Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit
allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz über die
Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz. Doch braucht es dafür jeweils ein
eigenes Unterrichtsfach?
NZZ, 14.05.2019, Konrad Paul Liessmann
Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.
Ist heute von Schule und Bildung die Rede, sind große Worte unvermeidlich. Immer geht es gleich um Exzellenz und Spitzenplätze, um das Beste für unsere Jugend, um flächendeckende Digitalisierung, um die großen Herausforderungen, um die Kompetenzen für das 21. Jahrhundert und das dritte Jahrtausend.
Apropos Kompetenzen: Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat jüngst davon gesprochen, dass «Kompetenz» unter unseren zeitgeistigen Begriffen derjenige ist, der die größte «Anbandelungswut» entwickelt hat. Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz bis zur Reflexionskompetenz, von der Lesekompetenz bis zur Medienkompetenz, von der Sozialkompetenz bis zur Kommunikationskompetenz, von der Teamkompetenz bis zur Selbstkompetenz, von der Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz reicht dieser halbseidene Reigen. Solch verbale Promiskuität ist in der Tat obszön, und anständige Menschen sollten das Wort Kompetenz, in welcher Verbindung auch immer, nicht mehr in den Mund nehmen.
Die eigentliche Unanständigkeit aber lauert hinter diesen Phrasen. Sie besteht im Glauben, dass Schule, Unterricht und Bildung junge Menschen umfassend auf die Zukunft vorbereiten und ihnen alle Fähigkeiten vermitteln könnten, die gebraucht werden, um die kommenden Herausforderungen anzunehmen. Und deshalb werden neue Kulturtechniken propagiert – Coding –, missliebige Inhalte entsorgt – die Kunst der alten weißen Männer –, neue Fächer oder Fächerbündel eingeführt – Ernährung, Medien und Klima – und moderne Lernformen verordnet – interaktiv, digital und ohne lästige Lehrperson.
Bilden bedeutet ganz
wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu können.
Hinter all dem Wortgetöse, dem die pädagogische Praxis zum
Glück nur selten folgt, steckt ein grundsätzlicher Irrtum. Da kein Menschen
weiß, was die Zukunft bringen wird, ist es schlechterdings verantwortungslos,
dieses Unwissen zum Maßstab und zur Zielvorstellung für die Formen und Inhalte
des Unterrichts zu machen. Das führt nur zu Scharlatanerie und falschen
Propheten. Es geht nicht darum, herauszufinden, welche Bildung wir für
das 21. Jahrhundert benötigen, sondern darum, jene Bildung zu vermitteln,
die notwendig ist, um zu verstehen, warum die Welt so geworden ist, wie sie nun
einmal ist. Bilden bedeutet ganz wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu
können. In ihrem Zentrum stehen die Leistungen der Vergangenheit.
Statt eine dubiose Zukunftsoffenheit zu propagieren, sollte
man lieber darüber nachdenken, was von dem, was Menschen bisher an Wissen und
Erkenntnis, an Kunst und Kultur, an Ethos und Moral, an Methoden und
Technologien entwickelt haben, aus guten Gründen erhalten, bearbeitet,
vermittelt und unterrichtet werden kann. Das hat nichts mit Traditionspflege
oder starrem Festhalten an Überholtem zu tun, sondern mit den notwendigen
Voraussetzungen für ein bewusstes und mündiges Leben in einer nicht gerade
einfachen Welt. Die Vergangenheit ist ein Fundament, aber keine Norm.
Vielleicht aber sollte man das Verhältnis von Zukunft und
Bildung zumindest versuchsweise überhaupt einmal radikal umdrehen. Wie wäre es,
wenn man die Bildung nicht an der Zukunft, sondern die Zukunft an der Bildung
misst? Es gibt großartige Entwürfe einer Erziehung zur Mündigkeit, zur moralischen und ästhetischen Sensibilisierung des Menschen, zur Humanisierung der Affekte, zu einem Streben nach Weisheit und Einsicht, die dafür herangezogen werden könnten. Man sollte auch einmal darüber nachdenken, wie eine Welt beschaffen sein müsste, die solchen Bildungsansprüchen genügte. Bildung benötigt keine Kompetenzen; sie benötigt Selbstbewusstsein.
Pädagogische Beziehung – Der Geheimcode für Lernerfolg
Trotz medialer Digitalisierung bleiben Lehren und Lernen analoge Prozesse. Die Unterrichtsforschung lenkt aktuell den Blick auf den unterschätzten Aspekt der Lehrer-Schüler-Beziehung. Ihre Qualität gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung – und an ihr lässt sich arbeiten.
Der Pädagoge und Publizist Michael Felten war 35 Jahre Gymnasiallehrer in Köln. Heute berät er Schulen in punkto evidenzbasierte Unterrichtsqualität, veröffentlicht pädagogische Sachbücher (siehe nebenstehende Bücherliste und unter LINKS) und schreibt u.a. für ZEIT-online und SPIEGEL-online.
Die Digitalisierung der Schule ist in aller Munde. Nichts, was sich dadurch nicht bessern soll: die Leistungen der Schüler, ihre Motivation, vielleicht gar die Bildungsgerechtigkeit. So schwärmte ein Didaktiker kürzlich davon, dass Tablet und Internet nicht lediglich neue Werkzeuge seien. Der wahre Mehrwert digitaler Medien bestehe keineswegs darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern vielmehr „völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen“. Die heraufziehende „Kultur der Digitalität“ tauche „die gesamte Gesellschaft in eine neue Denk-Nährlösung, in der auch solche Begriffe wie „Lernen“ und „Wissen“ neue Bedeutungen erhalten“. Klingt schier überwältigend – aber stimmt eigentlich, was so einnehmend daherkommt? Steht mit der Digitalisierung wirklich eine Bildungsrevolution ins Haus? Wird man schulisches Lernen in 10 Jahren allen Ernstes nicht mehr wiedererkennen? Hellsehen kann sicher niemand – man wird beobachten müssen, wie sich die Dinge entwickeln. Der aktuelle Forschungsstand weist jedenfalls in eine andere Richtung.
Digitale Lerneffekte auf dem Prüfstand
So besagt die XXL-Metastudie „Visible Learning“ des Neuseeländers John Hattie (2009/2017): Im Vergleich zur durchschnittlichen Lernprogression von Schülern (Effektstärke 0,4) bleiben die Lerneffekte durch Digitalisierung (mit Ausnahmen) leicht unterdurchschnittlich. Nicht Medien und Ressourcen sind entscheidend, sondern der Aktivierungsgrad der Schüler und die Lehrerimpulse zu gründlicher Stoffdurchdringung. Ob etwa jeder Schüler einen eigenen Laptop hat, ist relativ unbedeutend (0,16); wenn jedoch interaktive Lernvideos den Unterricht ergänzen, kann dies recht hilfreich sein (0,54). Auch im naturwissenschaftlichen Unterricht gibt es anscheinend Wichtigeres als IT-Einsatz (0,23), während sich bei besonderen Förderbedarfen digitale Hilfsmittel als förderlich erweisen (0,57).
Das lässt zumindest vermuten: Der analoge (weil anthropologisch bedingte) Flaschenhals beim Lernen lässt sich weder umgehen noch ignorieren; durch ihn muss zunächst hindurch, wer in der Welt halbwegs mündig ankommen will, auch in der zunehmend digitalisierten. Deshalb titelte ja der Medienwissenschaftler Ralf Lankau: „Kein Mensch lernt digital“. Das Potential des neuen Handwerkszeugs für die Schule ist dabei unbestritten. Üben und Anwenden können für Schüler reichhaltiger und individueller werden, Einsichten lassen sich vielfältiger vertiefen, es gibt mehr Möglichkeiten für Feedback und Kollaboration. Ein vollkommen anderes, etwa selbstgesteuertes Erarbeiten neuer Zusammenhänge aber ist bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil: Das pädagogische Mantra der Eigenverantwortlichkeit hat im Licht der Empirie arg an Ansehen verloren.
