schülern als Einzelgänger in ’Work-Life-Balance’ zu lösen ist.

Ein politisches Problem braucht vielmehr politisch-gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Das erinnert daran, dass Lehrer zu sein in einer Demokratie immer schon eine politische Aufgabe war und auch bleibt: Die Sorge um die der Schule anvertraute Jugend macht es auch notwendig, für deren Interesse öffentlich einzustehen. Erstaunlicherweise trägt gerade das Engagement für diese weitergehenden Fragen aber auch zum eigenen seelischen Gleichgewicht bei: Nicht der Rückzug ins Private, sondern der Blick aufs Ganze und unsere Position darin ermöglicht, im Hamsterrad innezuhalten, herauszutreten und nachzusehen, wer es warum aufgestellt und so eingerichtet hat. Erst so ist die innere Freiheit für die Frage zu gewinnen, ob man das so weiter mitmachen will.

Dabei, diese Frage zu beantworten und eine andere Haltung zu gewinnen, hilft das Bewusstsein für die eigene pädagogische Freiheit: Zum meisten von dem, was als alternativlos daherkommt, können Lehrer und Schulen nicht gezwungen werden. Sie verfügen über eine rechtlich garantierte pädagogische Freiheit – nicht um ihrer selbst willen, sondern um den Schülern möglichst optimal gerecht werden zu können (vgl. Krautz/Burchardt 2018). Nur in Freiheit aber ist pädagogische Verantwortung lebbar. Keine Verantwortung ohne Freiheit. Sonst wird eben dieses pädagogische Verantwortungsgefühl missbraucht, um uns im Hamsterrad rotieren zu lassen.

Diese Freiheit aber muss nicht erst gewährt werden, sondern Lehrer haben sie, können sie sich nehmen und müssen sie einfordern. Erst auf dieser Grundlage können die eingangs beschriebenen drängenden Probleme der Schule überhaupt sinnvoll angegangen werden (vgl. Däschler-Seiler 2018).

Zum Artikel und der Literaturliste: Lehrer nrw, 2/2019, S. 15-18, Im Hamsterrad – Schule zwischen Überlastung und Anpassungsdruck,  https://www.lehrernrw.de/uploads/flippingbook/2019-02/14/

Siehe auch: Gesellschaft für Bildung und Wissen, https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/im-hamsterrad-schule-zwischen-ueberlastung-und-anpassungsdruck.html

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.


’Sanfter’ Totalitarismus im Lehrerzimmer: „Sie sollen wollen, was sie sollen“.

Zum Vorgehen der Bildungsverwaltung siehe:

Jochen Krautz, Matthias Burchardt (Hrsg.) in dem 2018 erschienen Buch: Time for Change? (siehe nebenstehende Bücherliste).

Schulen stehen unter dauerndem Reformdruck unter dem Label ‚Schulentwicklung‘: Kompetenzorientierung, Vergleichstests, zentrale Prüfungen, individuelle Förderung, dauernde Rechenschaftslegung, Schulprogramme, Steuergruppen, Qualitätsmanagement, Schulinspektionen usw. sollen Schule besser machen. Im Erleben vieler Lehrerinnen und Lehrer bewirken sie faktisch das Gegenteil: unsinnige Arbeitsverdichtung durch Bürokratisierung, Ablenkung vom Kerngeschäft Unterricht, Normierung von Didaktik und Methodik, Kontrolle und Verlust der pädagogischen Freiheit, subtiler oder offener Anpassungsdruck durch Schulleitungen und Behörden etc.

Die Reformen kommen dabei in der emphatischen Sprache völliger Alternativlosigkeit daher: „Time for Change – Es ist Zeit für den Wandel!“ Neu ist immer besser; wer nicht mitmacht, ist von gestern – und wird mit sanftem oder unsanftem Druck auf die neue Linie gebracht. Dazu werden zunehmend sozialpsychologische Steuerungsinstrumente des sog. „Change Managements“ eingesetzt. Statt Sachdiskussionen zu führen, wird in gruppendynamischen Settings an „Einstellungen“ gearbeitet. Widerspruch wird als Querulantentum beiseitegeschoben. Oder Kritiker werden durch Vorgesetzte und Schulverwaltung direkt eingeschüchtert und gemaßregelt. So sollen Lehrer unter Druck gesetzt werden, sich von ihren begründeten pädagogischen Überzeugungen zu verabschieden: Sie sollen Wollen, was sie sollen!

Die „Anbandelungswut“ der Kompetenz

Unanständiger Unterricht

Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz über die Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz. Doch braucht es dafür jeweils ein eigenes Unterrichtsfach?

NZZ, 14.05.2019, Konrad Paul Liessmann

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

Ist heute von Schule und Bildung die Rede, sind große Worte unvermeidlich. Immer geht es gleich um Exzellenz und Spitzenplätze, um das Beste für unsere Jugend, um flächendeckende Digitalisierung, um die großen Herausforderungen, um die Kompetenzen für das 21. Jahrhundert und das dritte Jahrtausend.

Apropos Kompetenzen: Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat jüngst davon gesprochen, dass «Kompetenz» unter unseren zeitgeistigen Begriffen derjenige ist, der die größte «Anbandelungswut» entwickelt hat. Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz bis zur Reflexionskompetenz, von der Lesekompetenz bis zur Medienkompetenz, von der Sozialkompetenz bis zur Kommunikationskompetenz, von der Teamkompetenz bis zur Selbstkompetenz, von der Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz reicht dieser halbseidene Reigen. Solch verbale Promiskuität ist in der Tat obszön, und anständige Menschen sollten das Wort Kompetenz, in welcher Verbindung auch immer, nicht mehr in den Mund nehmen.

Die eigentliche Unanständigkeit aber lauert hinter diesen Phrasen. Sie besteht im Glauben, dass Schule, Unterricht und Bildung junge Menschen umfassend auf die Zukunft vorbereiten und ihnen alle Fähigkeiten vermitteln könnten, die gebraucht werden, um die kommenden Herausforderungen anzunehmen. Und deshalb werden neue Kulturtechniken propagiert – Coding –, missliebige Inhalte entsorgt – die Kunst der alten weißen Männer –, neue Fächer oder Fächerbündel eingeführt – Ernährung, Medien und Klima – und moderne Lernformen verordnet – interaktiv, digital und ohne lästige Lehrperson.

Bilden bedeutet ganz wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu können.

