Archiv der Kategorie: Schule und Unterricht

Lehrer müssen Autoritäten sein – nicht autoritär

Wissen, wo es lang geht

Wer in den Lehrerberuf startet, ist meist noch jung – darf sich aber nicht mit den Schülern verbrüdern oder ihr Kumpel sein wollen. Nur ausgestattet mit einer gesunden Autorität, können Lehrer ihren Auftrag erfüllen: Heranwachsenden Orientierung auf dem Weg ins Leben zu geben.

Peter Maier, Gymnasiallehrer und Mentor beleuchtet die Hintergründe

Schüler brauchen Klarheit und Orientierung

Zu einer menschlichen und lebendigen Pädagogik gehört es, als Lehrer klar und konsequent zu sein, selbst wenn die Schüler dies vordergründig als garstig und abweisend empfinden sollten. Es ist wohl die pädagogische Kunst schlechthin, als Lehrer einen klaren Weg zu finden zwischen echter Autorität (Ausstrahlung) und autoritärem Gehabe. Schüler besitzen dafür empfindliche Sensoren und können durchaus unterscheiden, ob diese Ausstrahlung des Lehrers überzeugend oder nur vorgespielt ist.

Sie wünschen sich zu Recht einen Lehrer mit echter Autorität, der sie beachtet, liebt, ernst nimmt, fördert, unterstützt und den sie gleichzeitig respektieren können. Auch sollte er neben fachlichem Wissen echte Empathiefähigkeit besitzen. Gleichzeitig erwarten gerade Jungs, dass ein Lehrer sich durchsetzen und überzeugend Grenzen setzen kann, falls diese von der Klasse oder von einzelnen Schülern in Frage gestellt werden. Indem Heranwachsende die Autorität des Lehrers testen, loten sie zugleich aus, wie weit sie selbst gehen können. Dies gehört zur Pubertät im Allgemeinen und zum „Spiel“ des Unterrichts zwischen Schülern und Lehrern im Besonderen.

Der Lehrer muss Grenzen setzen können

Die Grundlage für einen guten (Fach-) Unterricht ist eine geklärte Beziehung zwischen den einzelnen Schülern, der ganzen Klasse und dem Lehrer. Beide Ziele des Bildungskanons – die Wissensvermittlung und die gleichzeitige Begleitung der Schüler bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung – können nur erreicht werden, wenn der Grundsatz „Erziehung durch Beziehung“ konkret Wirklichkeit wird. An dem Lehrer liegt es, dass sich innerhalb der Schulstrukturen ein pädagogischer Raum öffnet, in dem Fachunterricht stattfinden, die einzelnen Schüler individuell gefördert und ein möglichst gutes Arbeitsklima herrschen kann.

Eine Grundvoraussetzung dafür ist jedoch, dass der Pädagoge selbst im Tiefsten seiner Persönlichkeit erwachsen geworden ist. Nur dann kann er die „Königsaufgabe“ erfüllen, die mit seinem Beruf verbunden ist: seinen Schülern Orientierung geben, ihnen ein Vorbild bei ihrer eigenen Persönlichkeitsentfaltung zu sein und sie dabei kompetent zu begleiten. Zu dieser Rolle gehört auch die Fähigkeit, einzelnen Schülern oder ganzen Klassen [Klassengemeinschaft] klare Grenzen setzen zu können.

Das Erwachsenwerden erfordert Begleitung und Orientierung

Manche Schüler schreien förmlich danach, durch den Lehrer solche Grenzen zu erleben, weil sie sie zu Hause vermissen – sei es, weil ihre Eltern überfordert oder selbst noch nicht ganz erwachsen sind; weil ihre Eltern aus falsch verstandener Liebe zu viele Zugeständnisse machen oder sie es schlicht versäumt haben, ihnen respektvolles Verhalten anzuerziehen. […]

Lehrer müssen Autoritäten sein – nicht autoritär

Kuschelpädagogik ist besonders in Jungenklassen der falsche Ansatz, wenn klare Ansagen und harte Grenzziehungen erwartet werden. Die Schüler haben es verdient, dass diese Grenzen vom Lehrer auch gesetzt werden.