Pädagogische Beziehung – altmodisch oder neuer Hit?
Dagegen lenkt Hatties riesige Datenbasis über Lehr-Lern-Effekte den Blick auf etwas gerne Unterschätztes: „Die Lehrer-Schüler-Beziehung gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung von Schülern.“ Oder wie der Neurowissenschaftler Joachim Bauer so formuliert hat: „Der Mensch ist für den anderen Menschen die Motivationsdroge Nummer Eins.“ Als Kurzformel für die Schule: Unterricht ist vor allem Beziehungssache!
Es hängt nämlich ungemein stark vom Beziehungsklima der Lehrkraft ab, ob ich mich als Schüler auch an schwierige Sachverhalte herantraue oder aber vorzeitig aufgebe, ob ich mich auch mit lästigen Themen beschäftigen mag, ob ich meine Müdigkeit oder den Ärger mit meinen Tischnachbarn vorübergehend vergessen kann.
Umgekehrt beeinflussen Menschenbild und Kontaktfreudigkeit der Lehrkraft auch die eigene Berufszufriedenheit. Ob man immer wieder mit den verschiedensten Schüler gut zurechtkommt, ob Unterrichten einem auch nach Jahrzehnten noch Freude macht – das hängt stark davon ab, ob man junge Menschen in all‘ ihrer Unfertigkeit und Wildheit grundsätzlich mag (auch und gerade die „Schwierigen“); ob man sich für sie individuell interessiert und in sie hineinversetzen kann; ob man Lerngruppen gelassen und sicher zu führen vermag, auch durch schwierige Themen und turbulente Situationen.Potsdamer Lehrerstudie 2005
Lehrer-Schüler-Beziehung – was ist das eigentlich?
Pädagogische Beziehung ist also ein Geheimcode für Wirkerfolg wie Berufszufriedenheit, bildet aber in der Lehrerausbildung eine Art Grauzone. Dabei ist Beziehungsqualität weder Schicksal noch etwas Magisches – Lehrkräfte können auch in diesem eher emotionalen Bereich dazulernen. Zwar ist die Lehrer-Schüler-Beziehung imer persönlich geprägt, sie sollte aber zugleich professionellen Charakter haben. Schüler brauchen die Lehrperson als mitmenschliches Gegenüber beim Lernen – sie wollen als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen, unterstützt und geführt werden.
Konkret drückt sich das etwa darin aus, dass man an seinen Schülern interessiert ist und jeden auf seine Art schätzt; dass man Beiträge der Schüler aufgreift und vertiefende Rückfragen stellt; dass man die Stärken und Schwächen einzelner Schüler kennt und entsprechend anerkennen oder ermuntern kann; dass man außerhalb des Unterrichts auch für Persönliches ansprechbar ist; auch, dass man alle Abläufe im Klassengeschehen mitbekommt, eigene Fehler eingestehen kann, möglichst wenig ärgerliche oder abwertende Affekte zeigt. Nicht gemeint ist hingegen, Schülern der quasi „beste Freund“ sein zu wollen.
Das Geheimnis guter Klassenführung
Aber ich hab‘ doch 30 ganz verschiedene Schüler – wie kann
ich da zu jedem Einzelnen in Beziehung treten? Und das womöglich sechsmal am
Tag? Glücklicherweise haben Lernende gleich welchen Alters etwas Gemeinsames:
Sie sind innerlich auf die kompetente Lehrperson ausgerichtet und wollen deren
Beachtung und Bestätigung erfahren. Der Lehrer muss nur darum wissen – und seine
Rolle als gute Autorität un-ver-schämt spielen. Wenn diese Beziehung stimmt,
dann reisst man eine Lerngruppe einfach mit, auch bei Hitze, auch durch öden
Stoff. Wirkungsvolles classroom management ist also nichts Technisches, sondern
beruht auf einer inneren
Haltung des Anführens – sie wirkt in jeder Äußerung, durch jede
Entscheidung.
Kann man das denn lernen?
Diese zwischenmenschliche Dimension lässt sich nicht per Rezeptsammlung erwerben, aber im Berufsleben enorm ausbauen. Sie ist indes auch empfindlich, leicht hemmbar, schnell störanfällig. Berufsanfänger sind oft unsicher, ob die Schüler sie ernstnehmen; routinierte Lehrer leiden unter Lehrplanstress. Aber auch persönliche Eigenheiten einer Lehrkraft können stören: Perfektionismus etwa, oder eine allzu distanzierte Art; oder wenn sie um die Anerkennung von Schülern ringt oder Konflikte mit ihnen vermeiden will, sich also führungsscheu verhält.
Generell nimmt man als Lehrerin oder Lehrer Unterrichtsstörungen schnell persönlich: Man denkt dann, diese Schülerin fragt immer so komisch, die kann mich sicher nicht leiden; oder jener Schüler will mir mit seinen dauernden Witzen die Stunde kaputt machen; oder keiner schätzt meine aufwändigen Vorbereitungen. Und dann wird man schlecht gelaunt – oder schießt gar mit Kanonen auf Spatzen. Tatsächlich möchte das Mädchen vielleicht nur zeigen, welch tolle Gedanken sie sich zum Thema macht; und der Junge könnte von eigenen Verständnisschwierigkeiten ablenken wollen. Alfred Adler, Pionier der pädagogischen Tiefenpsychologie, hat wichtige Anregungen gegeben, wie man Störungen als subjektive Lösungen durchschauen – und ungünstige Energie in nützliche Bahnen lenken kann.
Dieser Beitrag erscheint mit
freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.
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Das Ernst-Abbe-Gymnasium liegt mitten in einem Berliner Brennpunkt. 94 Prozent der Schüler haben Migrationshintergrund. Wie gelingt dort der Schulalltag?
Berlin, 24. 04. 2019, Heike Schmoll
Auf
der Sonnenallee in Berlin sieht man sich unversehens in den Orient versetzt.
Die Geschäfte tragen arabische Schriftzeichen, bieten entsprechende Brautmoden
und mit weißem Tüll geschmückte Schatzkästlein für die Mitgift, daneben finden
sich Billigläden für Haushaltsutensilien und Praktisches. Hinzu kommen viele
Bäckereien, Cafés und Shisha-Bars, in denen fast ausschließlich Männer sitzen,
Nuss- und Kaffeeröstereien, Imbisstheken, Grill-Restaurants und Falafel-Buden.
Die Sonnenallee war einmal das arabische Viertel, inzwischen ist sie mit ihrem
Altbaubestand auch bei anderen Milieus begehrt. Die Mieten steigen. Viele
Einwanderer leben dort auf engstem Raum – nicht selten teilen sich achtköpfige
Familien eine Dreizimmerwohnung. Die größte Gruppe bilden schon seit den
siebziger Jahren die Türken, die wegen einer Zuzugssperre für Kreuzberg,
Wedding und Tiergarten nach Nordneukölln gezogen waren. Ansonsten wohnen hier
längst Albaner, Bosnier und Tschetschenen, aber auch europäische Einwanderer
wie Italiener, Spanier und Portugiesen zieht es zunehmend in das Viertel.