Hinter all dem Wortgetöse, dem die pädagogische Praxis zum Glück nur selten folgt, steckt ein grundsätzlicher Irrtum. Da kein Menschen weiß, was die Zukunft bringen wird, ist es schlechterdings verantwortungslos, dieses Unwissen zum Maßstab und zur Zielvorstellung für die Formen und Inhalte des Unterrichts zu machen. Das führt nur zu Scharlatanerie und falschen Propheten. Es geht nicht darum, herauszufinden, welche Bildung wir für das 21. Jahrhundert benötigen, sondern darum, jene Bildung zu vermitteln, die notwendig ist, um zu verstehen, warum die Welt so geworden ist, wie sie nun einmal ist. Bilden bedeutet ganz wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu können. In ihrem Zentrum stehen die Leistungen der Vergangenheit.

Statt eine dubiose Zukunftsoffenheit zu propagieren, sollte man lieber darüber nachdenken, was von dem, was Menschen bisher an Wissen und Erkenntnis, an Kunst und Kultur, an Ethos und Moral, an Methoden und Technologien entwickelt haben, aus guten Gründen erhalten, bearbeitet, vermittelt und unterrichtet werden kann. Das hat nichts mit Traditionspflege oder starrem Festhalten an Überholtem zu tun, sondern mit den notwendigen Voraussetzungen für ein bewusstes und mündiges Leben in einer nicht gerade einfachen Welt. Die Vergangenheit ist ein Fundament, aber keine Norm.

Vielleicht aber sollte man das Verhältnis von Zukunft und Bildung zumindest versuchsweise überhaupt einmal radikal umdrehen. Wie wäre es, wenn man die Bildung nicht an der Zukunft, sondern die Zukunft an der Bildung misst? Es gibt großartige Entwürfe einer Erziehung zur Mündigkeit, zur moralischen und ästhetischen Sensibilisierung des Menschen, zur Humanisierung der Affekte, zu einem Streben nach Weisheit und Einsicht, die dafür herangezogen werden könnten. Man sollte auch einmal darüber nachdenken, wie eine Welt beschaffen sein müsste, die solchen Bildungsansprüchen genügte. Bildung benötigt keine Kompetenzen; sie benötigt Selbstbewusstsein.

Zum Beitrag:  NZZ, 14.5.2019, Konrad Paul Liessmann, Kolumne, Unanständiger Unterricht

Lernerfolgsfaktoren

Pädagogische Beziehung – Der Geheimcode für Lernerfolg

Trotz medialer Digitalisierung bleiben Lehren und Lernen analoge Prozesse. Die Unterrichtsforschung lenkt aktuell den Blick auf den unterschätzten Aspekt der Lehrer-Schüler-Beziehung. Ihre Qualität gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung – und an ihr lässt sich arbeiten.

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten war 35 Jahre Gymnasiallehrer in Köln. Heute berät er Schulen in punkto evidenzbasierte Unterrichtsqualität, veröffentlicht pädagogische Sachbücher (siehe nebenstehende Bücherliste und unter LINKS) und schreibt u.a. für ZEIT-online und SPIEGEL-online.

Die Digitalisierung der Schule ist in aller Munde. Nichts, was sich dadurch nicht bessern soll: die Leistungen der Schüler, ihre Motivation, vielleicht gar die Bildungsgerechtigkeit. So schwärmte ein Didaktiker kürzlich davon, dass Tablet und Internet nicht lediglich neue Werkzeuge seien. Der wahre Mehrwert digitaler Medien bestehe keineswegs darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern vielmehr „völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen“. Die heraufziehende „Kultur der Digitalität“ tauche „die gesamte Gesellschaft in eine neue Denk-Nährlösung, in der auch solche Begriffe wie „Lernen“ und „Wissen“ neue Bedeutungen erhalten“.
Klingt schier überwältigend – aber stimmt eigentlich, was so einnehmend daherkommt? Steht mit der Digitalisierung wirklich eine Bildungsrevolution ins Haus? Wird man schulisches Lernen in 10 Jahren allen Ernstes nicht mehr wiedererkennen? Hellsehen kann sicher niemand – man wird beobachten müssen, wie sich die Dinge entwickeln. Der aktuelle Forschungsstand weist jedenfalls in eine andere Richtung.

Digitale Lerneffekte auf dem Prüfstand

So besagt die XXL-Metastudie „Visible Learning“ des Neuseeländers John Hattie (2009/2017): Im Vergleich zur durchschnittlichen Lernprogression von Schülern (Effektstärke 0,4) bleiben die Lerneffekte durch Digitalisierung (mit Ausnahmen) leicht unterdurchschnittlich. Nicht Medien und Ressourcen sind entscheidend, sondern der Aktivierungsgrad der Schüler und die Lehrerimpulse zu gründlicher Stoffdurchdringung. Ob etwa jeder Schüler einen eigenen Laptop hat, ist relativ unbedeutend (0,16); wenn jedoch interaktive Lernvideos den Unterricht ergänzen, kann dies recht hilfreich sein (0,54). Auch im naturwissenschaftlichen Unterricht gibt es anscheinend Wichtigeres als IT-Einsatz (0,23), während sich bei besonderen Förderbedarfen digitale Hilfsmittel als förderlich erweisen (0,57).

Das lässt zumindest vermuten: Der analoge (weil anthropologisch bedingte) Flaschenhals beim Lernen lässt sich weder umgehen noch ignorieren; durch ihn muss zunächst hindurch, wer in der Welt halbwegs mündig ankommen will, auch in der zunehmend digitalisierten. Deshalb titelte ja der Medienwissenschaftler Ralf Lankau: „Kein Mensch lernt digital“. Das Potential des neuen Handwerkszeugs für die Schule ist dabei unbestritten. Üben und Anwenden können für Schüler reichhaltiger und individueller werden, Einsichten lassen sich vielfältiger vertiefen, es gibt mehr Möglichkeiten für Feedback und Kollaboration. Ein vollkommen anderes, etwa selbstgesteuertes Erarbeiten neuer Zusammenhänge aber ist bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil: Das pädagogische Mantra der Eigenverantwortlichkeit hat im Licht der Empirie arg an Ansehen verloren.

Pädagogische Beziehung – altmodisch oder neuer Hit?

Dagegen lenkt Hatties riesige Datenbasis über Lehr-Lern-Effekte den Blick auf etwas gerne Unterschätztes: „Die Lehrer-Schüler-Beziehung gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung von Schülern.“ Oder wie der Neurowissenschaftler Joachim Bauer so formuliert hat: „Der Mensch ist für den anderen Menschen die Motivationsdroge Nummer Eins.“ Als Kurzformel für die Schule: Unterricht ist vor allem Beziehungssache!

Es hängt nämlich ungemein stark vom Beziehungsklima der Lehrkraft ab, ob ich mich als Schüler auch an schwierige Sachverhalte herantraue oder aber vorzeitig aufgebe, ob ich mich auch mit lästigen Themen beschäftigen mag, ob ich meine Müdigkeit oder den Ärger mit meinen Tischnachbarn vorübergehend vergessen kann.