Es ist eine verständliche, oft aber eine falsche Haltung, sich als Lehrer von den Schülern auf der Nase herumtanzen zu lassen, nur um sich bei ihnen ja nicht unbeliebt zu machen. Genau das Gegenteil ist meist der Fall: Die Schüler verlieren den Respekt vor dem Lehrer.

Es sollte nicht das Ziel der Pädagogen sein, von den Schülern geliebt zu werden oder sich mit ihnen gar zu „verbrüdern“. Diese wollen in der Regel gar keinen Kumpel als Lehrer. Sie wollen ihn vielmehr respektieren können als ein erwachsenes Gegenüber, an dem sie sich orientieren und reiben können, der sie ernst nimmt, auch indem er Verstöße ahndet oder Konsequenzen zieht, wenn über die Stränge geschlagen worden ist.

Als Lehrer trage ich die Verantwortung für den Unterricht und für die mir anvertrauten Schüler. Darum ist es meine Pflicht, stets „Chef/in im Ring“ zu bleiben – in meiner inneren Autorität und auch wörtlich gesehen im Klassenzimmer.

Echte und verantwortliche Liebe des Lehrers zu seinen Schülern kann daher auch heißen, konsequent zu sein, klare Grenzen zu setzen und auf deren Einhaltung zu bestehen. Auch dies gehört meiner Ansicht nach zu einer wirklichen Pädagogik des Herzens. Es ist gut, neben dem lehrerzentrierten Unterricht viele andere Unterrichtsmethoden zur Verfügung zu haben und zu beherrschen: Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Projektarbeit usw. Dennoch darf ich als Lehrer auch bei diesen anderen Unterrichtsformen niemals die eigentliche Leitung aus der Hand geben.

Aus: Friedrich Verlag, Geschichte lernen, Beilage Bildung + Referendare 2/2018


Siehe auch zu diesem Thema:  Autorität ist ein Grundbedürfnis

F.A.Z. – FEUILLETON, 24.01.2019, Hannah Bethke, Korrespondentin des Feuilletons der F.A.Z. in Berlin

Wer keine Grenzen zieht, übt ungesehen Macht aus. Wo bleibt die gute Pädagogik, die Denken nicht durch Wissen ersetzt und Freiheit nicht mit Vernachlässigung verwechselt?

[…] „Lehrer sind oft nicht gestärkt genug, nein zu sagen“, erzählt eine Berliner Gymnasiallehrerin: „Schüler werden angeglichen, weil Lehrer Angst haben, Leistungen als schlecht zu bewerten.“ Wer nein sagt, dem mangele es nicht an Empathie; im Gegenteil sei es in der Erziehung empathisch, (auch einmal) nein zu sagen. Hier geht es also um notwendige Grenzziehungen in der Pädagogik, um etwas, das der Soziologe Richard Sennett so formuliert hat: „Das Bedürfnis nach Autorität ist elementar“ – nicht in Form von Unterdrückung und Repression, sondern als Instanz, die anleitet, orientiert und Sicherheit gibt. […]

In einem Unterricht, der angeblich der Freiheit der Kinder dienen soll, werden die Schüler beim Lernen allzu oft allein gelassen. Wenn sie Regeln nicht einhalten, werden sie häufig mit einer Zuwendungspädagogik eingelullt, statt Grenzen gezogen zu bekommen. Davon berichtet ein Berliner Grundschullehrer: „Wenn Schüler Mist bauen, unterbinden viele Lehrerinnen das nicht, sondern gehen zu den Schülern und sagen ganz freundlich: ,Ach Mensch, was ist denn bloß mit dir? Irgendetwas stimmt doch mit dir nicht, meinst du nicht auch? Lass uns doch mal gemeinsam ganz in Ruhe darüber reden‘.“ Das sei eine viel größere Machtausübung, als klar zu sagen, „bis hierhin und nicht weiter“. Was der Berliner Lehrer hier beobachtet, hat eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Zauberformel der (Leistungs-)Gleichheit, die nur zu haben ist, wenn die Anforderungen nach unten geschraubt und dadurch alle gleich gut werden: Unter dem Diktum des antiautoritären Lernens und Unterrichtens wird Autorität ausgeübt – und das ist sicher nicht die Art von Autorität, die Sennett als elementares Bedürfnis erkannt hat. Aus:  F.A.Z. – FEUILLETON, 24.01.2019, Hannah Bethke, Autorität ist ein Grundbedürfnis