Mittendrin
befindet sich ein ehrwürdiges Backsteingebäude, das wie aus der Zeit gefallen
zu sein scheint. Es ist das Ernst-Abbe-Gymnasium mit einem Migrantenanteil von
94 Prozent, von der Schulbürokratie in Berlin als Schüler nichtdeutscher
Herkunftssprache (ndH) bezeichnet. Wer die Schultür öffnet, begegnet als Erstes
einem freundlichen Sicherheitsmann. Den braucht das Gymnasium genauso wie alle
anderen Schulen in Neukölln, die Kosten dafür übernimmt der Bezirk. Der
Schulhof erweckt den Eindruck eines geschützten Raumes inmitten der
lärmumtosten Straße. Solche Schutzräume für Kinder und Jugendliche zu schaffen,
die unter schwierigsten sozialen Bedingungen aufwachsen, ist dem Schulleiter
Tilmann Kötterheinrich-Wedekind besonders wichtig. Zu oft sind erboste Eltern
oder rachsüchtige Brüder in die Schule gekommen, die einen vermeintlichen
Übeltäter unter den Mitschülern vermöbeln wollten. Erst vor kurzem gab es
wieder einen gewalttätigen Zwischenfall – allerdings vor der Schule. Auch der
wird geahndet: Die Schule hat Anzeige gegen die daran Beteiligten erstattet.
Aber auch innerschulisch gibt es viele Sanktionsmöglichkeiten vom schriftlichen
Verweis über einen Klassenwechsel bis zum Schulverweis, dem Schulaufsicht und
Gesamtkonferenz zustimmen.
Über besondere Disziplinprobleme während des Unterrichts kann die Schule nicht klagen, obwohl in den siebten Klassen teilweise 29 Schüler sitzen. Zwei Drittel sind in den meisten Klassen Mädchen, fünf bis sechs tragen ein Kopftuch. Wegen der sechsjährigen Berliner Grundschule ist die erste Gymnasialklasse, ein Probejahr. Von knapp über hundert Schülern müssen am Ende des Schuljahrs 15 bis 20 Prozent wieder gehen, obwohl sie oft Vorbereitungskurse besucht haben. Sie stehen allen Schülern der umliegenden Grundschulen offen und werden in Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften angeboten. Die Schulleiterin der Grundschule in der Köllnischen Heide, Astrid-Sabine Busse, bestätigt, dass nur Schüler zugelassen werden, die auf einer glatten Zwei stehen und fest vorhaben, aufs Abbe-Gymnasium zu gehen. Früher habe sich ein Gymnasium überhaupt nicht um Grundschulen geschert, das sei beim Abbe ganz anders geworden, sagt Busse, deren Schülerschaft mehrheitlich arabischer Herkunft ist. Unter den Eltern an ihrer Schule gibt es fließend Deutsch sprechende Väter aus dem arabischen Raum, aber auch Mütter, die auch nach 30 Jahren kein Wort Deutsch können. Die dritte vermeintlich integrierte Elterngeneration gibt es für Busse nicht.
Das
Hauptproblem für die Schüler, die zu Hause wenig oder kein Deutsch sprechen,
bleibt während der gesamten Schulzeit Deutsch als Bildungssprache. Noch in der
neunten Klasse haben einige selbst im Gymnasium Probleme beim Vorlesen mit
Fremdwörtern wie „Interpretation“ und erwecken nicht immer den Eindruck, als
verstünden sie auch, was sie gerade vortragen. Das Abbe-Gymnasium hat sich
deshalb Sprachbildung auf die Fahnen geschrieben. Es nimmt am bundesweiten
Projekt BiSS (Bildung durch Sprache und Schrift) teil, das vom Bundesbildungsministerium
gefördert wird. In den Klassenstufen sieben und acht werden zusätzlich zum
Deutschunterricht zwei Stunden Deutsch als Zweitsprache erteilt.
Außerdem
händigt die Schule jedem einen Schulplaner aus, der nicht nur Raum für
Aufgabennotizen lässt, sondern auch sprachliche Wendungen für unterschiedliche
Unterrichtssituationen und Fächer bereithält, an denen sich Schüler orientieren
können. Alle Arbeitsaufträge werden schriftlich erteilt – meist durch einen
Tafelanschrieb, und selbst im Sportunterricht geht es immer wieder darum,
Sprache zu üben. In der Sporthalle unterbricht die arabischstämmige Lehrerin,
eine frühere Schülerin des Abbe-Gymnasiums, die praktischen Übungen für das
Basketballspiel, um die Korbleger-Regeln zu erläutern. Die Schüler sitzen im
Kreis auf dem Boden und müssen auch ausdrücken können, was sie gleich in
Bewegung umsetzen. In allen Fächern wiederholen die Fachlehrer die Aussagen von
Schülern und korrigieren dabei vorsichtig grammatische Fehler.
Schwimmunterricht kann die Schule schon deshalb nicht anbieten, weil die
Familien die jungen Mädchen nicht teilnehmen ließen. Manche Schülerinnen
wollten auch schon in langen Kleidern zum Sportunterricht gehen.
In
solchen Fällen greift die türkischstämmige und muslimisch religiös aufgewachsene
Safiye Celikyürek, die Deutsch und Englisch unterrichtet, ein und entgegnet,
dass der Islam keine Sportkleidung vorschreibe und eine weite Jogginghose mit
einem langärmeligen T-Shirt völlig opportun sei. Celikyürek trägt kein Kopftuch
wie viele ihrer Schülerinnen, das würde der Schulleiter auch nicht befürworten.
Er hält das Neutralitätsgebot gerade an seiner Schule für eine Voraussetzung
für ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen.
Einen Gebetsraum duldet er genauso wenig wie öffentliches Beten auf den Gängen
mit Publikum. Das Beten könne nach allen religiösen Regeln auch auf den Abend
verschoben werden und Religion sei Privatsache, sagt Kötterheinrich-Wedekind.
Dass die Schüler am Samstag in die Moscheeschulen gehen, kann die Schule
ohnehin nicht verhindern.
So
etwas wie eine „Toiletten-Scharia“ duldet die Schule nicht. Es gab offenbar
schon Mitschüler, die andere beim Gang auf die Toilette dabei überprüften, ob
sie während des Ramadan heimlich essen oder trinken. „Wer nicht fastet, ist
kein richtiger Muslim“, sagen dann vor allem die Jungs, die den Ramadan wie
einen Entsagungswettbewerb verstehen. Das Fasten im Ramadan ist für den
Schulalltag und Prüfungszeiten ein riesiges Problem. Manchmal wissen nicht
einmal die Eltern, dass ihr Kind während des Ramadan fastet. Es gibt Schüler,
die aufgrund der völligen Flüssigkeits- und Nahrungskarenz schon nach der
dritten Stunde nicht mehr können und sich krankmelden. Der soziale Druck der
Mitschüler ist oft stärker als häusliche Erwartungen. In diesem Jahr beginnt
der Ramadan am 6. Mai, die Prüfungen für den mittleren Schulabschluss fallen
genau in diese Zeit. Celikyürek fastet nicht und versucht auch die Schüler
davon zu überzeugen, dass sie zumindest trinken sollen, das Fasten aber am
besten ganz lassen, vor allem während der Prüfungszeit.
Auch
beim Kopftuchtragen herrscht in den Klassen Gruppendruck. In den siebten
Schuljahren tragen von dreißig Schülern etwa sechs Mädchen ein Kopftuch, in den
höheren Klassen werden es immer mehr. Oft kommen sie nach den Sommerferien mit
Kopftuch wieder. Aber, so berichtet Celikyürek, es gibt manchmal auch Mädchen,
die das Kopftuch wieder ablegen – nach einem Gespräch mit der Tante in einem
Fall. Vor allem die Mädchen müssen nach der Schule oft im Haushalt mithelfen.
Für sie ist der Schutz- und Bildungsraum Schule ganz besonders wichtig. Nicht
wenige Schüler bleiben deshalb gern bei der Hausaufgabenbetreuung in der
Schule. Es gebe Schüler, die ihre Aufgaben zu Hause in der Badewanne machten,
weil sie keinen Arbeitsplatz hätten, sagt Kötterheinrich-Wedekind.
