Archiv der Kategorie: Ökonomisierung der Bildung

Was stresst wirklich?

Wenn der Schulstress zu groß wird

Der Autor des Artikels im Tagesspiegel vom 16.3.2017 mit dem Thema „Wenn der Schulstress zu groß wird“ ist Trainer einer D-Jugend-Fußballmannschaft im Süden Berlins. Seine Jungs gehen in die sechste Klasse Grundschule oder in die siebte Klasse Gymnasium. Als immer häufiger Kinder beim Training fehlen, weil sie abends noch lernen müssen, wird er hellhörig. Er hört sich bei Eltern um und findet heraus: Erstaunlich viele Schüler sind so überlastet, dass die Nerven blank liegen. (…)

In einem Brief, den die Mutter einer seiner Jungs an dessen Klassenlehrerin geschrieben hat, steht:

„Ich möchte Ihnen mitteilen, dass Michaels Kopf VOLL ist, seine Motivation nahezu erschöpft und meine Nerven blank sind. Kurz: Wir können nicht mehr. Es ist nicht nur der zu bewältigende Stoff, sondern auch der Frust über den Verzicht auf andere Dinge, (…) und allgemein das Plattsein von einem konzentrierten Sechs- bis Acht-Stunden-Schultag. Deshalb möchten wir Sie noch mal eindringlich bitten – wenn möglich –, den Stoff der nächsten zwei Wochen zu reduzieren.“

Extrembeispiel? Vielleicht. Ganz sicher nicht die Norm. Belastung ist ja auch ein subjektives Gefühl. Der eine lernt schneller als der andere, der eine fängt früher mit Hausaufgaben an und schafft es deshalb ins Training, der andere fängt zu spät an und muss dann am Abend lernen. Und gerade vor dem Übergang auf die weiterführende Schule oder im Probejahr des Gymnasiums ist die reale und die gefühlte Belastung enorm hoch. Und ja, dann gibt es natürlich auch noch überehrgeizige Eltern, die den Druck auf ihre Kinder massiv verstärken. (…)

Thesen zum Thema „Schulstress“

Gegenwärtig wird viel über psychosomatische Erkrankungen von Schülern spekuliert, also über Stress und Überforderung. Nur wird völlig aus dem Blick verloren, so Heino Bosselmann, Lehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie, welche qualitativen Ursachen diese neuen Nöte der Schüler haben. Dazu seine Analyse:

In Ergebnis eines Werte- und Orientierungswandels verspricht die Schule seit circa zwanzig Jahren, Lernen könne, ja müsse ausschließlich lust- und freudvoll erfolgen. Ferner soll gemäß einer politisch verordneten Anthropologie per se allen alles möglich sein. Dies sicherzustellen gilt als Bringeschuld der Schule. Sie hätte, so der gängige Lapsus, jeden dort abzuholen, wo er stehe, einerlei, ob der das möchte oder nicht. Von erforderlicher Anstrengungsbereitschaft, Selbstüberwindung und Haltung ist nirgendwo mehr die Rede. Die Schule hat sich dominierender Auffassung nach als Dienstleisterin zu verstehen und Erfolge zu garantieren. Insofern ist die jugendliche Erfahrung, aus Interesse und Leidenschaft selbst mehr leisten zu können als angenommen, kaum mehr tradiert, ebenso wenig die Freude darüber, eine Herausforderung wirklich eigenständig bewältigt zu haben. – Andererseits: Schule war immer ein problematischer Ort der Enttäuschungen und der Frustrationen. Die Weltliteratur ist reich an solchen Geschichten. Lange galten derlei Widrigkeiten als zum Erwachsenwerden zugehörig und durchzustehen, um daran zu wachsen. Dass die übelsten Auswüchse von Schulsystemen, die vorrangig auf die Bereitstellung angepasster, lenkbarer Untertanen zielten, inzwischen beseitigt sind, ist gewiss ein Fortschritt. Nur wurde in der Bundesrepublik nach 1968 leider das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Wenn mittlerweile über fünfzig Prozent der Schüler das Gymnasium besuchen, dann sind von dieser Überzahl zwangsläufig immer mehr der intellektuell weniger Belastbaren überfordert, selbst wenn Anforderungen stetig gesenkt werden und das System von Fächerabwahlen sowie die Zahlenmystik einer „optimierenden“ Abrechnerei von Noten noch jeden durch das Abitur zu tragen in der Lage sind, solange der nur physisch anwesend ist und Grundsätzliches zu begreifen vermag. [siehe auch: Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Abi in Berlin? Mathe zu leicht – Bio zu wirr]
Die Logik der Politik ist simpel: Wenn Abiturienten die besten Chancen auf „Jobs“ haben, müssen mehr „Reifezeugnisse“ her! (…) Niemandem geht aber offenbar die Kehrseite der Medaille auf, dass nämlich parallel zwischen der Tatsache, dass es zwar so viele Abiturienten gibt wie noch nie, andererseits aber ein zunehmender Fachkräftemangel beklagt wird, ein fataler Zusammenhang besteht. Die ausgewiesenen schulischen Ergebnisse verbessern sich stetig, aber im MINT-Bereich fehlen Ingenieure, Mathematiker, Informatiker und Ärzte.
Nicht nur das: Mittlerweile sind nach Auskunft des Rates für deutsche Rechtschreibung zwanzig Prozent aller Fünfzehnjährigen funktionale Analphabeten. Ohne dass es irgendwo etwa schlechte Deutschnoten gäbe!  [siehe auch:  FAZ, 6.4.2017, Rainer Werner, „Ohne den dringend nötigen Grammatikunterricht“]

Die Schule stellt mit ihren Zeugnissen praktisch vielfach ungedeckte Schecks aus, was nicht zuletzt daran offenbar wird, dass über zwanzig Prozent der Studenten sogar die weit unter früherem Diplom-Niveau angesiedelten Bachelor-Studiengänge abbrechen. Mögliche fatale Folge: Perspektivisch könnten auch die Hochschulen ihre Anforderungen herunterregeln.
Die Inflationierung der [Noten-]“Schnitte“ ist so weit fortgeschritten, dass 1,0-Abschlüsse derzeit so häufig wie nie vergeben werden. Deswegen ist vielfach von Noten-Lifting die Rede.
Von anderen Ergebnissen sehen sich die Abiturienten deklassiert, zudem ihnen von der Schule suggeriert wurde, welche enormen Fähigkeiten sie mitbrächten. Die wollen sie am Ende ausgewiesen sehen, gewissermaßen als Strichcode für den Erfolg am Markt.
Indem der Anschein erweckt wird, „Methodenkompetenz“ könne Wissen ersetzen, indem ferner das „exemplarische Prinzip“ gegenüber traditionellen Curricula und Kanonisierungen als modern gilt und die Bildungsprofessoren verkünden, der Schüler würde sich alles „selbständig erschließen“, wenn er nur „das Lernen gelernt“ habe, lässt man die Heranwachsenden im Stich. Es gibt kaum mehr eine systematische, aufeinander aufbauende und obligatorische Inhalte sichernde Ausbildung, sondern eher hippe Workshop- und Projekt-Inszenierungen. Wird am Ende der Schulzeit zu wenig gekonnt, verzichtet man einfach auf Fehlerquoten, so wie es beispielsweise für die Abituraufsätze im Fach Deutsch geschieht.