Umgekehrt beeinflussen Menschenbild und Kontaktfreudigkeit der Lehrkraft auch die eigene Berufszufriedenheit. Ob man immer wieder mit den verschiedensten Schüler gut zurechtkommt, ob Unterrichten einem auch nach Jahrzehnten noch Freude macht – das hängt stark davon ab, ob man junge Menschen in all‘ ihrer Unfertigkeit und Wildheit grundsätzlich mag (auch und gerade die „Schwierigen“); ob man sich für sie individuell interessiert und in sie hineinversetzen kann; ob man Lerngruppen gelassen und sicher zu führen vermag, auch durch schwierige Themen und turbulente Situationen.Potsdamer Lehrerstudie 2005

Lehrer-Schüler-Beziehung – was ist das eigentlich?

Pädagogische Beziehung ist also ein Geheimcode für Wirkerfolg wie Berufszufriedenheit, bildet aber in der Lehrerausbildung eine Art Grauzone. Dabei ist Beziehungsqualität weder Schicksal noch etwas Magisches – Lehrkräfte können auch in diesem eher emotionalen Bereich dazulernen. Zwar ist die Lehrer-Schüler-Beziehung imer persönlich geprägt, sie sollte aber zugleich professionellen Charakter haben. Schüler brauchen die Lehrperson als mitmenschliches Gegenüber beim Lernen – sie wollen als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen, unterstützt und geführt werden.

Konkret drückt sich das etwa darin aus, dass man an seinen Schülern interessiert ist und jeden auf seine Art schätzt; dass man Beiträge der Schüler aufgreift und vertiefende Rückfragen stellt; dass man die Stärken und Schwächen einzelner Schüler kennt und entsprechend anerkennen oder ermuntern kann; dass man außerhalb des Unterrichts auch für Persönliches ansprechbar ist; auch, dass man alle Abläufe im Klassengeschehen mitbekommt, eigene Fehler eingestehen kann, möglichst wenig ärgerliche oder abwertende Affekte zeigt. Nicht gemeint ist hingegen, Schülern der quasi „beste Freund“ sein zu wollen.

Das Geheimnis guter Klassenführung

Aber ich hab‘ doch 30 ganz verschiedene Schüler – wie kann ich da zu jedem Einzelnen in Beziehung treten? Und das womöglich sechsmal am Tag? Glücklicherweise haben Lernende gleich welchen Alters etwas Gemeinsames: Sie sind innerlich auf die kompetente Lehrperson ausgerichtet und wollen deren Beachtung und Bestätigung erfahren. Der Lehrer muss nur darum wissen – und seine Rolle als gute Autorität un-ver-schämt spielen. Wenn diese Beziehung stimmt, dann reisst man eine Lerngruppe einfach mit, auch bei Hitze, auch durch öden Stoff. Wirkungsvolles classroom management ist also nichts Technisches, sondern beruht auf einer inneren Haltung des Anführens – sie wirkt in jeder Äußerung, durch jede Entscheidung.

Kann man das denn lernen?

Diese zwischenmenschliche Dimension lässt sich nicht per Rezeptsammlung erwerben, aber im Berufsleben enorm ausbauen. Sie ist indes auch empfindlich, leicht hemmbar, schnell störanfällig. Berufsanfänger sind oft unsicher, ob die Schüler sie ernstnehmen; routinierte Lehrer leiden unter Lehrplanstress. Aber auch persönliche Eigenheiten einer Lehrkraft können stören: Perfektionismus etwa, oder eine allzu distanzierte Art; oder wenn sie um die Anerkennung von Schülern ringt oder Konflikte mit ihnen vermeiden will, sich also führungsscheu verhält.

Generell nimmt man als Lehrerin oder Lehrer Unterrichtsstörungen schnell persönlich: Man denkt dann, diese Schülerin fragt immer so komisch, die kann mich sicher nicht leiden; oder jener Schüler will mir mit seinen dauernden Witzen die Stunde kaputt machen; oder keiner schätzt meine aufwändigen  Vorbereitungen. Und dann wird man schlecht gelaunt – oder schießt gar mit Kanonen auf Spatzen. Tatsächlich möchte das Mädchen vielleicht nur zeigen, welch tolle Gedanken sie sich zum Thema macht; und der Junge könnte von eigenen Verständnisschwierigkeiten ablenken wollen. Alfred Adler, Pionier der pädagogischen Tiefenpsychologie, hat wichtige Anregungen gegeben, wie man Störungen als subjektive Lösungen durchschauen – und ungünstige Energie in nützliche Bahnen lenken kann.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Beitrag aus: https://www.goethe.de/de/spr/mag/21537868.html Das Goethe-Institut e. V. ist eine weltweit tätige Organisation zur Förderung der deutschen Sprache im Ausland, zur Pflege der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und zur Vermittlung eines umfassenden Deutschlandbildes durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben.

„Latein wird von 40 Prozent der Schüler gewählt“

Eine friedliche Insel in Neukölln

Das Ernst-Abbe-Gymnasium liegt mitten in einem Berliner Brennpunkt. 94 Prozent der Schüler haben Migrationshintergrund. Wie gelingt dort der Schulalltag?

Berlin, 24. 04. 2019, Heike Schmoll

Auf der Sonnenallee in Berlin sieht man sich unversehens in den Orient versetzt. Die Geschäfte tragen arabische Schriftzeichen, bieten entsprechende Brautmoden und mit weißem Tüll geschmückte Schatzkästlein für die Mitgift, daneben finden sich Billigläden für Haushaltsutensilien und Praktisches. Hinzu kommen viele Bäckereien, Cafés und Shisha-Bars, in denen fast ausschließlich Männer sitzen, Nuss- und Kaffeeröstereien, Imbisstheken, Grill-Restaurants und Falafel-Buden. Die Sonnenallee war einmal das arabische Viertel, inzwischen ist sie mit ihrem Altbaubestand auch bei anderen Milieus begehrt. Die Mieten steigen. Viele Einwanderer leben dort auf engstem Raum – nicht selten teilen sich achtköpfige Familien eine Dreizimmerwohnung. Die größte Gruppe bilden schon seit den siebziger Jahren die Türken, die wegen einer Zuzugssperre für Kreuzberg, Wedding und Tiergarten nach Nordneukölln gezogen waren. Ansonsten wohnen hier längst Albaner, Bosnier und Tschetschenen, aber auch europäische Einwanderer wie Italiener, Spanier und Portugiesen zieht es zunehmend in das Viertel.