Abendliche
Theaterbesuche mit Lehrern sind schwierig. Neulich habe sie eine Schülerin nach
dem Theater persönlich nach Hause begleitet, die Eltern hätten sie sonst nicht
mitgehen lassen, sagt Celikyürek. Der Schule, die vollständig saniert ist,
Internet in jedem Klassenraum hat und eine neue Turnhalle nutzen kann, beschert
die Schülerzusammensetzung 100000 Euro aus dem sogenannten Bonusprogramm in
Berlin. Schulen mit mehr als 40 Prozent Schülern aus Hartz-IV-Familien, die von
der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind, können bis zu 100000 Euro im Jahr
mehr an Mitteln beantragen. Am Ernst-Abbe-Gymnasium haben 80 Prozent der
Schüler eine Lernmittelbefreiung. Für die Bewilligung der Senatsfinanzen müssen
die Schulen Ziele entwickeln, was und wen sie fördern wollen – und dafür
selbständig Verträge abschließen und Fachkräfte engagieren. Die
Hausaufgabenbetreuung, die Honorarkräfte für die Bibliothek, die
Schülersozialhilfe, die Konflikte unter Schülern schlichtet. So berichtet eine
Siebtklässlerin vom Streit mit einem Kameraden, von dem sie sich auch als
Mädchen angegriffen fühlte. Nach einem einstündigen Gespräch mit den
Sozialhelfern konnten sich die beiden versöhnen.
Kötterheinrich-Wedekind
will sich über die Ausstattung nicht beschweren und gehört überhaupt nicht zum
jammernden Teil seiner Zunft. Er beschönigt nichts, auch in seiner Schule
nicht, und hält mit unangenehmen Wahrheiten nicht hinter dem Berg. Der
Abischnitt seiner Schule liege bei 2,7, und das Abbe stehe damit auf einem der
letzten Plätze des Berliner Rankings. Aber es ist schon eine Leistung, dass 93
bis 96 Prozent der Schüler das Berliner Abitur schaffen, und das bei den beiden
zweiten Fremdsprachen Latein und Französisch. Latein wird von 40 Prozent der
Schüler angewählt, und viele verlassen die Schule mit einem Latinum, nur wenige
studieren. Aber die Schule ist schon froh, wenn die weiblichen Abiturienten
nicht ein Jahr nach dem Abitur mit einem Kinderwagen an der Schule vorbeikommen
und damit ihren Verzicht auf eine Ausbildung dokumentieren.
Von Ermäßigungsstrategien halten weder der Schulleiter noch sein Lehrerkollegium etwas. Die herausfordernde Schülerzusammensetzung wollen sie nicht als Ausrede für niedrigere Ansprüche gelten lassen. Kötterheinrich-Wedekinds Schule gehört auch wegen des Lateinunterrichts zu den Partnerschulen der Lehrerbildung in der Humboldt-Universität. Er als Altphilologe hätte es einfacher haben können und als Lateinlehrer am renommierten Arndt-Gymnasium in Berlin-Dahlem bleiben können, aber das wollte er nicht. Während die Eltern in Dahlem oft zu zweit beim Elternabend erschienen, muss das Ernst-Abbe-Gymnasium um die Mitwirkung der Eltern kämpfen. In arabischen und türkischen Familien überlassen die Eltern der Schule gern allein die Verantwortung für die Bildungslaufbahn ihrer Kinder. Häufig läuft der Fernseher mit Satellitenprogrammen nahezu rund um die Uhr, oder die Kinder werden am Wochenende dem Computer überlassen. Für Rückzugsmöglichkeiten zum Lesen oder Lernen sorgen die Eltern nicht. Sie sind gern bereit, einen Kuchen fürs Schulfest zu backen, aber wenn es um echte Mitarbeit oder gar Präsenz geht, wird es schwierig. Wenn einmal zehn bis zwölf von etwa 1200 Eltern im Elterncafé der Schule waren, gilt das schon als Erfolg. Sie werden dort fürstlich empfangen, können ohne Anlass und Termin Lehrer und Schulleiter treffen. Von Möglichkeiten der Schullaufbahnberatung bis hin zu Gesundheitsthemen reichen die thematischen Angebote der Schule. Aber das Kollegium arbeitet weiter daran, Schülern aus schwierigsten Verhältnissen Bildungsaufstiege zu ermöglichen, mit Rückschlägen und stetigem Engagement.
René Scheppler ist Lehrer an einer Wiesbadener Gesamtschule. Mit den studierten Fächern Geschichte und Deutsch.
Sie sind ein wahrer Innovator, vertrauensvoller Berater, leidenschaftlicher Fürsprecher, authentischer Autor und weltweit tätiger Botschafter? Sie wollen Ihren Kolleginnen und Kollegen den Weg zu effektiver Technologienutzung ebnen?
Sie wollen dem Konzern Microsoft helfen, im
Bereich Innovationen führend zu sein? Sie wollen Ihre Ideen für die
effektive Nutzung der Technologie im Bildungsbereich verfechten und mit
Kolleginnen und Kollegen und politischen Entscheidungsträgern teilen?
Sie wollen Einblicke in neue Produkte und Tools zur
Verfügung stellen und für Innovationen werben?
Dann können Sie sich bei den Firmen Apple und Microsoft für
die Teilnahme an konzernexklusiven Fortbildungsprogrammen für Lehrerinnen und
Lehrer bewerben und – nach Auswahl durch den Konzern und erfolgreicher
Teilnahme – zum Microsoft Innovative Educator Expert, Apple Distin
guished Educator oder – wenn Sie sich besonders „bewähren“ – zum Apple
Certified Trainer avancieren (1). Auf Apple Distinguished Educators trifft
man vereinzelt auch in den regionalenMedienzentren, die Schulen im
Auftrag der Kultusministerienund Schulträger im Bereich Digitalisierung
beraten.
Bild: HLZ 1-2/2019, S. 15, Rene‘ Scheppler
Mit diesen Zertifikaten dürfen Sie dann – als Nebentätigkeit
– im Dienst der Konzerne Vorträge halten, Fortbildungen anbieten und Schulen
beraten – auch wenn „das Führen eines solchen Titels“ nach einer Auskunft des
Hessischen Kultusministeriums nach Vorschriften „in § 58 Abs. 2 HBG sowie in §
3 Abs. 15 HSchG nicht gestattet“ ist (2). Dass sich allerdings eine ganze
hessische Schule mit dem Titel einer SamsungLighthouse School schmücken
darf, verwundert dann doch. Aber dazu später mehr…
Microsoft
Showcase School…
Auch eine andere Entwicklung ist aus den USA
inzwischen in Deutschland angekommen, wie die folgende Erfolgsbilanz von
Microsoft zur „Übernahme“ ganzer Schulen dokumentiert:
„Für das Schuljahr 2016/2017
hat Microsoft weltweit 4.800 Lehrende und 851 Schulen aus über 100 Ländern nominiert,
darunter sind 175 Lehrerinnen und Lehrer sowie 26 Schulen aus Deutschland. Das
Gesamtbudget von Microsoft für die weltweite Bildungsinitiative beläuft sich
auf 750 Millionen US-Dollar über einen Zeitraum von 15 Jahren (2003 bis 2018).“
(2)
Als Microsoft Showcase School können
sich jedoch nur die Schulen bewerben, „die bereits Microsoft Lösungen wie
Surface-Tablets, Office 365 Education, Office Mix, OneNote, Skype oder
Minecraft“ nutzen. In Hannover gibt es inzwischen die erste staatliche Schule,
die sich als Apple DistinguishedSchool bezeichnen kann. Aber
auch diese Auszeichnung erfolgt nicht, ohne dass die folgenden von Apple
festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind:
„Ein One-to-One Programm mit
iPad oder Mac für Schüler und Lehrer ist seit mehr als zwei akademischen Jahren
eingerichtet. Alle Schüler an Ihrer Schule nutzen Apple Geräte als primäres
Lerngerät. Alle Lehrer an der Schule nutzen Apple Geräte als primäres
Unterrichtsgerät. Lehrkräfte integrieren Apple Apps zur Erstellung von Inhalten
(Fotos, iMovie, GarageBand, Pages, Keynote, Numbers und iBooks Author),
Lernapps aus dem App Store, Bücher aus dem iBooks Store und Lernmaterialien aus
iTunes U intensiv in den Lehrplan. Lehrer verfügen über eine hohe Kompetenz
beim Verwenden von Apple Produkten. Für Schulen der Primar- und Sekundarstufe
in Deutschland müssen vor Ablauf der Bewerbungsfrist 75 Prozent der Lehrer an
der Schule als Apple Teacher anerkannt sein.“ (2)
… und
die Samsung Lighthouse School
Im südhessischen Rüsselsheim gibt es die erste
und bisher einzige deutsche Samsung Lighthouse School, auf die der Kreis
Groß-Gerau als Schulträger des Neuen Gymnasiums und Landrat Thomas Will (SPD)
besonders stolz sind. „Wir haben viele Leuchttürme im Kreis Groß-Gerau, aber
dieser leuchtet besonders hell“, erklärte Will bei der Überreichung der Urkunde
durch die Vertreter von Samsung im September 2015.