Auf zweifelhafte Weise versucht die Schule zudem, das Entertainment der modernen Medien nachzuahmen, anstatt sich von dieser Unkultur bewusst abzusetzen und ein Refugium für ruhige Bildung und Muße zu etablieren. Das Erlernen von Präsentationstechniken mittels Powerpoint- und Beamer-Vorträgen, Handouts und überhaupt Management-Nachahmungen stehen im Mittelpunkt des „Coachings“, rüsten aber nur die Peripherie zu Lasten der Inhaltlichkeit auf. Ziel ist der marktfähige homo oeconomicus, längst nicht mehr die gebildete und urteilskräftige Persönlichkeit.  [siehe auch:   Kölner Stadt-Anzeiger, 6.12.2016, Kerstin Meier, Kulturredaktion, „Pisa-Studie ist manipulativer Zahlensalat“]

Man sehe sich nur die Deutschbücher der Sekundarstufe I an. Das sind Pinnwände in Buchform, mit aufgescheuchtem, sich einem für jugendlich gehaltenen Geschmack andienendem Layout. Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart, dass so überhaupt keine abgesicherte Bildung möglich ist! Lesebücher gibt es vielfach gar nicht mehr, da ja alles „integral“ und „in Auszügen“ behandelt wird.

Hinzu kommt, dass die physische Belastbarkeit der Kinder und Jugendlichen nachgelassen hat. Man unterhalte sich mit älteren Sportlehrern über den Schwund an Ausdauer, Kraft und Motorik. Meine Erfahrung: Auf Radtouren und Wanderungen achteten wir damaligen Abiturienten respektvoll darauf, dass unsere etwa fünfzigjährigen Lehrer als ältere Herren auch mitkamen. Heute verhält es sich umgekehrt. Wir Lehrer warten geduldig, bis die Schüler endlich aufgeschlossen haben.

Erheblicher als der vielfach beschworene Schulstress dürfte im Übrigen die allgemeine Reizüberflutung durch Medien Werbung und die zugehörigen apparativen Segnungen der Digitalisierung. Während man früher einmal am Tag in den Briefkasten sah, „kommunizieren“ Schüler heutzutage permanent und in Echtzeit über eine Vielzahl von Kanälen. Dabei darf selbst schon die E-Mail als antiquiert gelten. Das Tempo wird durch die Kurzläufigkeiten von Facebook-Messenger, SMS, Skype und WhatsApp mit hoher Frequenz forciert. Der Jugendliche ist durchweg erreichbar und sieht sich gehalten, sofort zu regieren, selbst wenn ihm ganz überwiegend nullige Botschaften zufliegen. Das muss zu stressiger Nervosität führen. Offline zu sein empfinden die jungen Leute als existentielle Katastrophe; sie sind von ihren Screens gefesselt oder besser an diese – wie an ein lebenswichtiges Organ. [siehe auch:  „Das muss man sich mal vorstellen: Unsere Kultusbürokratie gibt Geld aus, damit die Schüler schlechter lernen – so etwas ist einfach unfassbar.“ „DER CHIRURG GOOGELT NICHT“, FOCUS-MONEY-Redakteur Thomas Wolf interviewt Professor Manfred Spitzer]

Letztlich: Jugendliches Leben heute kennzeichnen Ambivalenzen, ja Zerrissenheiten: Einerseits trauen sich dessen Protagonisten in einer Welt, die alles verheißt und gerade an Konsum alles verspricht, auch alles zu, erleben aber gerade deswegen Misserfolge und Scheitern geradezu traumatisch und durchleiden damit tiefe Krisen. Während sie ihr Smart-Phone mit dem gesamten Weltwissen und dem ganzen Planeten verbindet, leben sie doch häufig mit einem geradezu verengt wirkenden, nahezu ptolemäisch anmutenden Weltbild. (…)

Solange Schule keine Alternativpositionen zum „Mainstream“ aufruft, sondern – im Gegenteil – gesellschaftlich und kulturell problematische Entwicklungen auf sich überträgt, solange sie Wissen durch Techniken ersetzen will, die sich angeblich in der Wirtschaft bewährt hätten, bleibt sie tatsächlich selbst ein sehr unruhiger Betrieb. Auch das mancherorts inzwischen praktisch permanente Phänomen Schulreform ist ein eklatantes Beispiel dafür.

Trotzdem mag grundsätzlich gelten: Weniger die Schule selbst nervt als vielmehr jene Veranstaltungen, die klassischerweise nicht in eine Schule gehören. Außerdem: Wo nicht mehr qualifiziert wird, wird nur noch quantifiziert. Das heißt, es geht nicht um ruhigen Bildungserwerb, sondern rein zweckorientiert um das Ergattern der besten [Noten-]“Schnitte“. Ja, das mag stressen.

Zum Artikel:  Das Blättchen – Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft – In der Tradition der Weltbühne, 20.6.2016, Heino Bosselmann, „Schulstress“


Liebe Eltern, „den Schulstoff für die nächsten zwei Wochen zu reduzieren“ um wieder Luft zu bekommen, ist nicht die Lösung. Die Minimierung der Leistungsanforderungen ist  bereits seit Jahren politisch gewollt!  Wie soll eine maximale Förderung und Forderung der Schüler unter den nachfolgend beschriebenen Zuständen für die Lehrerkräfte möglich sein? Machen Sie sich selbst ein Bild.

  • In Berlin verschärft sich der Mangel an Grundschulpädagogen massiv. Knapp 1000 für das Jahr 2016 zu besetzende Stellen stehen nur 175 vollständig ausgebildete Referendare gegenüber.
  • Der Anteil des „fachfremd“ erteilten Unterrichts dürfte an vielen Schulen bei über 50 Prozent liegen. Dies bedeutet, dass viele Schüler etwa in Mathematik nur maximal in vier von zehn Schuljahren von Fachlehrern unterrichtet werden. Immer mehr Lehrer sind ohne pädagogische Ausbildung!
  • Bei der Einstellungsrunde 2/2017 haben von 1037 Lehramtsabsolventen, die sich für ein Referendariat in Berlin beworben und eine Zusage erhalten haben, 484 Bewerber (47 Prozent) abgesagt.
  • In Berlin müssen in den kommenden sieben Jahren 16.000 ausgebildete Pädagogen eingestellt werden.
  • Bereits bis 2018 werden in Berlin rund 22.000 zusätzliche Schulplätze benötigt. Bis 2020/21 wird mit 40.000 zusätzlichen Schülern gerechnet.
  • Viele Berliner Jugendliche sind jährlich ohne Schulabschluss. Fast jeder neunte Berliner Jugendliche hat im Schuljahr 2014/2015 die Schule ohne Berufsbildungsreife, also ohne Hauptschulabschluss, verlassen. Die Bilanz wird von Jahr zu Jahr schlechter.
  • Im Leistungsstand der Risikogruppe zeigt sich ein Rückstand um mehrere Schuljahre. Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems.