Mittendrin befindet sich ein ehrwürdiges Backsteingebäude, das wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Es ist das Ernst-Abbe-Gymnasium mit einem Migrantenanteil von 94 Prozent, von der Schulbürokratie in Berlin als Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache (ndH) bezeichnet. Wer die Schultür öffnet, begegnet als Erstes einem freundlichen Sicherheitsmann. Den braucht das Gymnasium genauso wie alle anderen Schulen in Neukölln, die Kosten dafür übernimmt der Bezirk. Der Schulhof erweckt den Eindruck eines geschützten Raumes inmitten der lärmumtosten Straße. Solche Schutzräume für Kinder und Jugendliche zu schaffen, die unter schwierigsten sozialen Bedingungen aufwachsen, ist dem Schulleiter Tilmann Kötterheinrich-Wedekind besonders wichtig. Zu oft sind erboste Eltern oder rachsüchtige Brüder in die Schule gekommen, die einen vermeintlichen Übeltäter unter den Mitschülern vermöbeln wollten. Erst vor kurzem gab es wieder einen gewalttätigen Zwischenfall – allerdings vor der Schule. Auch der wird geahndet: Die Schule hat Anzeige gegen die daran Beteiligten erstattet. Aber auch innerschulisch gibt es viele Sanktionsmöglichkeiten vom schriftlichen Verweis über einen Klassenwechsel bis zum Schulverweis, dem Schulaufsicht und Gesamtkonferenz zustimmen.

Über besondere Disziplinprobleme während des Unterrichts kann die Schule nicht klagen, obwohl in den siebten Klassen teilweise 29 Schüler sitzen. Zwei Drittel sind in den meisten Klassen Mädchen, fünf bis sechs tragen ein Kopftuch. Wegen der sechsjährigen Berliner Grundschule ist die erste Gymnasialklasse, ein Probejahr. Von knapp über hundert Schülern müssen am Ende des Schuljahrs 15 bis 20 Prozent wieder gehen, obwohl sie oft Vorbereitungskurse besucht haben. Sie stehen allen Schülern der umliegenden Grundschulen offen und werden in Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften angeboten. Die Schulleiterin der Grundschule in der Köllnischen Heide, Astrid-Sabine Busse, bestätigt, dass nur Schüler zugelassen werden, die auf einer glatten Zwei stehen und fest vorhaben, aufs Abbe-Gymnasium zu gehen. Früher habe sich ein Gymnasium überhaupt nicht um Grundschulen geschert, das sei beim Abbe ganz anders geworden, sagt Busse, deren Schülerschaft mehrheitlich arabischer Herkunft ist. Unter den Eltern an ihrer Schule gibt es fließend Deutsch sprechende Väter aus dem arabischen Raum, aber auch Mütter, die auch nach 30 Jahren kein Wort Deutsch können. Die dritte vermeintlich integrierte Elterngeneration gibt es für Busse nicht.

Das Hauptproblem für die Schüler, die zu Hause wenig oder kein Deutsch sprechen, bleibt während der gesamten Schulzeit Deutsch als Bildungssprache. Noch in der neunten Klasse haben einige selbst im Gymnasium Probleme beim Vorlesen mit Fremdwörtern wie „Interpretation“ und erwecken nicht immer den Eindruck, als verstünden sie auch, was sie gerade vortragen. Das Abbe-Gymnasium hat sich deshalb Sprachbildung auf die Fahnen geschrieben. Es nimmt am bundesweiten Projekt BiSS (Bildung durch Sprache und Schrift) teil, das vom Bundesbildungsministerium gefördert wird. In den Klassenstufen sieben und acht werden zusätzlich zum Deutschunterricht zwei Stunden Deutsch als Zweitsprache erteilt.

Außerdem händigt die Schule jedem einen Schulplaner aus, der nicht nur Raum für Aufgabennotizen lässt, sondern auch sprachliche Wendungen für unterschiedliche Unterrichtssituationen und Fächer bereithält, an denen sich Schüler orientieren können. Alle Arbeitsaufträge werden schriftlich erteilt – meist durch einen Tafelanschrieb, und selbst im Sportunterricht geht es immer wieder darum, Sprache zu üben. In der Sporthalle unterbricht die arabischstämmige Lehrerin, eine frühere Schülerin des Abbe-Gymnasiums, die praktischen Übungen für das Basketballspiel, um die Korbleger-Regeln zu erläutern. Die Schüler sitzen im Kreis auf dem Boden und müssen auch ausdrücken können, was sie gleich in Bewegung umsetzen. In allen Fächern wiederholen die Fachlehrer die Aussagen von Schülern und korrigieren dabei vorsichtig grammatische Fehler. Schwimmunterricht kann die Schule schon deshalb nicht anbieten, weil die Familien die jungen Mädchen nicht teilnehmen ließen. Manche Schülerinnen wollten auch schon in langen Kleidern zum Sportunterricht gehen.

In solchen Fällen greift die türkischstämmige und muslimisch religiös aufgewachsene Safiye Celikyürek, die Deutsch und Englisch unterrichtet, ein und entgegnet, dass der Islam keine Sportkleidung vorschreibe und eine weite Jogginghose mit einem langärmeligen T-Shirt völlig opportun sei. Celikyürek trägt kein Kopftuch wie viele ihrer Schülerinnen, das würde der Schulleiter auch nicht befürworten. Er hält das Neutralitätsgebot gerade an seiner Schule für eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Einen Gebetsraum duldet er genauso wenig wie öffentliches Beten auf den Gängen mit Publikum. Das Beten könne nach allen religiösen Regeln auch auf den Abend verschoben werden und Religion sei Privatsache, sagt Kötterheinrich-Wedekind. Dass die Schüler am Samstag in die Moscheeschulen gehen, kann die Schule ohnehin nicht verhindern.

So etwas wie eine „Toiletten-Scharia“ duldet die Schule nicht. Es gab offenbar schon Mitschüler, die andere beim Gang auf die Toilette dabei überprüften, ob sie während des Ramadan heimlich essen oder trinken. „Wer nicht fastet, ist kein richtiger Muslim“, sagen dann vor allem die Jungs, die den Ramadan wie einen Entsagungswettbewerb verstehen. Das Fasten im Ramadan ist für den Schulalltag und Prüfungszeiten ein riesiges Problem. Manchmal wissen nicht einmal die Eltern, dass ihr Kind während des Ramadan fastet. Es gibt Schüler, die aufgrund der völligen Flüssigkeits- und Nahrungskarenz schon nach der dritten Stunde nicht mehr können und sich krankmelden. Der soziale Druck der Mitschüler ist oft stärker als häusliche Erwartungen. In diesem Jahr beginnt der Ramadan am 6. Mai, die Prüfungen für den mittleren Schulabschluss fallen genau in diese Zeit. Celikyürek fastet nicht und versucht auch die Schüler davon zu überzeugen, dass sie zumindest trinken sollen, das Fasten aber am besten ganz lassen, vor allem während der Prüfungszeit.