Deutlich weniger begeistert zeigte sich Landrat
Will von einer Anfrage des Autors dieses Artikels, ob er denn bereit sei, den
Inhalt und das konkrete Ausmaß der „Kooperation“ transparent zu machen. Der
Vertrag sei schließlich nicht vom Schulträger unterzeichnet worden und er sei
als Landrat nur bei der Unterzeichnung anwesend gewesen. Auch das Hessische
Kultusministerium erklärte sich für nicht zuständig:
„Da die erbetenen
Informationen dem Hessischen Kultusministerium nicht vorliegen, kann Ihrem
Antrag nicht entsprochen werden.“ (2)
Die Schulleitung des Neuen Gymnasiums verwies
auf „ein schutzwürdiges Interesse (…) der Firma Samsung“, die „die entsprechende
Information bereits verweigert hat“. Hierzu muss man wissen, dass auch das Land
Hessen seit Mai 2018 ein „Informationsfreiheitsgesetz“ hat. Nach § 80 hat jede
Bürgerin und jeder Bürger gegenüber Behörden und öffentlichen Dienststellen
einen „Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen“, womit „alle amtlichen
Zwecken dienenden Aufzeichnungen, unabhängig von der Art ihrer Speicherung“ gemeint
sind.
Nach den zugänglichen Zeitungsberichten und
Informationen auf der Homepage der Schule finanziert Samsung als Sponsor der
Schule die Einrichtung einer „Tablet-Oberstufe“, wobei die Samsung-Tablets „zu
einem reduzierten Preis“ in das Eigentum der Schülerinnen und Schüler
übergehen.
Auch andere Elemente der Kooperation sind prototypisch: • Eine wissenschaftliche Begleitung – in diesem Fall durch den Medienpädagogen Professor Dr. Stefan Aufenanger – sorgt für die nötige Seriosität.
• Als Ausdruck der „Gemeinnützigkeit“ dient die Einbettung entsprechender Kooperationen in Wettbewerbe oder gemeinnützige Stiftungen. In diesem Fall fand die Verleihung der Urkunde an das Neue Gymnasium „im Rahmen der Prämierung des Wettbewerbs IDEEN BEWEGEN der von der Samsung Electronics GmbH geförderten Initiative DIGITALE BILDUNG NEU DENKEN“ statt (3).
„In ihrer Offenheit schon
fast putzig…“
In anderen Bundesländern sieht man entsprechende
Kooperationen offensichtlich distanzierter. Wolf-Jürgen Karle vom
Ministerium für Bildung und Wissenschaft des Landes Rheinland-Pfalz, der das
Ansinnen der IT-Konzerne in einem Artikel der WELT 2013 „in ihrer
Offenherzigkeit“ als „schon fast putzig“ (4) bezeichnete, verwies auf die
Dienstpflichten der Lehrkräfte:
„Für Lehrkräfte im Beamten- wie im
Beschäftigtenverhältnis gilt das Neutralitätsgebot. Jede einseitige
Unterrichtung und Information ist unzulässig.“
Lehrkräfte, die sich für den bevorzugten oder
ausschließlichen Einsatz von Apple-Geräten im Klassenzimmer einsetzten,
verstießen „gegen geltendes Recht in Rheinland-Pfalz“.
Das niedersächsische Kultusministerium erklärte auf
dieselbe Anfrage der WELT, dass die von Apple angebotenen „Fortbildungsreisen“
gegen die Antikorruptionsrichtlinien verstoßen, „die für alle beim Land
beschäftigten Lehrkräfte gelten“.
Und was soll daran schlimm sein?
„Das ist doch weltfremd.“ Mit diesen Worten und dem Hinweis
auf das Auslaufen der Kooperationsvereinbarung im Sommer 2018 kommentierte der
stellvertretende Schulleiter des Neuen Gymnasiums eine Anfrage der FAZ zur
Pressemitteilung der GEW (5). Den „Mehrwert“ aus der Kooperation „möchte man
nicht mehr missen“. Und so sehen das mit Sicherheit auch viele Lehrerinnen und
Lehrer, Schülerinnen und Schüler und Eltern der Schule. Also: Wo ist hier die
Gefahr?
In dem Maße, in dem der Staat seine Aufgaben im Rahmen der
Lehreraus- und -fortbildung vernachlässigt und sogar an Konzerne mit
erkennbaren und formulierten Eigeninteressen zu Gunsten der eigenen Produkte
abgibt, verliert er die eigene Expertise in diesem Bereich.
In zahlreichen Bundesländern kann man dies bereits an der
erschreckend geringen Zahl von Fortbildungsangeboten staatlicherseits ablesen.
So werden beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern wichtige Zukunftsthemen in
der digitalen Welt in produktexklusive Fortbildungen ausgelagert.
Werbung in Schulen ist in Hessen ausdrücklich verboten,
doch der (neue) § 3 Abs.15 des Hessischen Schulgesetzes zeigt, wo es langgehen
kann:
„Schulen dürfen zur Erfüllung ihrer
Aufgaben Zuwendungen von Dritten entgegennehmen und auf deren Leistungen in
geeigneter Weise hinweisen (Sponsoring), wenn die damit verbundene Werbewirkung
begrenzt und überschaubar ist, deutlich hinter den schulischen Nutzen zurücktritt
und das Sponsoring mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule vereinbar
ist. Die Entscheidung trifft die Schulleiterin oder der Schulleiter.“
Der Staat vernachlässigt
seine Aufgaben
Offensichtlich – und eine andere Lesart ist
kaum möglich – ist der Staat nicht mehr in der Lage, den ihm hoheitlich
aufgetragenen Verpflichtungen zur vollumfänglichen Finanzierung von Schulen nachzukommen.
Auch im Bereich der Lehreraus- und -fortbildung ist man offenbar nicht mehr in der
Lage, der Versuchung zu widerstehen, Dritten Zugänge zu gewähren, so dass der Eindruck
der Abhängigkeit immer deutlicher wird.