Aus der Pressemitteilung über das Berliner Schulsystem vom 15.3.2017 erfahren wir von unserer Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), dass es „zahlreiche positive Entwicklungen“ gibt und Sie versteigt sich zu der Feststellung: „Die Berliner Schule ist für kommende Herausforderungen gewappnet“. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich.

Bundesbildungsministerium: »Einmaleins und ABC nur noch mit PC.«

»Gegen den Algorithmus kann es kein Aufbegehren geben«

Ralf Wurzbacher im Gespräch mit Matthias Burchardt. Über den digitalen Angriff auf die Schulen, asoziale soziale Netzwerke und die Morgendämmerung des Maschinenmenschen.

Dr. Matthias Burchardt ist Akademischer Rat am »Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne« an der Universität zu Köln und stellvertretender Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW).

Ralf Wurzbacher:  (…) Die Online- und Spielsucht in Deutschland nimmt immer gravierendere Ausmaße an. Laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marlene Mortler, CSU, gelten heute bereits 560.000 Menschen als computersüchtig. Kinder und Jugendliche sind dabei besonders gefährdet. [Im Oktober 2016] hat die Bundesregierung die Auflage eines fünf Milliarden Euro schweren Programms zur Ausstattung aller deutschen Schulen mit modernster digitaler Technologie angekündigt. Den sogenannten Digitalpakt #D bewirbt das von Johanna Wanka, CDU, geführte Bundesbildungsministerium mit: »Einmaleins und ABC nur noch mit PC.« Wie gut schlafen Sie noch bei all dem, oder Ihre Kinder?

Matthias Burchardt: Frau Wanka entfesselt die nächste Welle durch einen Pakt, der den Charakter einer Gewalttat im Gewand einer Wohltat hat. Mir bereitet dieser Angriff auf die Schulen tatsächlich große Sorgen. Meine Kinder dagegen schlafen gut, weil ihre innere Uhr abends nicht vom Bildschirmlicht gestört wird. Tatsächlich gehören Schlaf- und Konzentrationsstörungen zu den bedenklichen Nebenwirkungen dieser Systeme, von der hohen Suchtgefährdung ganz abgesehen.

Was ist so anders daran, mit Smartphone oder Tablet zu lernen, verglichen mit den bisher gängigen Methoden?

Wenn ich den Slogan richtig deute, ist Frau Wanka nicht in erster Linie an einer soliden Geräteausstattung gelegen, die dann nach fachdidaktischen Entscheidungen der Lehrerin oder des Lehrers bedarfsweise eingesetzt wird. Ihr geht es um einen Umbau der pädagogischen Substanz von Schule: »nur noch mit PC«. Bisher galt aus guten Gründen, dass Lernen in Beziehung stattfindet, verantwortet von einer in Fach und Vermittlung souveränen Lehrperson. Diese soziale Dimension von Bildung wird aber verdrängt, wenn der Bildschirm zunehmend zum Bezugspunkt wird. Es ist übrigens eine Illusion zu glauben, dass diese Geräte ein neutrales Instrument wären, das in den Händen der richtigen Leute zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen würde. Zum einen vergrößert digitalisierter Unterricht die soziale Spaltung, anstatt sie zu überwinden. Mehr denn je wird dann nämlich das kulturelle Kapital der Eltern ausschlaggebend für den Bildungserfolg sein. Zum anderen verkennt man die Eigengesetzlichkeit des Mediums, das einem nämlich nur dann gehorcht, wenn man sich ihm unterwirft. Im Grunde funktionieren die digitalen Medien wie ein Fetisch. Sie suggerieren dem Nutzer Freiheit und Souveränität, liefern ihn aber einer Abhängigkeit aus. Sowenig der Seidenstrumpf oder die Götterstatue tatsächliches Liebesglück oder religiöse Erlösung zustande bringen, sowenig können digitale Lehrmittel und Medien die Aufgaben eines Lehrers ersetzen oder auf technischem Weg die Bildung von Schülern bewerkstelligen.

Wie und warum »unterwirft« man sich der digitalen Technologie, wenn man, um beim Beispiel zu bleiben, das Alphabet auf dem Tablet einübt?

Diese Unterwerfung hat mehrere Dimensionen. Zum einen hat Lernsoftware bei allem Geblinke und Gedudel die Dialogfähigkeit eines Formulars und die Sturheit eines Sprachmenüs bei einer Servicehotline. Rückfragen, Verständigung oder auch Einflussnahme auf Inhalt und Art es Lerngeschehens sind nicht wirklich möglich. Im zwischenmenschlichen Unterricht kann der Schüler mittendrin die Sinnfrage aufwerfen, ganz im Sinne von Ruth Cohn: »Störungen haben Vorrang!« Software ist rigoroser als jeder autoritäre Lehrer, die Entmündigung geschieht auf dem Wege des anonymen Algorithmus, gegen den es kein Aufbegehren geben kann. Und dann gibt es eine noch verborgenere Form der Unterwerfung: Die Geräte spionieren ihre Nutzer aus, erheben Daten, generieren Verhaltensprofile und gewinnen so ein Herrschaftswissen, das zur Steuerung der Menschen genutzt werden kann. Sicher wird man hier behaupten, dass dies alles der Optimierung von Lernen dienen soll. Aber worin besteht dieses Optimum? Mündigkeit oder Anpassung an Sachzwänge, die uns die sture Maschine präsentiert – als Einübung für die Insassen der »Industrie 4.0«? (…)

Vor zwei Jahren hat Bertelsmann verkündet, ganz groß ins Geschäft mit Bildung einzusteigen und damit in drei bis fünf Jahren eine Milliarde Euro zu erlösen. Riesige Profite verspricht sich Europas führender Medienkonzern vor allem durch E- Learning-Angebote für Schulen und Hochschulen. Fast zeitgleich hat die Bundesregierung im Sommer 2014 ihre »digitale Agenda« ausgerufen, in deren Rahmen man die deutschen Bildungseinrichtungen zunächst mit der Hardware versorgen will, die es für die schönen neuen Softwarelösungen braucht. Die Koinzidenz beider Vorstöße lässt erahnen: Gütersloh und das Kanzleramt sind schon jetzt bestens vernetzt.