Verfehlte Testmethoden in der Schulinspektion

Wichtige Qualitätskriterien werden vernachlässigt

F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 24.01.2019, Rainer Werner

Rainer Werner war Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er ist Verfasser des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“, siehe Bücherliste. Rainer Werner hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

In Deutschland wird inzwischen alles getestet. Vom elektrischen Eierkocher bis zum Seniorenheim werden Waren und Dienstleistungen einer akribischen Prüfung unterzogen und die Ergebnisse in Test-Zeitschriften veröffentlicht. Lange haben sich Bildungspolitiker dagegen gesträubt, die Qualität der Schulen, für die sie die Verantwortung tragen, testen zu lassen. Nach der ersten Pisa-Studie 2001 und den durchwachsenen Ergebnissen deutscher Schüler war das Desinteresse an Schulqualität nicht länger aufrechtzuerhalten. Die Stunde der Schulinspektion hatte geschlagen. Inzwischen gibt es sie in allen Bundesländern. Ein Inspektionsteam aus Lehrkräften, die keinen Bezug zur jeweiligen Schule haben dürfen, besucht und bewertet in regelmäßigen Abständen die Schulen. Doch wie testet man eine Schule?

Große Schulen haben über 100 „Mitarbeiter“ und bis zu 1000 „Kunden“, die jeden Tag anwesend sind und die angebotene Dienstleistung abrufen. Die Schüler erwarten guten Unterricht und bestmögliche Schulabschlüsse, die sie jedoch nur erreichen, wenn die Schule in all ihren Facetten optimal funktioniert. Deshalb werden bei der Inspektion alle Aspekte des Schullebens auf den Prüfstand gestellt: Schulleiterhandeln, innerschulische Kommunikation, (digitale) Ausstattung, Einbeziehung von Eltern und Schülern in Entscheidungsprozesse, Schulklima, programmatische Schulentwicklung und als wichtigstes Kriterium das Kerngeschäft: der Unterricht.

In Berlin gibt es die Schulinspektion seit nunmehr zwölf Jahren. Zwei Durchgänge haben die Berliner Schulen also schon hinter sich. Im „Handbuch Schulinspektion“ finden sich die Bewertungsbögen, die der Jury als Grundlage für die Begutachtung der Schulen dienen. Betrachtet man die Bögen zu „Unterrichtsgestaltung/Lehrerhandeln im Unterricht“, stößt man auf 64 Indikatoren, die zu beobachten und zu bewerten sind. Der Unterrichtsbesuch der Tester dauert 20 Minuten, wobei es egal ist, ob sie den Beginn der Stunde erleben oder mitten in die Stunde hineinplatzen. Zur Begutachtung einer der Indikatoren bleiben dem Tester gerade einmal 18 Sekunden. Wie soll er unter diesen Testbedingungen die Qualität des Unterrichts seriös bewerten können? Und vor allem: Kann man bei solchen Kurzbesuchen den geistigen Prozess einer Unterrichtsstunde erfassen? Kritiker monieren, dass bei dieser Testmethode ausschließlich die auf den ersten Blick beobachtbaren Aspekte, also die Oberflächenmerkmale von Unterricht, erfasst werden, nicht jedoch die Tiefenstruktur, die einem gut geführten Unterricht immer zugrunde liegt.

Unter Tiefenstruktur versteht man das Zusammenspiel von interessantem Lerngegenstand, methodischer Vermittlung und kommunikativem Geschick der Lehrkraft. Es ist die größte Schwäche dieser Testbögen, dass sie fachdidaktische Erwägungen, die den Unterricht prägen, und den pädagogischen Kontext, also die soziale Problematik einer Lerngruppe, nicht zu erfassen vermögen. Wenn drei Tester die Unterrichtsqualität in zwölf Fächern bewerten sollen, urteilen sie überwiegend fachfremd. Ist der Tester ein Mathematiklehrer, werden ihm zwangsläufig die didaktischen Feinheiten in Englisch oder Latein verborgen bleiben. Trotzdem gibt er dem gesehenen Unterricht eine Note.