Das Argument, dass sich „die Konzerne nun mal
am besten mit der Technik und den eigenen Produkten auskennen“, ist zugleich
ein Affront gegenüber den Medienzentren, die trotz viel zu geringer Ausstattung
gute Arbeit leisten. Wer sich an derartige Strukturen gewöhnt hat, wird
mittelfristig nicht mehr in der Lage sein, sich daraus aus eigener Kraft zu
befreien und unabhängig seinen ursprünglichen Aufgaben nachzukommen.
Angesichts dieser Entwicklungen ist es nur noch
eine Frage der Zeit, bis wir uns die Frage stellen müssen, wie wir uns aus
dieser „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wieder befreien können. Um eine Generation
zu erziehen, die den Mut hat, „sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen“,
scheint die Etablierung von Apple Distinguished Schools, MicrosoftShowcase Schools und Samsung Lighthouse Schools nicht der
vielversprechendste Ansatz zu sein.
Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.
Dem Schreiben hat diese Entwicklung der letzten Jahre nicht gut getan: Immer weniger Schüler konnten es ausreichend üben.
F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 04.04.2019, von Rainer Werner
Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Verfasser des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“, siehe Bücherliste. Rainer Werner hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.
2016
sorgte eine Meldung für Aufsehen: Das Bundeskriminalamt konnte von 120 Stellen
nur 62 besetzen, weil zu viele Bewerber trotz Abiturs beim Deutschtest
durchgefallen waren. Der Test erfragt Kenntnisse in Rechtschreibung, Grammatik,
Wortschatz und Sprachverständnis. Von der Polizei der Länder hört man ähnliche
Klagen. Viele Bewerber fallen vor allem durch die Sport- und
Rechtschreibprüfung. Können die jungen Menschen heute nicht mehr richtig
schreiben?
Wir
leben in einer Gesellschaft, in der ständig geredet wird. Überall sieht man
Menschen telefonieren, sei es auf der Straße, im Café oder in der Straßenbahn.
Alle Fernsehsender haben Gesprächsformate im Programm, in denen sich Menschen,
die sich für Experten halten, über alle möglichen Themen unterhalten. Die
Talkshow ist zum zweiten Wohnzimmer der Deutschen geworden. Für das Sprechen in
diesem Gesprächskosmos gibt es keine Qualitätsmaßstäbe. Man darf reden, wie
einem der Schnabel gewachsen ist. Die lockere Diktion, Umgangssprache
inklusive, gilt als Ausweis von Authentizität. Der Linguist Gerhard Augst
vertritt die These, dass sich in unserer Gesellschaft das Gesprochene als
Standardsprache durchgesetzt habe, was es schwer mache, auf die Dominanz der
Schriftsprache zu pochen. Dem Sprachwissenschaftler Peter Gallmann fiel auf,
dass Kinder vor allem in Regionen, in denen es einen ausgeprägten Dialekt gibt
(Bayern, Schwaben), die Rechtschreibung gut beherrschen. Weil sie wissen, dass
gesprochene und geschriebene Sprache nicht dasselbe sind, lernen sie die
Schriftsprache als eigenständiges sprachliches System. Im Rest der Republik schreiben
Schüler, wie sie sprechen.
In
der Schule drückt sich die Dominanz der gesellschaftlichen Redekultur im
starken Gewicht des Mündlichen aus. In der Sekundarstufe I zählt in allen
Fächern die mündliche Mitarbeit zur Hälfte, in den Grundkursen der gymnasialen
Oberstufe zu zwei Dritteln. Die in allen Bundesländern eingeführte 5.
Prüfungskomponente des Abiturs, eine Präsentationsprüfung, besteht zumeist nur
aus einer mündlichen Leistung. Nur wenige Bundesländer verlangen zusätzlich
noch eine Facharbeit. Die meisten Gymnasiasten punkten im Mündlichen: Sie sind
eloquent und verfügen über einen differenzierten Wortschatz. Die Noten fallen
entsprechend gut aus. Liest man hingegen von Schülern verfasste Texte, stellt
man fest, dass ihre Qualität deutlich hinter der Qualität ihrer mündlichen
Beiträge zurückbleiben. Wenn es auf logische Gedankenführung, den präzisen
Ausdruck und schlüssig zu Ende geführte Sätze ankommt, versagen auffallend
viele Schüler. Selbst bei Abiturienten kann man erleben, dass sie in Orthografie
und Interpunktion nicht sicher sind. Diese Defizite lassen darauf schließen,
dass Schüler zu wenig mit schriftlichen Aufgaben konfrontiert werden. Die
Benennung der Fehler bei der Korrektur und die kritischen Randbemerkungen der
Lehrkraft bleiben meistens ohne Folgen, weil den Schülern in der Regel nicht
mehr zugemutet wird, von Aufsatz und Klausur eine Berichtigung anzufertigen.
Universitäten
klagen darüber, dass den Erstsemestern trotz attestierter guter Schulabschlüsse
die Grundlagenkompetenzen in der Sprache fehlen. Dazu gehört vor allem die
Fähigkeit, einen Gedankengang klar, schlüssig, logisch und fehlerfrei zu
formulieren. Die Befragung von Studenten, die die Universität Konstanz jährlich
durchführt, hat 2015 ergeben, dass mehr als 25 Prozent der Bachelorstudenten
ihr Studium abbrechen. Neben der Doppelbelastung aus Studium und Job werden vor
allem fachliche Mängel als Grund angegeben. 52 Prozent der Absolventen und 45
Prozent der Abbrecher gestehen ein, dass ihnen Kenntnisse und Techniken zum Verfassen
akademischer Arbeiten fehlten. Die gymnasiale Oberstufe, und hier vor allem das
Fach Deutsch, scheint dabei zu versagen, den Abiturienten das für ein
erfolgreiches Studium nötige sprachliche Rüstzeug zu vermitteln.
An
theoretischen Vorgaben fehlt es beileibe nicht. Die „Bildungsstandards im Fach
Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife“ (KMK-Beschluss vom 18.10.2012)
machen klare Aussagen zum Beherrschen der Schriftsprache: „Die Schülerinnen und
Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie
aufgabenadäquat, konzeptgeleitet, adressaten- und zielorientiert, normgerecht,
sprachlich variabel und stilistisch stimmig gestalten.“ Auch die
Deutsch-Lehrpläne für die Sekundarstufe II der einzelnen Bundesländer geben das
Ziel vor, dass die Schüler „die Fähigkeit entwickeln, in angemessener Weise
anspruchsvolle, komplexe Sachverhalte schriftlich zu formulieren“. (Beispiel
Berlin) – Papier ist offensichtlich geduldig, sonst klafften beim Beherrschen
der Schriftsprache Anspruch und Wirklichkeit nicht so weit auseinander.
Die
Grundschuldidaktikerin Ulrike Holzwarth-Raether sieht die Ursachen für die
Defizite im Schreiben schon vor der Grundschule gelegt. Mit den Kindern werde
heute zu wenig gesungen und artikuliert gesprochen. Das behindere die Entwicklung
der Laut-Buchstaben-Zuordnung, die eine wichtige Voraussetzung für den
Schrifterwerb sei. In der Schule wird das Schreiben von Texten auf allen
Schulstufen vernachlässigt. Bei Schülern gilt schreiben als lästig und
„uncool“. Häufig hört man schon in der Unterstufe des Gymnasiums die Frage:
„Müssen wir das wirklich aufschreiben?“ – In der Sekundarstufe I ist das
Mitschreiben im Unterricht nicht mehr verpflichtend, weil die Schüler ja
Arbeitsbögen zum Stoff der Stunde bekommen. Abheften von Papier ersetzt die
Mühe, das Gehörte gedanklich zu verarbeiten und in adäquate Sätze zu kleiden.