Eine Kollegin war in Berlin anwesend, als Frau Wanka die Digitalisierungsinitiative vorgestellt hat. Sie berichtete, dass die Ministerin ausdrücklich auf ihren »Freund Jörg Dräger« [Bertelsmann-Stiftung] verwiesen hat, der ihr den erfolgreichen Einsatz digitaler Lehrmittel demonstriert habe. Zudem müsse man an die Daten der Schüler kommen. Über diese anekdotische Annäherung hinaus bedarf es natürlich einer sytematischen Aufarbeitung der Beziehungen zwischen der Politik und der Stiftung. Einen ersten, wesentlichen Beitrag dazu hat die Landtagsfraktion der Piraten in Nordrhein-Westfalen mit einer großen Anfrage zu den Verflechtungen zwischen Gütersloh und Düsseldorf geleistet. Die Antwort der Regierung liegt vor, aber obwohl sie durchaus skandalöse Aspekte enthält, berichten die Qualitätsmedien nicht darüber.

Bei Bertelsmann fällt einem ja zuerst der TV-Sender RTL ein. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie hören, dass der Konzern jetzt ganz groß auf Bildung macht?

Tatsächlich sind die Sender der RTLGruppe nicht unbedingt für ihre hochwertigen Bildungsangebote in die Geschichte eingegangen. Es entsteht insofern ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn man sich in Sachen Bildung »beratend« in die Politik einmischt, während die eigenen Formate eher wie ein Abgesang auf die Ansprüche einer humanistischen oder emanzipatorischen Kultur erscheinen. Kritiker werfen der Stiftung deshalb vor, dass hinter den sozialpolitisch konsensheischenden Zielen im Grunde die Agenda einer neoliberalen Umsteuerung verfolgt wird. Nebenbei kann man natürlich auf dem Digitalisierungsmarkt viel Geld verdienen.

Wenn die Interessenlage so durchsichtig ist, warum machen dann alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte bei diesem Hype mit? Selbst die Gewerkschaften singen das Hohelied auf das digitale Klassenzimmer und bekritteln allenfalls, dass es dafür mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte bräuchte. Dabei gibt es doch Kritik aus berufenem Munde: Fast alle Kinderärzte warnen, dass der Gebrauch der neuen Medien die körperliche und kognitive Entwicklung von Kindern stört und mitunter krank und blöd machen kann. Will das einfach keiner hören?

Über die Gründe kann man nur spekulieren. Hier treffen wohl Naivität und erfolgreiche Lobbyarbeit aufeinander. Das Internet und der Computer wurden von Beginn an als Militärtechnologien genutzt und gefördert. In einer Verquickung von politischen und ökonomischen Interessen wurden auch die Privathaushalte seit den 1980er Jahren mit Geräten und in den 1990ern mit Internetanschlüssen versorgt. Computer wurden als pädagogisch wertvoll gepriesen und das Netz als Ort der freien Zirkulation von Informationen. In der »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace« entwirft John Perry Barlow 1996 die Utopie einer neuen Welt der Freiheit, die nicht mehr durch staatliche Repression kontrolliert wird. Man hätte damals stutzig werden müssen, dass dieses Manifest ausgerechnet in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum vorgetragen wurde. (…)

Ende August war in einem Artikel der New York Post zu lesen, dass leitende Angestellte aus dem Silicon Valley ihre Kinder gerade nicht in diese hippen Technoschulen schicken, wo schon kleine Menschen mit Smartphone und Tablet großgezogen werden. Und gleichzeitig machen diese Leute Milliardenprofite damit, dass Heranwachsende ihr ganzes Leben bei Facebook, Twitter und Youtube entblößen. Ist es wirklich nur das Geld, das die Digitalhysterie befeuert?

Es ist bekannt, dass die Kinder von Steve Jobs kein I-Pad oder I-Phone hatten. Ganz nach dem Motto: »Analog ist das neue Bio« gestalten Eltern das Leben ihrer Kinder bewusst frei von digitalen Medien, sogar wenn sie mit IT ihr Geld verdienen. Ich glaube aber nicht, dass es nur um Geschäfte geht. Es entsteht ein Instrument totaler Überwachung und Steuerung, das den Ansprüchen einer aufklärerisch-emanzipatorischen Gesellschaft fundamental entgegenwirkt und uns zu Insassen im Raum eines technischen Kraftfeldes macht, das nicht im Netz endet, sondern auch das Politische selbst vernichtet. Die US-Politologin Wendy Brown hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Verfahren des Governance – als einem Steuerungsmodell gesellschaftlicher Prozesse auf Basis von Daten, Kennziffern und Sollwerten – den Akteuren quasi eine neue geistige Firmware aufgespielt wurde. Das führt dazu, dass ein jeder die Illusion von Handlungsfreiheit und ethischer Integrität hat, aber gleichwohl aufgrund der Systemlogik genau dieselben Entscheidungen trifft, die auch der durchtriebenste Verfechter des Neoliberalismus getroffen hätte. (…)

Sie waren für die Fraktion Die Linke im Hessischen Landtag Sachverständiger zum Thema Digitalisierung in der Enquetekommission »Kein Kind zurücklassen«. In Ihrem Gutachten heißt es klipp und klar: »Die Digitalisierung ist nur ein weiterer Schritt zur Entstaatlichung und Ökonomisierung des Bildungssystems.« Wundert es Sie nicht, dass Die Linke im Bundestag davon gar nichts wissen will? Die bildungspolitische Sprecherin Rosemarie Hein warnte Frau Wanka vor einem Monat allen Ernstes  davor, »bei der Ausstattung der Schulen keine halben Sachen zu machen«.

Ich würde mich sehr freuen, auch mit den Akteuren auf Bundesebene ins Gespräch zu kommen, denn ich unterstelle zunächst einmal den meisten Politikern guten Willen, aber auch Unkenntnis. Dass eine gewisse Geräteausstattung pädagogisch und organisatorisch sinnvoll ist, würde ich auch unterstreichen. Doch eine solche Überlegung darf nicht auf die Analyse der Interessen und Folgen verzichten. Wenn die Linkspartei gegen gesellschaftliche Spaltung vorgehen möchte, sollte sie zur Kenntnis nehmen, dass Digitalisierung keine Lösung, sondern ein Problem ist.

Spielerei, Bedrohung, Stütze – wie man den Einsatz digitaler Technologie im Klassenzimmer bewertet, hat oft mehr mit Ideologie als mit Auseinandersetzung zu tun.

zum Artikel:  Die TAGESZEITUNG jungeWelt, 19./20. November 2016, Nr. 271, »Gegen den Algorithmus kann es kein Aufbegehren geben«

„Berliner Bildungsverwaltung will ihre Bilanz schönen“

Abschlussprüfungen an Berliner Schulen

Mathe zu leicht, Bio zu wirr

Bei den Prüfungen an Berlins Schulen hat das Niveau der Aufgaben nachgelassen – sagen Lehrer. Und äußern einen Verdacht.

Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus

Die Klausuren sind geschrieben, bald beginnen die Zeugniskonferenzen, aber Erleichterung will sich nicht einstellen: Gymnasiallehrer beklagen im aktuellen Abitur „wachsweiche Prüfungen“ in Mathematik und eine „wirre Aufgabenstellung“ in Biologie. Sekundarschulen und Berufsschulen hadern damit, dass die Hürden in die gymnasialen Oberstufen gesenkt wurden. Alle zusammen haben den Eindruck, „dass die Bildungsverwaltung ihre Bilanz schönen will“. (…)

Unter den Kollegen von Thilo Steinkrauß, Fachbereichsleiter Mathematik am Herder-Gymnasium in Westend  sei es „unstrittig, dass der Schwierigkeitsgrad streng monoton fallend ist“. (…) „Die Leistungskursklausuren waren tendenziell leichter als sonst“, zitiert Martin Meinhart, Mittelstufenkoordinator der Spandauer Martin-Buber-Sekundarschule, seine Mathematik-Kollegen. Die Schüler hätten im Schnitt eine glatte Zwei erreicht. (…)

Die Universitäten konstatieren allerdings seit Jahren eine eher rückläufige Tendenz beim Wissen, das die Schüler mitbringen: „Sie sind nicht dümmer, sie haben nur weniger gelernt“, fasst FU-Mathematik-Professor Günter Ziegler seine Beobachtungen zusammen. (…)

Unabhängig von den aktuelle Aufgaben steht für den Verband der Oberstudiendirektoren fest, „dass es bei den Anforderungen in den nächsten Jahren dringend wieder eine Tendenz nach oben geben muss“, betont der Vorsitzende Ralf Treptow.

Daran ist allerdings nicht zu denken. Im Gegenteil. Nachdem 2015 die Zahl der Berliner Schüler ohne Abschluss bei über zehn Prozent lag, ist die Hoffnung zerstoben, dass schon allein die Abschaffung der Hauptschulen zu besseren Ergebnissen führen würde. [Erstaunlich, dass durch diesen Etikettenwechsel doch viele glauben, es seien nun höhere Bildung und qualifiziertere Schüler unter dem Banner eines neuen Schulnamens und einer neuen Schulart versammelt.]
Insbesondere an der Mathematik scheitern viele. Das sei wohl auch der Grund dafür, dass die diesjährigen Mathematikaufgaben im Mittleren Schulabschluss noch leichter als bisher ausgefallen seien, vermuten mehrere Lehrer.

Gleichzeitig weisen sie aber darauf hin, dass die Mathematikarbeit überhaupt noch die letzte echte Hürde sei: „Die Englischklausur kann man zumindest auf dem Niveau der Berufsbildungsreife bestehen, ohne ein Wort Englisch zu können“, sagt ein Englischlehrer mit Hinweis auf die Aufgaben zum Ankreuzen. Der Verzicht auf das Sitzenbleiben in den Sekundarschulen habe den Niveauverlust noch befördert, bedauert ein anderer Sekundarschulvertreter. (…)

Was die [Lehrer-]Kollegen aus anderen Sekundar- und auch Berufsschulen allerdings viel mehr umtreibt, ist der Niveauverlust in Klasse elf: Seitdem Schüler mit einer Fünf im Hauptfach und einem Durchschnitt von Drei minus in die gymnasiale Oberstufe dürfen, scheitern sie massenhaft. „Wir haben noch nie so viele blaue Briefe geschrieben“, berichten mehrere Schulen. (…) „Man suggeriert den Schülern, dass sie es schaffen können und lockt sie in eine Falle, anstatt dass sie mit einer Berufsausbildung anfangen“, bedauert ein stellvertretender Schulleiter aus Neukölln. Das sei „vertane Lebenszeit“. Der Verzicht auf das Sitzenbleiben in den Sekundarschulen habe die Entwicklung befördert, dass die Schüler beim Mittleren Schulabschluss (MSA) oder spätestens in Klasse elf massenweise scheitern.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr

siehe auch: Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Grübeln überflüssig
Die zentralen Mathematikprüfungen für Zentklässler waren in diesem Jahr auffallend leicht zu bestehen. Lehrer kritisieren den Test als „Pillepalle“. Aus Bayern heißt es, das Niveau entspreche der siebten Klasse.

siehe auch:  Schriftliche Prüfungsarbeit zur erweiterten Berufsbildungsreife und zum mittleren Schulabschluss 2016, 10. Mai 2016, im Fach Mathematik

siehe auch:  Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss

In Berlin und den Bundesländern wie auch im Nachbarland Österreich gilt politisch der OECD-Wille, die Abiturientenzahlen nach oben zu treiben. Das hat seinen Preis!

Die Berliner Bildungspolitik kann das Problem nicht weiterhin ignorieren oder schönreden.  Es ist im Sinne einer fundierten Bildung unserer Schülerinnen und Schüler zu lösen und nicht auf deren Kosten!

siehe auch:  FAZ, 18.05.2016, Hans-Jürgen Bandelt, Hans- Jürgen Matschull, Denken darf hier nur der Taschenrechner

Das Mathematikabitur 2016 in Niedersachsen, das nun nach massiven Beschwerden weniger streng bewertet wird, muss für viele Betroffene, schwache wie starke Schüler, das Grauen gewesen sein. Kultusministerin Frauke Heiligenstadt ließ gleich nach den ersten heftigen Protesten höchstpersönlich verlauten, dass die Aufgaben anspruchsvoll, aber vom Schwierigkeitsgrad leistbar gewesen seien und den Vorgaben entsprochen hätten. Das ist erstaunlich. Denn in fachlicher Hinsicht ist die zugrundeliegende Mathematik als einfach bis banal zu bezeichnen. Die Aufgabensteller scheuten jedoch keine Mühe, die simplen und rein schematisch lösbaren Aufgaben mit einem Textwust zu versehen, der Realitätsbezug und Anspruch vorspiegeln soll. Schwammige Formulierungen und Gedankensprünge taten ein Übriges. (…)

Hans-Jürgen Bandelt ist Professor für Mathematik an der Universität Hamburg, Hans-Jürgen Matschull lehrt Mathematik und Physik am Lichtenberg-Gymnasium in Cuxhaven.