Auch beim Kopftuchtragen herrscht in den Klassen Gruppendruck. In den siebten Schuljahren tragen von dreißig Schülern etwa sechs Mädchen ein Kopftuch, in den höheren Klassen werden es immer mehr. Oft kommen sie nach den Sommerferien mit Kopftuch wieder. Aber, so berichtet Celikyürek, es gibt manchmal auch Mädchen, die das Kopftuch wieder ablegen – nach einem Gespräch mit der Tante in einem Fall. Vor allem die Mädchen müssen nach der Schule oft im Haushalt mithelfen. Für sie ist der Schutz- und Bildungsraum Schule ganz besonders wichtig. Nicht wenige Schüler bleiben deshalb gern bei der Hausaufgabenbetreuung in der Schule. Es gebe Schüler, die ihre Aufgaben zu Hause in der Badewanne machten, weil sie keinen Arbeitsplatz hätten, sagt Kötterheinrich-Wedekind.

Abendliche Theaterbesuche mit Lehrern sind schwierig. Neulich habe sie eine Schülerin nach dem Theater persönlich nach Hause begleitet, die Eltern hätten sie sonst nicht mitgehen lassen, sagt Celikyürek. Der Schule, die vollständig saniert ist, Internet in jedem Klassenraum hat und eine neue Turnhalle nutzen kann, beschert die Schülerzusammensetzung 100000 Euro aus dem sogenannten Bonusprogramm in Berlin. Schulen mit mehr als 40 Prozent Schülern aus Hartz-IV-Familien, die von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind, können bis zu 100000 Euro im Jahr mehr an Mitteln beantragen. Am Ernst-Abbe-Gymnasium haben 80 Prozent der Schüler eine Lernmittelbefreiung. Für die Bewilligung der Senatsfinanzen müssen die Schulen Ziele entwickeln, was und wen sie fördern wollen – und dafür selbständig Verträge abschließen und Fachkräfte engagieren. Die Hausaufgabenbetreuung, die Honorarkräfte für die Bibliothek, die Schülersozialhilfe, die Konflikte unter Schülern schlichtet. So berichtet eine Siebtklässlerin vom Streit mit einem Kameraden, von dem sie sich auch als Mädchen angegriffen fühlte. Nach einem einstündigen Gespräch mit den Sozialhelfern konnten sich die beiden versöhnen.

Kötterheinrich-Wedekind will sich über die Ausstattung nicht beschweren und gehört überhaupt nicht zum jammernden Teil seiner Zunft. Er beschönigt nichts, auch in seiner Schule nicht, und hält mit unangenehmen Wahrheiten nicht hinter dem Berg. Der Abischnitt seiner Schule liege bei 2,7, und das Abbe stehe damit auf einem der letzten Plätze des Berliner Rankings. Aber es ist schon eine Leistung, dass 93 bis 96 Prozent der Schüler das Berliner Abitur schaffen, und das bei den beiden zweiten Fremdsprachen Latein und Französisch. Latein wird von 40 Prozent der Schüler angewählt, und viele verlassen die Schule mit einem Latinum, nur wenige studieren. Aber die Schule ist schon froh, wenn die weiblichen Abiturienten nicht ein Jahr nach dem Abitur mit einem Kinderwagen an der Schule vorbeikommen und damit ihren Verzicht auf eine Ausbildung dokumentieren.

Von Ermäßigungsstrategien halten weder der Schulleiter noch sein Lehrerkollegium etwas. Die herausfordernde Schülerzusammensetzung wollen sie nicht als Ausrede für niedrigere Ansprüche gelten lassen. Kötterheinrich-Wedekinds Schule gehört auch wegen des Lateinunterrichts zu den Partnerschulen der Lehrerbildung in der Humboldt-Universität. Er als Altphilologe hätte es einfacher haben können und als Lateinlehrer am renommierten Arndt-Gymnasium in Berlin-Dahlem bleiben können, aber das wollte er nicht. Während die Eltern in Dahlem oft zu zweit beim Elternabend erschienen, muss das Ernst-Abbe-Gymnasium um die Mitwirkung der Eltern kämpfen. In arabischen und türkischen Familien überlassen die Eltern der Schule gern allein die Verantwortung für die Bildungslaufbahn ihrer Kinder. Häufig läuft der Fernseher mit Satellitenprogrammen nahezu rund um die Uhr, oder die Kinder werden am Wochenende dem Computer überlassen. Für Rückzugsmöglichkeiten zum Lesen oder Lernen sorgen die Eltern nicht. Sie sind gern bereit, einen Kuchen fürs Schulfest zu backen, aber wenn es um echte Mitarbeit oder gar Präsenz geht, wird es schwierig. Wenn einmal zehn bis zwölf von etwa 1200 Eltern im Elterncafé der Schule waren, gilt das schon als Erfolg. Sie werden dort fürstlich empfangen, können ohne Anlass und Termin Lehrer und Schulleiter treffen. Von Möglichkeiten der Schullaufbahnberatung bis hin zu Gesundheitsthemen reichen die thematischen Angebote der Schule. Aber das Kollegium arbeitet weiter daran, Schülern aus schwierigsten Verhältnissen Bildungsaufstiege zu ermöglichen, mit Rückschlägen und stetigem Engagement.

zum Artikel: F.A.Z. – POLITIK, 24. April 2019, BERLIN, Heike Schmoll, Eine friedliche Insel in Neukölln

Schule im Dienst der Konzerne?

Fortbildung und Ausstattung in privater Hand


René Scheppler

René Scheppler ist Lehrer an einer Wiesbadener Gesamtschule. Mit den studierten Fächern Geschichte und Deutsch.

Sie sind ein wahrer Innovator, vertrauensvoller Berater, leidenschaftlicher Fürsprecher, authentischer Autor und weltweit tätiger Botschafter? Sie wollen Ihren Kolleginnen und Kollegen den Weg zu effektiver Technologienutzung ebnen?

Sie wollen dem Konzern Microsoft helfen, im Bereich Innovationen führend zu sein? Sie wollen Ihre Ideen für die effektive Nutzung der Technologie im Bildungsbereich verfechten und mit Kolleginnen und Kollegen und politischen Entscheidungsträgern teilen?

Sie wollen Einblicke in neue Produkte und Tools zur Verfügung stellen und für Innovationen werben?