Im Bewertungsbogen für den Unterricht finden sich die Indikatoren „Innere Differenzierung“, „Selbständiges Lernen“ und „Kooperatives Lernen“. Schaut man sich die Inspektionsberichte Berliner Gymnasien an, stellt man fest, dass sie bei diesen Kriterien häufig nur die beiden niedrigsten Bewertungsstufen „C“ und „D“ zugeteilt bekamen. Für die Schulverwaltung gehören Binnendifferenzierung und Individualisierung zu den „fortschrittlichen“ Unterrichtsmethoden, die das „rückschrittliche“ Unterrichtsgespräch, gern als Frontalunterricht gescholten, ablösen sollen. Die „modernen“ Methoden werden so vehement gefordert, dass nicht mehr darauf geachtet wird, ob sie die Schüler bei einem bestimmten Lernstoff überhaupt zum Lernerfolg führen. Gute Lehrer wissen: Die Unterrichtsmethode hat gegenüber dem Unterrichtsgegenstand immer eine dienende Funktion. Aus der Bauhaus-Architektur kennen wir den Grundsatz „Die Form ergibt sich aus der Funktion“. Ähnlich ist es im Fachunterricht. Die Methode des Unterrichts leitet sich aus dem Lerngegenstand ab und nicht umgekehrt. Sie ist das Instrument, um einen fachlichen Gegenstand so darzubieten, dass ihn junge Menschen, denen das Thema neu ist, verstehen. Wenn ein Deutschlehrer, dem die anspruchsvolle Literatur noch am Herzen liegt, in einer 10. Klasse das Gedicht „Mondnacht“ von Joseph von Eichendorff bespricht, wird er es im gelenkten Unterrichtsgespräch erschließen, weil sich bei der Schwierigkeit des Gegenstands Gruppenarbeit oder individuelles Lernen verbieten. Mit dieser fachdidaktisch gebotenen Methode wird sich der Lehrer beim Tester aber Strafpunkte einhandeln, weil er eine von der Schulbehörde wenig erwünschte Lernmethode gewählt hat. Wird eine Methode verabsolutiert, grenzt man Inhalte, die dem Methoden-Diktat nicht gehorchen wollen, aus – zum Nachteil der Schüler. Wie weit sich didaktische Zwänge von der schulischen Wirklichkeit entfernen können, zeigt die ironische Aussage des Direktors eines renommierten Berliner Gymnasiums. In einem Brief an die Eltern schrieb er sinngemäß, seine Schule schneide in allen Bereichen blendend ab: bei Vera, beim Mittleren Schulabschluss, beim Abitur, bei Wettbewerben und bei „Jugend forscht“. Leider erzielten die Lehrkräfte diese Erfolge laut Inspektionsbericht mit der „falschen“ Unterrichtsmethode.

Noch ein weiterer Aspekt wird von den Befürwortern des selbständigen Lernens gern übersehen. Von dieser Lernmethode profitieren in erster Linie die leistungsstarken Schüler, weil sie sich gut organisieren können. Schon vor Jahren warnten Didaktiker vor der Illusion, lernschwache Kinder könnten von heterogenen Lerngruppen lernen, wenn man nur das Lernen differenziert. Ihrer Meinung nach benachteiligen die „modernen“ Lernmethoden vor allem Kinder aus bildungsfernem Milieu, weil diese den „direkt angeleiteten Unterricht“, das vom Lehrer gelenkte Gespräch, benötigen. Da das nur in relativ homogenen Lerngruppen funktioniert, wäre die in Berlin verpönte Fachleistungsdifferenzierung dringend geboten. Der Soziologe Hartmut Esser hat erst vor kurzem durch Auswertung eines umfangreichen Datensatzes nachgewiesen (F.A.Z. 15. November 2018), dass leistungsschwache Schüler in heterogenen Lerngruppen benachteiligt sind. Wenn es die Berliner Schulverwaltung mit der Bildungsgerechtigkeit ernst meint, sollte sie an den Integrierten Sekundarschulen die Differenzierung nach Leistungsgruppen zur Pflicht machen.