Gymnasiale Bildung – heute und morgen

Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’.

aus PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann – Universität Wien, Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

(…) Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiastin bundesweit für Aufregung, sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: »Ich bin fast achtzehn und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.« Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben alles so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht eher darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie diese Wendung und ihre Geschichte noch) Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, dann denkt nämlich ohnehin fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einst assoziiert waren: Bildung als proportionierliche Entfaltung der Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen, Bildung als souveräne Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken, Bildung als Fähigkeit, sich elaboriert auszudrücken, Bildung als Aneignung von und Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Religion, Bildung als wissensbasierte Reflexions- und Kritikfähigkeit, Bildung als Schulung der ästhetischen Urteilskraft und der moralischen Sensibilität, Bildung als letzte Aufgabe unseres Daseins.

Im gegenwärtigen Diskurs fungiert ‘Bildung’ in der Regel als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Schulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’. (…)

Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses. (…)

[Kinder und Jugendliche] werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substantielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die vielgerühmte ‘Selbstkompetenz’ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der Selbsterkenntnis sabotiert. Ähnlich verhängnisvoll ist die Vorgabe, dass alles und jedes, was gelernt wird, seine Anwendung finden muss. Denn dies bedeutet, dass die Kunst und die Wissenschaften, die großen Dokumente der eigenen und von fremden Kulturen, Gedanken- und Glaubenssysteme, die Natur und ihre Gesetze ausschließlich unter der Perspektive, ob Kinder und Jugendliche sie in ihrer Lebenswelt irgendwie nützen können, angesprochen und vermittelt werden dürfen. Die damit verbundene geistige und seelische Verarmung ist mit Händen zu greifen. (…)

Gleichzeitig verstehen sich aber vor allem primäre und sekundäre Bildungseinrichtungen zunehmend als Orte, an denen es weniger um Kompetenzen und Qualifikation, sondern um soziale Integration und die Herstellung gerechter Verhältnisse gehen soll. Schule soll dann die Defizite der Gesellschaft ausgleichen und für Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten und niemand darf zurückbleiben. Individualisierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben. Wer gegen Individualisierung und gegen Inklusion argumentieren wollte, machte sich sofort verdächtig, ungerechte Verhältnisse fortschreiben und die Chancen von Menschen beschneiden zu wollen. Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich niemand aussetzen. (…)

Wenn Bildung auch bedeutet, jungen Menschen jene Kulturtechniken und jene Kenntnisse zu vermitteln, die als notwenige Voraussetzung gelten, um die Gesellschaft, ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Wissensformen zu verstehen und deshalb daran partizipieren zu können, dann kann zur Einlösung dieses Anspruches der Maßstab nicht nur im Individuum liegen. Bildung heißt auch, sich an den Errungenschaften einer Kultur abzuarbeiten, die nicht beliebig disponierbar sind. (…)

Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass nichts so sehr in der Wissensgesellschaft verachtet wird, wie der Erwerb von Wissen. ‘Faktenwissen’ ist zu einem Unwort geworden, diese Form des Wissens muss aus den Schulen verbannt werden, niemand soll mit Dingen belastet werden, die man entweder überall nachschlagen kann oder die ohnehin rasch veralten. Die flächendeckende Umstellung der Lehr- und Studienpläne an Schulen und Universitäten von definierten Kenntnissen und Inhalten auf ‘Kompetenzen’, ‘Workloads’ und ‘Soft Skills’ ist nur das sichtbarste Zeichen einer generellen Entwertung des Wissens. (…)

Nun wäre es Unsinn zu leugnen, dass Ausbildungsprozesse und eine breite Palette von Ausbildungsmöglichkeiten für eine moderne Gesellschaft von allergrößter Bedeutung sind. Fraglich aber bleibt, ob Bildung tatsächlich auf Lebensnähe, Schülerzentriertheit, Praxisrelevanz und eine am Kriterium des ökonomischen Nutzens orientierte Ausbildung reduziert werden kann. Das Problem beginnt schon damit, dass der Begriff des ‘Nutzens’ selbst höchst vage ist und oft nicht mehr als divergierende gesellschaftliche Interessen beschreibt, die sich zudem rasch ändern. (…) Ein Kunstwerk verstehen und interpretieren zu können, hat deshalb sehr wohl mit Bildung zu tun, die Fähigkeit, eine Steuererklärung ausfüllen zu können, mag lebensdienlich sein, stellt aber keine Bildungsperspektive dar. (…)

Zwar weiß niemand mehr, was unter Bildung zu verstehen ist, aber alle sind sich einig, dass Bildung die wichtigste Ressource in einer wettbewerbsorientierten Wissensgesellschaft darstellt. Der Schluss, den viele daraus ziehen, ist allerdings merkwürdig: In immer kürzerer Zeit sollen immer mehr junge Menschen aus immer unterschiedlicheren Milieus immer kostengünstiger immer besser ausgebildet werden. Das kann nicht gut gehen. Die Absolventen eines klassischen Gymnasiums hätten noch gewusst, dass im deutschen Wort Schule das griechische scholé steckt: Es bedeutet so viel wie Muße. Wer in Bildungsfragen Hektik verbreitet – und dies macht fast jeder – ist schon auf dem falschen Weg.

Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann am 12. Januar 2016 am Edith-Stein-Gymnasium in Bretten, Baden-Württemberg, auf Initiative des PhV-Bezirksverbandes Nordbaden. Der gesamte Vortrag ist nachzulesen in PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes

Der Bildungsputsch

Seit Jahren löst eine Bildungsreform die nächste ab.

Trotz aller hiermit verbundenen Versprechungen ist bisher kaum etwas besser, sondern vieles schlechter geworden. Zeitgleich nehmen immer mehr private Investoren das öffentliche Bildungswesen ins Visier. Zufall? Sicher nicht, meinen einige Forscher in einer aktuellen Publikation, in der sie exemplarisch die Verkürzung der Abiturzeit mittels G8 unter die Lupe nehmen. (…)

Jens Wernicke im Interview mit Matthias Burchardt, Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität Köln.

Herr Burchardt, Sie sind Autor des soeben erschienenen Buches „weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden“. Ist das nicht ein wenig hoch gestapelt: „Kollateralschäden“ durch eine Bildungsreform?
Möglicherweise ist es sogar verharmlosend, denn ein Kollateralschaden ist ja eine Begleiterscheinung bei der Umsetzung eines höheren Zieles, das als gut gilt. Was aber wäre, wenn die versprochenen humanitären Ziele – ähnlich wie in der Kriegspropaganda der letzten Jahre – nur vorgeschoben wären und die Schäden beabsichtigt sind?

Uns wurde versprochen, dass mit westlichen Waffen Humanität und Demokratie herbeigebombt werden sollten und würden. Stattdessen haben wir nun in vielen der von uns „befreiten“ Länder zerstörte Infrastruktur, kulturelle Entwurzelung und zerfallende Staaten, während der Eindruck entsteht, dass dieses Vakuum geostrategischen Interessen und dem Ressourcenhunger der Großmächte durchaus in die Hände spielt.