Dann können Sie sich bei den Firmen Apple und Microsoft für die Teilnahme an konzernexklusiven Fortbildungsprogrammen für Lehrerinnen und Lehrer bewerben und – nach Auswahl durch den Konzern und erfolgreicher Teilnahme – zum Microsoft Innovative Educator Expert, Apple Distin guished Educator oder – wenn Sie sich besonders „bewähren“ – zum Apple Certified Trainer avancieren (1). Auf Apple Distinguished Educators trifft man vereinzelt auch in den regionalenMedienzentren, die Schulen im Auftrag der Kultusministerienund Schulträger im Bereich Digitalisierung beraten.

Bild: HLZ 1-2/2019, S. 15, Rene‘ Scheppler

Mit diesen Zertifikaten dürfen Sie dann – als Nebentätigkeit – im Dienst der Konzerne Vorträge halten, Fortbildungen anbieten und Schulen beraten – auch wenn „das Führen eines solchen Titels“ nach einer Auskunft des Hessischen Kultusministeriums nach Vorschriften „in § 58 Abs. 2 HBG sowie in § 3 Abs. 15 HSchG nicht gestattet“ ist (2). Dass sich allerdings eine ganze hessische Schule mit dem Titel einer Samsung Lighthouse School schmücken darf, verwundert dann doch. Aber dazu später mehr…

Microsoft Showcase School…

Auch eine andere Entwicklung ist aus den USA inzwischen in Deutschland angekommen, wie die folgende Erfolgsbilanz von Microsoft zur „Übernahme“ ganzer Schulen dokumentiert:

„Für das Schuljahr 2016/2017 hat Microsoft weltweit 4.800 Lehrende und 851 Schulen aus über 100 Ländern nominiert, darunter sind 175 Lehrerinnen und Lehrer sowie 26 Schulen aus Deutschland. Das Gesamtbudget von Microsoft für die weltweite Bildungsinitiative beläuft sich auf 750 Millionen US-Dollar über einen Zeitraum von 15 Jahren (2003 bis 2018).“ (2)

Als Microsoft Showcase School können sich jedoch nur die Schulen bewerben, „die bereits Microsoft Lösungen wie Surface-Tablets, Office 365 Education, Office Mix, OneNote, Skype oder Minecraft“ nutzen. In Hannover gibt es inzwischen die erste staatliche Schule, die sich als Apple Distinguished School bezeichnen kann. Aber auch diese Auszeichnung erfolgt nicht, ohne dass die folgenden von Apple festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind:

„Ein One-to-One Programm mit iPad oder Mac für Schüler und Lehrer ist seit mehr als zwei akademischen Jahren eingerichtet. Alle Schüler an Ihrer Schule nutzen Apple Geräte als primäres Lerngerät. Alle Lehrer an der Schule nutzen Apple Geräte als primäres Unterrichtsgerät. Lehrkräfte integrieren Apple Apps zur Erstellung von Inhalten (Fotos, iMovie, GarageBand, Pages, Keynote, Numbers und iBooks Author), Lernapps aus dem App Store, Bücher aus dem iBooks Store und Lernmaterialien aus iTunes U intensiv in den Lehrplan. Lehrer verfügen über eine hohe Kompetenz beim Verwenden von Apple Produkten. Für Schulen der Primar- und Sekundarstufe in Deutschland müssen vor Ablauf der Bewerbungsfrist 75 Prozent der Lehrer an der Schule als Apple Teacher anerkannt sein.“ (2)

… und die Samsung Lighthouse School

Im südhessischen Rüsselsheim gibt es die erste und bisher einzige deutsche Samsung Lighthouse School, auf die der Kreis Groß-Gerau als Schulträger des Neuen Gymnasiums und Landrat Thomas Will (SPD) besonders stolz sind. „Wir haben viele Leuchttürme im Kreis Groß-Gerau, aber dieser leuchtet besonders hell“, erklärte Will bei der Überreichung der Urkunde durch die Vertreter von Samsung im September 2015.

Deutlich weniger begeistert zeigte sich Landrat Will von einer Anfrage des Autors dieses Artikels, ob er denn bereit sei, den Inhalt und das konkrete Ausmaß der „Kooperation“ transparent zu machen. Der Vertrag sei schließlich nicht vom Schulträger unterzeichnet worden und er sei als Landrat nur bei der Unterzeichnung anwesend gewesen. Auch das Hessische Kultusministerium erklärte sich für nicht zuständig:

„Da die erbetenen Informationen dem Hessischen Kultusministerium nicht vorliegen, kann Ihrem Antrag nicht entsprochen werden.“ (2)

Die Schulleitung des Neuen Gymnasiums verwies auf „ein schutzwürdiges Interesse (…) der Firma Samsung“, die „die entsprechende Information bereits verweigert hat“. Hierzu muss man wissen, dass auch das Land Hessen seit Mai 2018 ein „Informationsfreiheitsgesetz“ hat. Nach § 80 hat jede Bürgerin und jeder Bürger gegenüber Behörden und öffentlichen Dienststellen einen „Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen“, womit „alle amtlichen Zwecken dienenden Aufzeichnungen, unabhängig von der Art ihrer Speicherung“ gemeint sind.

Nach den zugänglichen Zeitungsberichten und Informationen auf der Homepage der Schule finanziert Samsung als Sponsor der Schule die Einrichtung einer „Tablet-Oberstufe“, wobei die Samsung-Tablets „zu einem reduzierten Preis“ in das Eigentum der Schülerinnen und Schüler übergehen.

Auch andere Elemente der Kooperation sind prototypisch:
• Eine wissenschaftliche Begleitung – in diesem Fall durch den Medienpädagogen Professor Dr. Stefan Aufenanger – sorgt für die nötige Seriosität.

• Als Ausdruck der „Gemeinnützigkeit“ dient die Einbettung entsprechender Kooperationen in Wettbewerbe oder gemeinnützige Stiftungen. In diesem Fall fand die Verleihung der Urkunde an das Neue Gymnasium „im Rahmen der Prämierung des Wettbewerbs IDEEN BEWEGEN der von der Samsung Electronics GmbH geförderten Initiative DIGITALE BILDUNG NEU DENKEN“ statt (3).

„In ihrer Offenheit schon fast putzig…“

In anderen Bundesländern sieht man entsprechende Kooperationen offensichtlich distanzierter. Wolf-Jürgen Karle vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft des Landes Rheinland-Pfalz, der das Ansinnen der IT-Konzerne in einem Artikel der WELT 2013 „in ihrer Offenherzigkeit“ als „schon fast putzig“ (4) bezeichnete, verwies auf die Dienstpflichten der Lehrkräfte:

„Für Lehrkräfte im Beamten- wie im Beschäftigtenverhältnis gilt das Neutralitätsgebot. Jede einseitige Unterrichtung und Information ist unzulässig.“

Lehrkräfte, die sich für den bevorzugten oder ausschließlichen Einsatz von Apple-Geräten im Klassenzimmer einsetzten, verstießen „gegen geltendes Recht in Rheinland-Pfalz“.