Wenn man Schulqualität misst, darf man auf keinen Fall die Lernergebnisse der Schüler außer Acht lassen. Die Schulinspektion müsste also die Ergebnisse der letzten Pisa-Studie schulbezogen auswerten und die Ergebnisse der Vergleichsstudien Vera-3 und Vera-8 in Deutsch, Englisch und Mathematik einbeziehen. Auch das Abschneiden der Schüler beim Mittleren Schulabschluss (MSA) und beim Abitur müsste in die Bewertung einfließen. Ein starkes Indiz für Schulqualität ist auch die Zahl der Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen. All dies misst die Berliner Schulinspektion nicht. Sie lässt damit den wichtigsten Beleg für Schulqualität, die Leistungen der Schüler, völlig außer Acht. Leidtragende dieses Versäumnisses sind die Schulen, die sich den Herausforderungen einer schwierigen Schülerschaft stellen und sie mit originellen, manchmal auch unorthodoxen pädagogischen Methoden meistern. Ihre Didaktik muss, weil sie nicht in das Raster der Schulinspektion passt, mit Abwertungen rechnen. „Leistung ist unwichtig“, sagte der Leiter einer Sekundarschule. Die Berliner Schulverwaltung sollte die Bewertungsbögen der Schulinspektion einer grundlegenden Revision unterziehen. Dabei sollte das Ziel des Unterrichts – gute Schülerleistungen – im Vordergrund stehen, nicht der Weg, den die Schulen dorthin beschreiten.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zum Artikel und seiner Website „Für eine gute Schule“

Smartphones und Apps haben bis heute keine realen Schulprobleme gelöst

Digitale Medien gehören nicht in die Grundschule, davon ist Digital-Kritiker Prof. Dr. Gerald Lembke überzeugt.

Im Interview mit Andreas Müllauer bemängelt er die „unsinnige“ Digitalisierung deutscher Klassenzimmer und fordert gezieltere Investitionen im Bildungsbereich.

„BEGEGNUNG– Deutsche schulische Arbeit im Ausland“, 2-2018, Andreas Müllauer

Prof. Dr. Gerald Lembke ist Studiengangsleiter für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Mannheim und Präsident des Bundesverbands für Medien und Marketing. Lembke ist Mit-Initiator des Bündnisses für humane Bildung, das sich für einen altersangemessenen und differenzierten Einsatz von analogen wie digitalen Lehr- und Lernmedien im Unterricht einsetzt.

Herr Prof. Lembke, Sie fordern, dass die Computer „raus aus der Schule“ sollen. Wieso? 

Man muss differenzieren. Ich sage nicht grundsätzlich raus aus allen Schulformen, das wäre Irrsinn. Sondern ich sage: Raus aus den Grundschuljahren und den vorherigen Kita-Stufen. Für den Lernprozess gibt es hinreichend wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass der Einsatz digitaler Medien in den Altersgruppen von sechs bis ca. zwölf Jahren den Lernerfolg nicht fördert. Da muss man sich fragen, ob die Milliarden für digitale Medien in den unteren Schulformen tatsächlich richtig investiert werden. Man sollte dieses Geld ab der ca. 6. Klasse und aufwärts weiter verdichten, um im Hinblick auf Lehrerbildung und fachdidaktische Bildung mehr Nutzen für die Kinder und Jugendlichen zu erzeugen.

Andererseits haben deutsche Jugendliche in puncto Medien- und Digitalkompetenz noch Aufholbedarf, das besagen verschiedene Studien. Wäre ein früher mediengestützter Unterricht dementsprechend nicht sinnvoll? 

Man denkt, dass der frühestmögliche Einsatz die Medienkompetenz erhöht, aber es wird nur eine Anwendungskompetenz erhöht. Die Kinder sind aufgrund ihrer kognitiven und neurophysiologischen Entwicklung nicht in der Lage, mit diesen Medien effektiv und zielgerichtet im Lernprozess umzugehen. Wenn die aktuelle Studienlage länderübergreifend zeigt, dass dieKinder noch nicht einmal richtig lesen, rechnen und schreiben können, halte ich es persönlich für wichtiger, diese originären Fähigkeiten zu erlernen und auf Tablets zu verzichten. Kinder lernen vornehmlich durch Erfahrungen aus der realen Welt. Wenn sie durch schulische Hilfe dazu gebracht werden, sich mehr in den virtuellen Welten zu bewegen, wo sie keine realen Erfahrungen machen können, dann halte ich das für die persönliche und kognitive Entwicklung für kontraproduktiv.

Wie stehen Sie zum angedachten Digitalpakt zwischen Bund und Ländern, der von der ehemaligen Bildungsministerin Johanna Wanka initiiert wurde? 