Stundenprotokolle haben in vielen Fächern den Rang einer Strafarbeit bekommen:
„Wenn du nicht aufpasst, musst du die Stunde protokollieren!“ – Dabei zwingt
gerade die Reduktion des Unterrichtsstoffes auf den knappen Umfang eines
Protokolls zu gedanklicher Konzentration und präziser Formulierung.
Bei
der Ausbildung schriftlicher Kompetenzen muss man früh beginnen. In
Grundschule, Unterstufe und Sekundarstufe I sollte regelmäßig geschrieben
werden. Es hat sich bewährt, in jede Unterrichtsstunde eine kleine
Schreibaufgabe einzubauen, deren Resultate noch in der Stunde inhaltlich und
sprachlich überprüft werden. Mit kreativen Schreibaufgaben (Beispiel: zwei
literarische Figuren schreiben sich Briefe) kann man die Schreibaversion der
Schüler am ehesten aufbrechen. Es ist unbedingt notwendig, Schülertexte zu
korrigieren. Tut man das nicht, verfestigt sich der Eindruck, es sei letztlich
egal, wie man schreibt. Da die Kapazitäten der Lehrkräfte begrenzt sind, können
sie nicht ständig Schülertexte einsammeln und zu Hause korrigieren. Hier bietet
sich die „Schreibkonferenz“ an. Drei bis vier Schüler korrigieren gemeinsam
ihre Texte, bis sie verständlich und fehlerfrei sind. Wenn diese Methode häufig
angewandt wird und wenn die Lehrkraft die Qualität der Endprodukte überprüft,
wird sich die Schreibkompetenz der Schüler zwangsläufig verbessern. Dann werden
die Texte beim logischen Aufbau, bei der schlüssigen Gedankenführung und bei der
grammatisch-orthografischen Korrektheit kaum noch Fehler aufweisen. Auch hier
bewährt sich das leider in Misskredit geratene didaktische Prinzip des
beharrlichen Übens und Verbesserns.
Schulen
können das Schreiben auch durch bessere Rahmenbedingungen aufwerten. Wenn der
Deutsch-Fachbereich einen Preis für den besten Aufsatz in einem Jahrgang
aussetzt, werden sich Schüler angesprochen fühlen, ihre Schreibkünste unter
Beweis zu stellen. Eine Schülerzeitung, die Beiträge von Schülern
veröffentlicht, kann signalisieren, dass Schreiben ein „cooles“ Handwerk ist.
Dass Lesen die Schreibkompetenz erhöht, ist durch Studien bestens belegt.
Regelmäßiges Lesen vergrößert den Wortschatz und festigt die Orthografie.
Lesewettbewerbe gehören deshalb in jede Schule. Die Polytechnische Gesellschaft
Frankfurt/M. führt einmal im Jahr einen Diktatwettbewerb durch, an dem sich
Eltern, Schüler und Lehrer beteiligen. Die Sieger treten gegen die Sieger
anderer Städte an. Dieses Projekt zeigt, dass der Wettstreit um sprachliche Korrektheit
genauso reizvoll sein kann wie ein Sport- oder Musikwettbewerb. Es ist Zeit für
eine Schreiboffensive.
Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.
Große Klassen und die „Neue Lernkultur“ industrialisieren den Lehrerberuf.
Von Nils Björn Schulz
Dr. Nils Björn Schulz ist Lehrer am Robert-Havemann-Gymnasium in Berlin.
Lehrerinnen und Lehrer sind zu Arbeitern einer hybriden Bildungsindustrie geworden. 50-Stunden-Wochen und Fließbandarbeit am Schreibtisch bestimmen den Berufsalltag vieler Kolleginnen und Kollegen – vor allem an Gymnasien. Die fortschreitende Digitalisierung, die Test- und Evaluationseuphorie und die Kompetenzorientierung der Neuen Lernkultur, wie sie Christoph Türcke in seinem Buch „Lehrerdämmerung“ nennt [siehe Bücherliste], haben innerhalb von knapp fünfzehn Jahren ein ganzes Berufsfeld industrialisiert und die Schule in eine Lernfabrik verwandelt. Das Produktionsziel: höhere Abiturientenquoten bei gleichzeitiger Absenkung des Anspruchsniveaus, wie die jüngsten Studien des Frankfurter Bildungsforschers Hans-Peter Klein zeigen konnten. [Siehe dazu auch für Berlin die Studie von Angela Schwenk und Norbert Kalus, Auswertung der Abiturdaten von 2006 bis 2016.]
Die Niveauabsenkung wird vor allem durch das ständige Gerede
über Qualität und Qualitätsmanagment kaschiert. Aber für die unterrichtenden
Lehrerinnen und Lehrer ist sowieso eine ganz andere Kategorie zentral: die der
Quantität. Es ist die schiere Quantität an Klassenarbeiten, Noten, Tests, Evaluationen,
Methodentrainings – und die Lautstärke in den Klassenräumen, die erschöpft. An Gymnasien
sitzen bis zu 30 Schülerinnen und Schüler in einem Klassenraum, in Berlin sind
es sogar bis zu 32.
Man kann es ja begrüßen, dass die Disziplinargesellschaft verabschiedet wurde, jedoch hat man deren Raum- und Zeitstruktur beibehalten. Klassenräume und Stundenrhythmen gehören einem Typus an, den Michel Foucault als Einschließungsmilieu bezeichnete. Nur lassen sich Kinder und vor allem pubertierende Jugendliche so nicht mehr disziplinieren.
Aufgrund überbordenden Gebrauchs digitaler Medien völlig dezentriert, können sich viele in den vorgegebenen Strukturen nicht mehr konzentrieren. Die täglichen Mediennutzungszeiten Pubertierender variieren je nach Studie zwischen 5 und 7 Stunden. Es ist laut geworden in den spätmodernen Lernfabriken. Gerade die kooperativen Lernformen, die auf die Dezentrierung reagieren und sie zugleich verstärken, werden schon in der Grundschule eingeübt und lassen je nach Lerngruppe in den Räumen den Lärmpegel bis auf 80 Dezibel ansteigen. Anderen Berufsgruppen wird da Gehörschutz verordnet.
Aber viele Lehrerinnen und Lehrer sprechen nicht offen über dieses Thema, weil sie das Ressentiment fürchten, der Grund für den Lärm sei mangelnde pädagogische Kompetenz. Genauso schreiben sich gegenwärtig viele Eltern ihr Scheitern selbst zu, wenn es darum geht, den Medienkonsum ihrer Kinder zu reglementieren; dabei haben sie schlichtweg keine Chance gegen die Produktentwicklungs- und Werbestrategien großer IT-Konzerne. Es ist ja gerade das Geschäftsmodell vieler Firmen, die Begierden der Nutzer so anzutriggern, dass das Virtuelle ihr Dasein bestimmt oder Smartphones als Quasiorgane ins Körperschema integriert werden. Die Nutzer werden nervös, wenn die Geräte nicht in Reichweite sind.
Dass die Hattie-Studie für kleinere Klassen eine eher niedrige Lerneffektstärke ermittelte, kam den Bildungs- und Finanzministerien sehr zupass: So konnte man die Klassengrößen mit ruhigem pädagogischen Gewissen beibehalten. Jedoch zeigt eine genaue Lektüre von John Hatties Buch „VisibleLearning“ [siehe nebenstehende Bücherliste], dass gerade das Thema „Klassengröße“ unbedingt weiter untersucht werden muss. Hattie weist nämlich selbst darauf hin, dass veränderte Lehrmethoden, anderes Feedback-Verhalten, neue Formen der Interaktion, die nur in kleineren Lerngruppen möglich sind, das Lernen fördern können.