Das niedersächsische Kultusministerium erklärte auf dieselbe Anfrage der WELT, dass die von Apple angebotenen „Fortbildungsreisen“ gegen die Antikorruptionsrichtlinien verstoßen, „die für alle beim Land beschäftigten Lehrkräfte gelten“.

Und was soll daran schlimm sein?

„Das ist doch weltfremd.“ Mit diesen Worten und dem Hinweis auf das Auslaufen der Kooperationsvereinbarung im Sommer 2018 kommentierte der stellvertretende Schulleiter des Neuen Gymnasiums eine Anfrage der FAZ zur Pressemitteilung der GEW (5). Den „Mehrwert“ aus der Kooperation „möchte man nicht mehr missen“. Und so sehen das mit Sicherheit auch viele Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und Eltern der Schule. Also: Wo ist hier die Gefahr?

In dem Maße, in dem der Staat seine Aufgaben im Rahmen der Lehreraus- und -fortbildung vernachlässigt und sogar an Konzerne mit erkennbaren und formulierten Eigeninteressen zu Gunsten der eigenen Produkte abgibt, verliert er die eigene Expertise in diesem Bereich.

In zahlreichen Bundesländern kann man dies bereits an der erschreckend geringen Zahl von Fortbildungsangeboten staatlicherseits ablesen. So werden beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern wichtige Zukunftsthemen in der digitalen Welt in produktexklusive Fortbildungen ausgelagert.

Werbung in Schulen ist in Hessen ausdrücklich verboten, doch der (neue) § 3 Abs.15 des Hessischen Schulgesetzes zeigt, wo es langgehen kann:

„Schulen dürfen zur Erfüllung ihrer Aufgaben Zuwendungen von Dritten entgegennehmen und auf deren Leistungen in geeigneter Weise hinweisen (Sponsoring), wenn die damit verbundene Werbewirkung begrenzt und überschaubar ist, deutlich hinter den schulischen Nutzen zurücktritt und das Sponsoring mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule vereinbar ist. Die Entscheidung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter.“

Der Staat vernachlässigt seine Aufgaben

Offensichtlich – und eine andere Lesart ist kaum möglich – ist der Staat nicht mehr in der Lage, den ihm hoheitlich aufgetragenen Verpflichtungen zur vollumfänglichen Finanzierung von Schulen nachzukommen. Auch im Bereich der Lehreraus- und -fortbildung ist man offenbar nicht mehr in der Lage, der Versuchung zu widerstehen, Dritten Zugänge zu gewähren, so dass der Eindruck der Abhängigkeit immer deutlicher wird.

Das Argument, dass sich „die Konzerne nun mal am besten mit der Technik und den eigenen Produkten auskennen“, ist zugleich ein Affront gegenüber den Medienzentren, die trotz viel zu geringer Ausstattung gute Arbeit leisten. Wer sich an derartige Strukturen gewöhnt hat, wird mittelfristig nicht mehr in der Lage sein, sich daraus aus eigener Kraft zu befreien und unabhängig seinen ursprünglichen Aufgaben nachzukommen.

Angesichts dieser Entwicklungen ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir uns die Frage stellen müssen, wie wir uns aus dieser „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wieder befreien können. Um eine Generation zu erziehen, die den Mut hat, „sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen“, scheint die Etablierung von Apple Distinguished Schools, Microsoft Showcase Schools und Samsung Lighthouse Schools nicht der vielversprechendste Ansatz zu sein.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Artikel in PDF-Format und Website des Autors „BildungsRadar“

Mündliche Schülerleistungen dominieren

Dem Schreiben hat diese Entwicklung der letzten Jahre nicht gut getan: Immer weniger Schüler konnten es ausreichend üben.

F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 04.04.2019, von Rainer Werner

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Verfasser des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“, siehe Bücherliste. Rainer Werner hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

2016 sorgte eine Meldung für Aufsehen: Das Bundeskriminalamt konnte von 120 Stellen nur 62 besetzen, weil zu viele Bewerber trotz Abiturs beim Deutschtest durchgefallen waren. Der Test erfragt Kenntnisse in Rechtschreibung, Grammatik, Wortschatz und Sprachverständnis. Von der Polizei der Länder hört man ähnliche Klagen. Viele Bewerber fallen vor allem durch die Sport- und Rechtschreibprüfung. Können die jungen Menschen heute nicht mehr richtig schreiben?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der ständig geredet wird. Überall sieht man Menschen telefonieren, sei es auf der Straße, im Café oder in der Straßenbahn. Alle Fernsehsender haben Gesprächsformate im Programm, in denen sich Menschen, die sich für Experten halten, über alle möglichen Themen unterhalten. Die Talkshow ist zum zweiten Wohnzimmer der Deutschen geworden. Für das Sprechen in diesem Gesprächskosmos gibt es keine Qualitätsmaßstäbe. Man darf reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Die lockere Diktion, Umgangssprache inklusive, gilt als Ausweis von Authentizität. Der Linguist Gerhard Augst vertritt die These, dass sich in unserer Gesellschaft das Gesprochene als Standardsprache durchgesetzt habe, was es schwer mache, auf die Dominanz der Schriftsprache zu pochen. Dem Sprachwissenschaftler Peter Gallmann fiel auf, dass Kinder vor allem in Regionen, in denen es einen ausgeprägten Dialekt gibt (Bayern, Schwaben), die Rechtschreibung gut beherrschen. Weil sie wissen, dass gesprochene und geschriebene Sprache nicht dasselbe sind, lernen sie die Schriftsprache als eigenständiges sprachliches System. Im Rest der Republik schreiben Schüler, wie sie sprechen.

In der Schule drückt sich die Dominanz der gesellschaftlichen Redekultur im starken Gewicht des Mündlichen aus. In der Sekundarstufe I zählt in allen Fächern die mündliche Mitarbeit zur Hälfte, in den Grundkursen der gymnasialen Oberstufe zu zwei Dritteln. Die in allen Bundesländern eingeführte 5. Prüfungskomponente des Abiturs, eine Präsentationsprüfung, besteht zumeist nur aus einer mündlichen Leistung. Nur wenige Bundesländer verlangen zusätzlich noch eine Facharbeit. Die meisten Gymnasiasten punkten im Mündlichen: Sie sind eloquent und verfügen über einen differenzierten Wortschatz. Die Noten fallen entsprechend gut aus. Liest man hingegen von Schülern verfasste Texte, stellt man fest, dass ihre Qualität deutlich hinter der Qualität ihrer mündlichen Beiträge zurückbleiben. Wenn es auf logische Gedankenführung, den präzisen Ausdruck und schlüssig zu Ende geführte Sätze ankommt, versagen auffallend viele Schüler. Selbst bei Abiturienten kann man erleben, dass sie in Orthografie und Interpunktion nicht sicher sind. Diese Defizite lassen darauf schließen, dass Schüler zu wenig mit schriftlichen Aufgaben konfrontiert werden. Die Benennung der Fehler bei der Korrektur und die kritischen Randbemerkungen der Lehrkraft bleiben meistens ohne Folgen, weil den Schülern in der Regel nicht mehr zugemutet wird, von Aufsatz und Klausur eine Berichtigung anzufertigen.