Eigentlich ist er eine Mogelpackung. Der Digitalpakt sollle letztendlich die länderspezifischen Entscheidungen im Bundesbildungsministerium zentralisieren. Er sieht in der inhaltlichen Ausgestaltung vornehmlich eine technische Ausstattung vor. Das heißt, man möchte mit den Investitionen die Schulen mit Technik, W-LAN, Computern und Tablets ausstatten. Im Kern verfolgt die Regierung damit eine Strategie des frühestmöglichen Heranführens an die digitalen Medien, ohne wissenschaftliche Erkenntnisse zu besitzen, ob diese Geräte tatsächlich den Lernerfolg und die Entwicklung von Kindern positiv fördern. 

Wo sollen Jugendliche Medienkompetenz lernen, wenn nicht in der Schule?

Ich sage ja nicht, dass man die nicht in der Schule erlernen soll. Ich bin dafür, dass die finanziellen Mittel des Bundesbildungsministeriums nicht in die Grundschulen in Form von unsinniger Hardware gepumpt werden sollen, sondern in die weiterführenden Schulen – dort aber konzentriert. Ich kann mir prima vorstellen, dass man beispielsweise ab der 6. Klasse themenspezifische Technik-Räume einsetzt, um Schüler in Arbeitsgruppen an speziellen Themen experimentieren zu lassen, um sie an diese Themenfelder heranzuführen. Zum Fünf-Milliarden-Paket der ehemaligen Ministerin Wanka: Sie wollte für jede Schule in einer Laufzeit von drei Jahren pro Jahr umgerechnet 25.000 Euro bereitstellen. Davon bekommt man doch nicht einmal Computer für jede Schule. Ich plädiere dafür: Lasst den Kindern in den frühen Jahren die reale Welt, denn da werden sie sich ohnehin entwickeln. Verbessern wir lieber den Unterricht durch High-Tech-Labore in den späteren Jahren.

Wie würde für Sie der perfekte Unterricht aussehen, um junge Menschen auf die digitalisierte Welt vorzubereiten? 

Ich plädiere für einen altersgerechten Einsatz: Wenn die Jugendlichen in der Schule mit digitalen Medien konfrontiert werden, um sie dann auch tatsächlich für Projektarbeiten einzusetzen, finde ich das absolut klasse. Das muss aber altersabhängig und in Abhängigkeit von ihrer kognitiven und persönlichen Entwicklung geschehen. Wir sehen, dass Spielsucht und Internetsucht nach der aktuellen medizinischen Studienlage insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren sehr hoch ausgeprägt sind. Man kann also nicht automatisch davon ausgehen, dass das Vorhandensein eines Computers oder eines Smartphones zu einer höheren Medienkompetenz führt. Ich plädiere dafür, dass man einen gesunden Ausgleich zwischen realer und virtueller Welt findet. Es spricht nichts dagegen, wenn man in der 9. Klasse eine Projektarbeit anfertigt, dafür das Smartphone zur Hand nimmt und die Arbeit beispielsweise in einer Cloud mit seinen Mitschülern teilt. Wichtig ist dabei die fachdidaktische Begleitung. Ich möchte nicht als Lehrer in einer Schule stehen, wo die Kinder den ganzen Vormittag nur auf dem Handy herumspielen. Aber ich sollte sie so früh wie möglich in Präventionsprogrammen über die Risiken aufklären und später über die Sinnhaftigkeit von Digitalmedien sprechen. Momentan gibt es aber nur eine Chancendiskussion: „Wir müssen über die Chancen von Smartphones aufklären“, heißt es. Das machen die Kids aber schon selbst, sie nutzen die Chancen, sieben Stunden am Tag im Durchschnitt. Ist das etwa zu wenig Zeit täglich? Insofern muss mir erstmal jemand erklären, warum diese Geräte vom Steuerzahler finanziert in die Schule sollen und die Lehrer nun das Fehlverhalten auslöffeln sollen. Deswegen sollte man das klar in Form von Präventionsprogrammen in alle Schulformen integrieren. 

Welche Rolle spielen die Lehrkräfte, um die Schüler fachdidaktisch adäquat zu begleiten?  