Und viele Lehrerinnen und Lehrer haben die Erfahrung gemacht,
dass bestimmte Methoden – wie beispielsweise das von vielen
Oberstufenschülerinnen und -schülern immer noch sehr geschätzte lehrerzentrierte
Unterrichtsgespräch – nur in Klassen bis maximal 20 Schülern überhaupt funktionieren.
Große Lerngruppen produzieren quantitativ mehr Arbeit als
kleine. Das wäre an sich vielleicht eine lapidare Aussage, wenn sich nicht die
Benotungskriterien und – damit eng verbunden – die sogenannte Schreibkompetenz,
also die Fähigkeit, lesbare Texte zu schreiben, so gravierend verändert hätten.
Oberstufenklausuren mit 10 bis 15 Rechtschreib- und Grammatikfehlern pro Seite
sind leider nicht die Ausnahme; und für einige Handschriften benötigt man
Werkstattleuchten und Leselupen.
Für Lehrerinnen und Lehrer heißt das aber, dass die Klausurenkorrektur
durchschnittlich länger dauert als früher, dass jede Klausur mindestens zwei Mal
gelesen werden muss: Zunächst müssen die Orthographie-, Grammatik- und
Ausdrucksfehler analysiert und markiert werden, dann die – oft durch die Fehler
produzierten – semantischen Unverständlichkeiten.
Aufgefordert, Lehrerarbeitszeiten transparent zu machen, veranschlagt der Berliner Senat 20 bis 25 Minuten Korrekturzeit für eine Oberstufenklausur inklusive der Beurteilung durch ein elektronisches Bewertungsraster. Dieses sogenannte Onlinegutachten hat für bestimmte Klausurformate zum Beispiel im Fach Deutsch 12 Bewertungskriterien parat. Je nachdem benötigt man für die endgültige kriteriengeleitete Beurteilung einer einzigen Klausur über 50 Klicks.
Das ist Fließbandarbeit im digitalen Zeitalter: Erst korrigiert man
die Klausur mit der Hand, dann klickt man sich durch die Onlineraster, druckt
sie aus, unterschreibt und heftet sie an die Klausuren. Das Arbeitszimmer muss
für solche Abläufe optimiert werden. Im Kreis läuft man so oder so … und die
veranschlagte Arbeitszeit wird immer überschritten. Weil es nicht zu schaffen
ist. Unter 45 Minuten kann man keine Deutsch- oder Philosophie-Klausur korrigieren,
wenn man der Schülerarbeit einigermaßen gerecht werden möchte. So sitzt man
dann 15 Stunden (oder länger) an der Korrektur eines einzigen Klausurenstapels.
Sind Oberstufenkurse im Allgemeinen kleiner als die der Mittelstufe, so können sich die Mittelstufenlehrerinnen und -lehrer zwar damit trösten, dass die zu korrigierenden Texte nicht so lang sind; aber es sind eben mehr (und meistens enthalten sie mehr Fehler). Schlimm wird es für Kolleginnen und Kollegen, deren Fächer nur zwei Stunden pro Woche unterrichtet werden. So kann es sein, dass eine Ethik- und Biologielehrerin in der Mittelstufe vier Klassen in beiden Fächern unterrichtet. Geht man davon aus, dass sie pro Halbjahr zwei Lernerfolgskontrollen (LEKs) schreiben lässt, allein um die Zeugnisnote valide abzusichern, so sind das 8 mal 4 mal 30 LEKs, die korrigiert werden müssen. In der Summe: 960 Arbeiten. Geht man von Sekundarschul-Klassen mit 25 Schülern aus, so sind es immer noch 800 LEKs. Stückzahlen, die korrigiert werden müssen.
Da aber jede Vollzeit-Lehrkraft noch weitere 9 oder 10 Stunden unterrichtet, kommen weitere Korrekturbelastungen hinzu. Und damit sind viele andere Arbeiten wie digitale Fehlzeitenverwaltung, das Anfertigen von Abiturentwürfen für das dezentrale Abitur (zum Beispiel im Fach Philosophie) oder vermehrte Prüfungsaufgaben noch gar nicht berührt.
Auch führt die Kompetenzorientierung dazu, dass mittlerweile gerade junge Lehrerinnen und Lehrer digital verwaltete Notenarsenale anlegen; denn die Kompetenzideologie fordert, dass ein Schüler differenziert nach unterschiedlichen Kompetenzen bewertet wird. Erteilt man einem Schüler oder einer Schülerin drei Mal pro Schulhalbjahr jeweils fünf oder sogar mehr Kompetenznoten für die Mitarbeit im Unterricht, so heißt das, dass ein Lehrer mit vollem Stundendeputat – in Berlin sind das 26 Unterrichtsstunden – im ganzen Schuljahr weit über 5000 Noten gibt; unterrichtet er vor allem zweistündige Fächer, so erhöht sich die Zahl schnell auf 6000 bis 7000 Noten pro Schuljahr. Man muss sich solche Zahlen vor Augen führen, um die Absurdität der kompetenzorientierten Benotung zu erkennen.
Als Lehrer ist man gegenwärtig die meiste Zeit am Rechnen, und zwar vor allem mit dem vergeblichen Versuch, seine Arbeitsbelastung zu reduzieren. Denn die Reaktion der Bildungsverwaltungen ist: Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Zeitmanagement verbessern. Es ist die für neoliberale Gesellschaften typische Forderung an das erschöpfte Selbst: Wenn du deine Arbeit nicht schaffst, musst du deine Abläufe optimieren. Es liegt an dir! Der Zynismus geht mittlerweile so weit, dass Lehrerinnen und Lehrern von externen Evaluationsbehörden empfohlen wird, in ihrer Freizeit, die es ja kaum noch gibt, „Wohlfühlteams“ zu bilden oder Workshops zur „Work-Life-Balance“ zu buchen.
Es mag paradox klingen, dass die so gehypte Neue Lernkultur entfremdete Arbeit und Lärm erzeugt; doch machen eben diese Zustände die technokratisch-metrische Grundstruktur der Kompetenz-Modellierung nun auch für diejenigen sichtbar, die sie bisher fetischisierten. Und auch den neoliberalen Selbstoptimierungsimperativ sollte man als das durchschauen, was er ist: eine Ausbeutungsstrategie. Vor allem aber führt die neue Unterrichtstechnokratie dazu, dass Bildung nur noch unter dem Aspekt der Operationalisierung und Messbarkeit betrachtet wird; deshalb spricht der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann von der „Praxis der Unbildung“ [siehe Bücherliste].
Würden Klassen verkleinert, würde man sich vom Metrisierungswahn, der Output-Orientierung und vom Diktat des kooperativen Lernens abkehren, so würden sich Korrekturpensen, Lärm und Stress enorm verringern; und es gäbe mehr Zeit für schöpferische und zwischenmenschliche pädagogische Aufgaben – vor allem für eigenständige Unterrichtsgestaltung.
Zumindest was den Korrekturaufwand betrifft, produziert die Neue Lernkultur einen – leider sehr zweifelhaften – Kollateralnutzen: Da die Bildungsverwaltungen die Bedeutung von Orthographie und Grammatikfehlern für die Gesamtnote einer Klausur immer weiter marginalisieren, schleicht sich sowieso schon bei manchem Lehrer eine resignative Laxheit ein. Man streicht gar nicht mehr alle Fehler an. Das spart Zeit! – führt aber dazu, dass viele Schülerinnen und Schüler die Fehlerhaftigkeit ihrer Klausuren gar nicht mehr erkennen können. Und viele von ihnen werden später selbst Lehrerinnen und Lehrer … Auch hier gilt: Die Masse macht’s.
aus: Frankfurter Rundschau vom 12./13.01.2019, S.21
Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors
auf Schulforum-Berlin.