Universitäten klagen darüber, dass den Erstsemestern trotz attestierter guter Schulabschlüsse die Grundlagenkompetenzen in der Sprache fehlen. Dazu gehört vor allem die Fähigkeit, einen Gedankengang klar, schlüssig, logisch und fehlerfrei zu formulieren. Die Befragung von Studenten, die die Universität Konstanz jährlich durchführt, hat 2015 ergeben, dass mehr als 25 Prozent der Bachelorstudenten ihr Studium abbrechen. Neben der Doppelbelastung aus Studium und Job werden vor allem fachliche Mängel als Grund angegeben. 52 Prozent der Absolventen und 45 Prozent der Abbrecher gestehen ein, dass ihnen Kenntnisse und Techniken zum Verfassen akademischer Arbeiten fehlten. Die gymnasiale Oberstufe, und hier vor allem das Fach Deutsch, scheint dabei zu versagen, den Abiturienten das für ein erfolgreiches Studium nötige sprachliche Rüstzeug zu vermitteln.

An theoretischen Vorgaben fehlt es beileibe nicht. Die „Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife“ (KMK-Beschluss vom 18.10.2012) machen klare Aussagen zum Beherrschen der Schriftsprache: „Die Schülerinnen und Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie aufgabenadäquat, konzeptgeleitet, adressaten- und zielorientiert, normgerecht, sprachlich variabel und stilistisch stimmig gestalten.“ Auch die Deutsch-Lehrpläne für die Sekundarstufe II der einzelnen Bundesländer geben das Ziel vor, dass die Schüler „die Fähigkeit entwickeln, in angemessener Weise anspruchsvolle, komplexe Sachverhalte schriftlich zu formulieren“. (Beispiel Berlin) – Papier ist offensichtlich geduldig, sonst klafften beim Beherrschen der Schriftsprache Anspruch und Wirklichkeit nicht so weit auseinander.

Die Grundschuldidaktikerin Ulrike Holzwarth-Raether sieht die Ursachen für die Defizite im Schreiben schon vor der Grundschule gelegt. Mit den Kindern werde heute zu wenig gesungen und artikuliert gesprochen. Das behindere die Entwicklung der Laut-Buchstaben-Zuordnung, die eine wichtige Voraussetzung für den Schrifterwerb sei. In der Schule wird das Schreiben von Texten auf allen Schulstufen vernachlässigt. Bei Schülern gilt schreiben als lästig und „uncool“. Häufig hört man schon in der Unterstufe des Gymnasiums die Frage: „Müssen wir das wirklich aufschreiben?“ – In der Sekundarstufe I ist das Mitschreiben im Unterricht nicht mehr verpflichtend, weil die Schüler ja Arbeitsbögen zum Stoff der Stunde bekommen. Abheften von Papier ersetzt die Mühe, das Gehörte gedanklich zu verarbeiten und in adäquate Sätze zu kleiden. Stundenprotokolle haben in vielen Fächern den Rang einer Strafarbeit bekommen: „Wenn du nicht aufpasst, musst du die Stunde protokollieren!“ – Dabei zwingt gerade die Reduktion des Unterrichtsstoffes auf den knappen Umfang eines Protokolls zu gedanklicher Konzentration und präziser Formulierung.

Bei der Ausbildung schriftlicher Kompetenzen muss man früh beginnen. In Grundschule, Unterstufe und Sekundarstufe I sollte regelmäßig geschrieben werden. Es hat sich bewährt, in jede Unterrichtsstunde eine kleine Schreibaufgabe einzubauen, deren Resultate noch in der Stunde inhaltlich und sprachlich überprüft werden. Mit kreativen Schreibaufgaben (Beispiel: zwei literarische Figuren schreiben sich Briefe) kann man die Schreibaversion der Schüler am ehesten aufbrechen. Es ist unbedingt notwendig, Schülertexte zu korrigieren. Tut man das nicht, verfestigt sich der Eindruck, es sei letztlich egal, wie man schreibt. Da die Kapazitäten der Lehrkräfte begrenzt sind, können sie nicht ständig Schülertexte einsammeln und zu Hause korrigieren. Hier bietet sich die „Schreibkonferenz“ an. Drei bis vier Schüler korrigieren gemeinsam ihre Texte, bis sie verständlich und fehlerfrei sind. Wenn diese Methode häufig angewandt wird und wenn die Lehrkraft die Qualität der Endprodukte überprüft, wird sich die Schreibkompetenz der Schüler zwangsläufig verbessern. Dann werden die Texte beim logischen Aufbau, bei der schlüssigen Gedankenführung und bei der grammatisch-orthografischen Korrektheit kaum noch Fehler aufweisen. Auch hier bewährt sich das leider in Misskredit geratene didaktische Prinzip des beharrlichen Übens und Verbesserns.

Schulen können das Schreiben auch durch bessere Rahmenbedingungen aufwerten. Wenn der Deutsch-Fachbereich einen Preis für den besten Aufsatz in einem Jahrgang aussetzt, werden sich Schüler angesprochen fühlen, ihre Schreibkünste unter Beweis zu stellen. Eine Schülerzeitung, die Beiträge von Schülern veröffentlicht, kann signalisieren, dass Schreiben ein „cooles“ Handwerk ist. Dass Lesen die Schreibkompetenz erhöht, ist durch Studien bestens belegt. Regelmäßiges Lesen vergrößert den Wortschatz und festigt die Orthografie. Lesewettbewerbe gehören deshalb in jede Schule. Die Polytechnische Gesellschaft Frankfurt/M. führt einmal im Jahr einen Diktatwettbewerb durch, an dem sich Eltern, Schüler und Lehrer beteiligen. Die Sieger treten gegen die Sieger anderer Städte an. Dieses Projekt zeigt, dass der Wettstreit um sprachliche Korrektheit genauso reizvoll sein kann wie ein Sport- oder Musikwettbewerb. Es ist Zeit für eine Schreiboffensive.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Zur Website des Autors: „Für eine gute Schule