Ich denke, die Herausforderung bei den Lehrkräften ist, dass sie von Fachpädagogen zu Fachdidaktikern werden. Fachdidaktik heißt in diesem Fall, dass man sich fragt: Welche Rolle spielen in der Auswahl der pädagogischen Mittel die neuen digitalen Medien? Eine aktuelle Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bestätigt: Unterricht wird allein durch das Vorhandensein digitaler Medien nicht besser. Aber die Studie besagt auch, dass sehr guter Unterricht durch den Einsatz digitaler Medien noch etwas besser werden kann. Es geht weniger darum, alle Lehrer im Hinblick auf die digitale Entwicklung zu Digital-Lehrern oder zu Digital-Fachdidaktikern zu entwickeln, sondern Lehrer dahin zu leiten, dass sie ihren Unterricht besser machen. Denn nur ein sehr guter analoger Unterricht bietet die Chancen eines sinnvollen Digitaleinsatzes. Auf dem Weg dorthin brauchen Lehrer aber nicht die digitalen Medien, sondern eine gehörige Portion Selbstreflexion und Entwicklungsmotivation. Was zurzeit passiert, ist aber genau das Gegenteil. Man haut die Klassen in der Erwartung mit Technologien voll, dass jetzt alles besser werde, die pädagogischen Probleme gelöst wären – und das wird nicht passieren. 

Können herkömmliche Unterrichtsmaterialien und -methoden alles leisten, was digitale Geräte im Unterricht beitragen könnten? 

Digitale Geräte sind immer Mittel zum Zweck. Um Programmieren zu lernen, bedarf es zunächst keines Computers. Da müssen Logik und Algorithmen verstanden werden. Das ist ganz viel Theorie, die man im Kopf kognitiv entwickeln muss. Erst in der späteren praktischen Anwendung ist dann ein Computer natürlich hilfreich. Wenn es darum geht, die reale Welt zu gestalten, bin ich dafür, Unterrichtsprobleme mit Methoden der realen Welt zu lösen. Smartphones und Apps haben bis heute keine realen Probleme gelöst. Das muss mir erstmal jemand beweisen. 

Würden Sie sagen, dass die Diskussion um den Einsatz digitaler Medien in der Schule eher ideologisch als didaktisch geprägt ist? 

Ja, vorwiegend ideologisch. Es geht überhaupt nicht um die Kinder, den Lernerfolg oder die individuelle Entwicklung. Das spielt überhaupt keine Rolle. Es geht seitens der Politik ausschließlich um Lobby-Interessen. Das finde ich sehr dramatisch. Wir erleben in der Diskussion um das sogenannte digitalorientierte Lernen zwei Lager: Ein Lager, das keine Risiken sieht und nur Chancen sowie ein Lager, das sowohl die Risiken als auch die Chancen sieht. Und ich gehöre zum zweiten.

Das Smartphone hat das Leben von Milliarden Menschen in den letzten zehn Jahren mehr verändert als kaum eine technische Neuerung zuvor. Viele sehen die positiven Seiten, wenige machen sich Gedanken um die negativen Auswirkungen für unser Denken, Fühlen und Handeln, unsere Gesundheit und unsere Gesellschaft.

„Das Bildungswesen vor dem Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen schützen“

„Der Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer ist voll entbrannt.“

BEGEGNUNG  – Deutsche schulische Arbeit im Ausland, 2-2018, S. 50-52

Kinder und Jugendliche sind die konsumkräftigste und beeinflussbarste Zielgruppe. Gleichzeitig sind die Kommunen bei steigenden Schülerzahlen seit Jahren finanziell überbelastet. Prof. Dr. Tim Engartner erklärt im Gespräch mit Stefany Krath, wie man das Bildungswesen vor dem Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen schützen muss.

Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt. Zudem ist er Sprecher der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft.

Herr Prof. Engartner, Sie haben einmal gesagt, Deutschland entwickle sich vom Land der „Dichter und Denker“ zum Land der „Stifter und Schenker“. Was meinen Sie damit?