Was wäre, wenn der Schaden auch bei den Schulreformen der letzten Jahre Teil einer globalen Agenda wäre, die sich einen verwertbaren und politisch unmündigen Menschen wünscht, der leichter zu steuern ist, weil er nicht mehr über die fachlichen Horizonte des Urteilens oder über ethische und emanzipatorische Perspektiven verfügt? Die Programme und Strategien der OECD beispielsweise arbeiten schon seit den 60er Jahren mit langem Atem an der Realisierung eines solchen Projektes.

In meinem Artikel schlage ich ausgehend von einer konkreten Reform – jener der Schulzeitverkürzung mittels G8 – den Bogen zu den Akteuren und Nutznießern im Hintergrund und ihren Modellen der ökonomistischen und antidemokratischen Globalisierung. (…)

Sie sprechen beim Thema G8 ja sogar von einem „Reformputsch gegen die humanistische Bildungskultur“. Inwiefern denn das?
Ein Putsch ist die Veränderung von politischer Wirklichkeit durch Organe, die vom Grundgesetz nicht vorgesehen sind. Auch nach genauer Lektüre habe ich bisher an keiner Stelle entdeckt, dass die OECD oder die Bertelsmann Stiftung einen verfassungsmäßigen Auftrag zum Umbau unseres Bildungswesens hätten.

Vielmehr greifen hier Formen der “Soft Governance“, also des weichen Regierens, die zwar die Kulissen der Demokratie intakt lassen, gleichwohl aber dem Souverän – und in Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es nicht umsonst: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – subtil die Macht entziehen.

Diese Akteure gebärden sich in der Rolle der hilfreichen Berater und verfolgen unter der Hand ihre eigenen Ziele. Die PISA-Studie gibt hier ein gutes Beispiel ab, da sie vor dem Hintergrund einer wissenschaftlich eher peinlichen Konzeption gleichwohl auf dem Wege öffentlicher Propaganda die Semantik und Pragmatik der Bildungsdiskurse umprogrammieren konnte. (…)

zum Artikel:  NachDenkSeiten – Die kritische Website, 14.03.2016, Der Bildungsputsch

zum Buch:  „weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden, Analysen und Materialien“, siehe Bücherliste

siehe auch:   Wieder Streit über das Turbo-Abitur

Der Streit um das acht- oder neunjährige Gymnasium ist in Nordrhein-Westfalen neu

Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren, Die Welt, 22.10.2015

Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren, Die Welt, 22.10.2015

entbrannt. Doch auch in anderen Ländern wird wieder verstärkt über die Rückkehr zum G9 diskutiert.
zum Artikel:  FAZ, 13.05.2016, Reiner Burger, Wieder Streit über das Turbo-Abitur

siehe auch:  Fachthemen zu „Schule und PISA/OECD“

Trojanisches Pferd für die Lehrerbildung

Gesetz zur Änderung des Lehrerausbildungsgesetzes, Bezug zur Drucksache 16/9887 vom 30.09.2015, Anhörung im Landtag NRW am 17. Februar 2016

Stellungnahmen:

Prof. Dr. Ursula Forst, Universität zu Köln, Fachgruppe Erziehungs- und Sozialwissenschaften
Auszug:
Der Gesetzentwurf geht im wesentlichen auf Nachbesserungen und Anpassungen des Lehrerausbildungsgesetzes von 2009 aus. Die darin vorgenommene grundlegende Reform, die in der Umstellung auf BA-MA-Studiengänge [Bachelor- und Masterstudiengänge] und die Einführung von Kompetenzorientierung und entsprechenden Standards besteht, wird als alternativlos dargestellt. Dies muss um so mehr befremden, als inzwischen gemachte Erfahrungen und tief greifende Kritik auszuwerten wären. (…)

Bildungsreformen müssen diskutierbar und revidierbar bleiben, sonst wäre der Anspruch ständiger Reformen ad absurdum geführt. Alternativlos ist nur Humanität. Demokratie lebt von der diskursiven Auseinandersetzung mit Alternativen. Es gibt gute Gründe, die weitere Umsetzung des sog. „Bologna-Beschlusses“ zu überdenken. (…)

Der Bologna-Prozess hat sich als dysfunktional erwiesen, denn er hat seine eigenen Ziele nicht erreicht. Weder internationale Mobilität wurde erhöht noch die Studienabbrecherzahl verringert. Studiengänge wurden nicht klarer und vergleichbarer, die Studienzeit insgesamt verlängert. Diese Erfahrungstatsachen sind seit Jahren bekannt; wie ist es möglich, sie politisch zu ignorieren? Dass auch die Attraktivität der Bologna-Absolventen für berufliche Arbeitsfelder keineswegs erhöht wurde, wie jüngst eine McKinsey-Studie (vgl. Mourshed u.a. 2014) eindrucksvoll aufzeigte, macht das Leitbild der ‚employability’ zur Farce.

Der sog. „Bologna-Beschluss“ und der sich anschliessende Prozess sind nicht demokratisch eingeführt (vgl. Krautz 2013a). Bis heute entzieht er sich immer wieder einer demokratischen Auseinandersetzung in den betroffenen Ländern und Institutionen (man darf offenbar immer nur dafür stimmen). (…)

Es gibt keine genuin wissenschaftlichen oder pädagogischen Argumente für Bologna; erst recht nicht hinsichtlich der Lehrerausbildung. Die Kompetenzorientierung wurde durch die PISA-Kampagne der OECD angezettelt (…)

Das universitäre Studium wird seit Bologna unnötig verschult und zerstückelt, Bildung und Wissen erfolgreich verhindert. Die Bologna-Reform führt ein organisatorisches Hybridsystem aus Vorgaben, Regelungen, Tests, Dokumentationen, Evaluationen, Kontrollen usw. mit sich, das sachliche und humane Maßstäbe der Handlungsorientierung unmäßig erschwert.

Der Bologna-Prozess ist, gemessen an seinen eigenen Zielen ebenso wie nach politischen, rechtlichen und pädagogischen Maßstäben, gescheitert und bedarf daher seinerseits einer Reform, d.h. einer Kurskorrektur der Bildungspolitik, die sich auf das Wesentliche der Bildung konzentriert und dafür andere, bessere Wege findet. (…)

zur Stellungnahme von Prof. Dr. Ursula Forst, Universität zu Köln


 

Prof. Dr. Hans Peter Klein, Goethe Universität, Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften
Auszug:
(…) Mit dem Gesetzentwurf der Landesregierung Gesetz zur Änderung des Lehrerausbildungsgesetzes ist mit einer vorgeblichen Ausrichtung „an den pädagogischen Herausforderungen der Zukunft“ ein weiterer imperialer Durchgriff der Exekutive in die Freiheit von Forschung und Lehre der nordrheinwestfälischen Universitäten geplant.

Klares Ziel: Hineinregieren in die Hochschulen, Abschaffung der Freiheit von Forschung und Lehre. (S. 1)

Durch eine verpflichtende Übertragung weiterer Inklusionskonzepte in die Fachwissenschaften und insbesondere in die Fachdidaktik kommt es zu einer nicht hinnehmbaren weiteren Kürzung der fachlichen Ausbildung, die derzeit im gesamten Bundesgebiet einmalig ist.

Wir betrachten zum einen die Festlegung der 8 von 15 LP [Leistungspunkten] der Fachdidaktik als Eingriff der Landesregierung in die Lehre der Universitäten. Zum anderen steht die recht plötzliche Erhöhung und Festlegung von 5 LP für inklusionsorientierte Fragestellungen deutlich einer professionsbezogenen fachlichen Ausbildung für alle zukünftigen Lehrer/innen entgegen. Die Fachdidaktik leistete bisher mit den 12 frei zu gestaltenden Leistungspunkten einen wesentlichen Beitrag, um fachspezifische Arbeitsweisen, den Einsatz vielfältiger Unterrichtsmethoden, Konzepte zur Planung und Durchführung von Unterricht, die Bedeutung außerschulischer Lernorte sowie Diagnosefertigkeiten u.a. zu vermitteln. Eine Beschneidung dieser bisher wahrgenommenen Lehrinhalte um weitere 5 LP bedeutet den Verzicht auf grundlegende Teile fachdidaktischer Lehre. Was bitte soll wegfallen? (S. 2)

Der Gesetzentwurf fällt all denjenigen in den Rücken, die sich seit Jahren um eine professionsorientierte Vermittlung konzeptbezogener fachlicher Kompetenzen in den Fachwissenschaften und Fachdidaktiken bemühen, auf denen erst prozessbezogene Kompetenzen entsprechend den Vorgaben der Bildungsstandards aufgebaut werden können.
Das vorliegende Gesetz verschärft hingegen die weitere Entfachlichung der Lehrerbildung und insbesondere der Fachdidaktiken zugunsten inklusiver Fragestellungen, die bisher ausschließlich in den Bildungswissenschaften verortet waren. Insbesondere der Fachdidaktik soll anscheinend die Rolle zugewiesen werden, als trojanisches Pferd die bildungspolitischen Konzepte aus den Parteibüchern der jeweiligen Landesregierungen in den Hochschulen umzusetzen.

Zudem soll der Fachdidaktik anscheinend vorgeschrieben werden, die völlig umstrittenen Konzepte der „Neuen Lernkultur“ mit Individualisierung von Unterricht, der Rolle des Lehrers als Lerncoach und konstruktivistischen Unterrichtskonzepten entsprechend den Vorstellungen der rot-grünen Landesregierung verbindlich umzusetzen. Konzepte, für deren Erfolgsaussichten es keinerlei empirische Belege gibt, die ganz im Gegenteil im gesamten anglo-amerikanischen Raum bereits seit langem als gescheitert gelten (Kirschner et al. 2008, Ravitch, 2008, Hattie 2009). „Gemeinsames Lernen? Nein danke. Heute gibt es mobiles Coaching und flexibles Kompetenzdesign“ (Türcke 2016). (S. 4)

Wenn bis zu 2/3 der dortigen Ausbildung mittlerweile von der Landesregierung vorgegeben wird, ist Einspruch vonnöten. Nach möglicher Inkraftsetzung des Gesetzes in dieser Form kann man den Fachdidaktiker/-innen in NRW nur raten, sich weiterhin auf die Freiheit von Forschung und Lehre zu berufen und entsprechend ihrer Expertise eine fachdidaktische Lehre anbieten, die sie auch professionell vertreten und verantworten können. Denn insbesondere die Schüler mit dringendem und unterschiedlichstem Förderbedarf und deren Eltern erwarten einen professionellen Umgang und eine entsprechende Betreuung in der Schule, dem durch derartige Vorhaben ein Bärendienst erwiesen wird. (…)

Eingerückt = eingefügte Erläuterungen aus der Stellungnahme von  Prof. Dr. Hans Peter Klein durch Schulforum-Berlin

zur Stellungnahme von Prof. Dr. Hans Peter Klein, Goethe Universität, Frankfurt am Main


 

Prof. Dr. Ulrich Heinen, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Design und Kunst
Auszug:
(…) Mit der Kompetenzorientierung ist die studierte Sache ebenso in den Hintergrund getreten wie der Studiendialog mit den Lehrenden und den Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie die Erfahrung der eigenen Verantwortung für das Studieren. Stattdessen sind die Studierenden selbst zu Objekten eines Ausbildungsvorgangs umdefiniert worden, der sie auf eine extern definierte Clusterung vermeintlich berufsvorbereitender Kompetenzen ausrichtet. Der Umbruch hat leider System: Lehramtsstudierende dürfen im Studium einen Bildungsprozess erst gar nicht mehr erfahren, den sie – angesichts der parallel durchgesetzten Outputorientierung der schulischen Bildung – ihren Schülerinnen und Schülern offenbar auch gar nicht mehr erfahrbar machen sollen. Auf dem Weg über die rechtliche Neubestimmung von Lehrerbildung und Schule wurde eine tiefgreifende Gesellschaftsveränderung eingeleitet, die mit einer umfassend und kleinteilig umgesetzten Operation an der nächsten Generation die Wurzeln der demokratischen Gesellschaft kappt. Gerade für die Lehrerbildung in einer Gesellschaft, die der persönlichen Entfaltung in sozialer Verantwortung einen hohen Wert zuerkennt, ist dies nicht akzeptabel. Angehenden Lehrerinnen und Lehrern muss das Studium die Erfahrung eröffnen können, sich selbst als Subjekt der eigenen Bildung gerade in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen, Methoden, Prinzipen und Persönlichkeiten der Wissenschaften und Künste zu erfahren. Nur dann werden sie selbst bei ihren Schülerinnen und Schülern lebens- und existenzprägende Bildungsprozesse anstoßen können. Solche Bildungsprozesse, die Schülerinnen und Schüler über das bloße Funktionieren-Sollen hinausführen, stehen allen Menschen zu und sind zudem im Interesse aller und der Gesellschaft als Ganzer. Mit solchen Bildungsprozessen kann letztlich sogar der Erfolg berufsorientierter Ausbildungsprozesse verbessert werden, um die sich die bildungsökonomische Sicht auf das Bildungswesen derzeit so ausschließlich sorgen zu müssen meint. (…)

zur Stellungnahme von Prof. Dr. Ulrich Heinen, Bergische Universität Wuppertal

Hervorhebungen im Fettdruck bei allen Stellungnahmen durch Schulforum-Berlin