Ich bezog mich damit auf den Zeitgeist, dem wir in Schulen und Hochschulen, aber auch in außerschulischen Bildungseinrichtungen mehr und mehr erliegen. Oskar Negt hat einmal gesagt, wir leben im Zeitalter der „Verbetriebswirtschaftlichung“. Wir gehen dem Humboldtʼschen Bildungsideal immer seltener nach, sondern zielen stattdessen auf die Verwertbarkeit sowie die Drittmittelfähigkeit von Bildungsaktivitäten. Das führt leider auch dazu, dass vielfach „Stifter und Schenker“ in Anspruch genommen werden, denen man nicht immer ein redliches Interesse nachsagen kann. Ich rede nicht von etablierten Forschungsprogrammen, sondern von privatwirtschaftlichen Stiftungen. Mehr und mehr Schulen, auch Auslandsschulen, sind darauf bedacht, Kooperationen mit privaten Wirtschaftsunternehmen einzugehen. Das wird oftmals verquer dargestellt unter dem Schlagwort „Öffnung von Schule“.

Leider ist das Ideal der Berufsorientierung oft der Wegbereiter für Kooperationen, gerade auch mit privaten Experten, die sich seit etwa einem Jahrzehnt in die Schulen drängen. Wirtschaftsvertreter aus Banken und Versicherungen sind da besonders aktiv. Sie versuchen, den durch die Finanz- und Wirtschaftskrise entstandenen Reputationsschaden auszugleichen. 16 der 20 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland produzieren Unterrichtsmaterialien. Der Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer ist somit voll entbrannt.

Was sind die Auslöser dieser Entwicklung?

Ich würde behaupten, dass es dafür vier Gründe gibt. Der erste Grund ist die chronische Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte. Nicht selten bröckelt in den Schulen der Putz von den Wänden, fallen Deckenelemente auf den Klassenzimmerboden oder sind Turnhallendächer undicht. Das ist das größte und sicherlich triftigste Argument für die Wegbereitung des Lobbyismus.

Der zweite Grund liegt in der wachsenden Zahl von Lehrkräften, die ihre Unterrichtsfächer nicht grundständig studiert haben, sondern fachfremd unterrichten, insofern nicht sensibel sind für tendenziöse Unterrichtsmaterialien. Drittens hat sich das Bildungsverständnis gewandelt: eine Abkehr von theoriegesättigtem, langlebigem Wissen hin zu funktionalem Wissen, das unmittelbar verwertbar ist. Das Verlangen gibt es auf Seiten der Schüler und leider auch auf Seiten der Studierenden.

Was verstehen Sie unter funktionalem Wissen?

Das ist Wissen, das eine unmittelbar greifbare Funktion erfüllt. Dabei ist das Wissen über Steuererklärungen, Mietverträge und Versicherungen kein Wissen, das es in der Schule zu vermitteln gilt. Für die Steuererklärung sind Steuerberater zuständig. Für Mietverträge interessiere ich mich, wenn ich eine Wohnung beziehe. Und über Versicherungen denke ich nach, wenn ich den ersten Job habe. Das ist Wissen, das außerhalb des schulischen Regelkontextes – sprich: auf informellem Wege – erworben werden kann und soll. Man weiß: Je konkreter Wissen ist, desto vergänglicher ist es auch. Je abstrakter Wissen ist, desto länger ist seine Halbwertszeit.

Sie sprachen von vier Gründen.

Ein viertes Motiv für die Wegbereitung ist darin zu sehen, dass Unternehmen aus den Daten der Werbepsychologie erkannt haben, dass Bildungslobbyismus ein extrem attraktives, lukratives und dauerhaft zu bestellendes Feld sein kann.

Wo sehen Sie denn die Grenzen zwischen Werbung und Sponsoring?

Die würde ich zunächst mal als fließend beschreiben. Unmittelbare Werbung zielt auf Produkt-, Marken- oder Anwerbung. Das Anwerben und Bewerben fällt unter den Aspekt der Werbung. Es gibt nicht wenige Schulen, die das mittlerweile verboten haben. Sponsoring ist einfach die Zuwendung in Form von Geld. Es gab einen Fall in Niedersachsen, wo von ExxonMobil 10.000 EUR im Jahr an Schulen flossen. ExxonMobil ist in Niedersachsen gestoppt worden, weil dort Unternehmensvertreter in die Schulen kamen und für die Energiegewinnung mittels Fracking warben – wohl nicht zufällig in einer Gegend, die auf Fracking setzt.

Wen sehen Sie in der Bringschuld?

Vater Staat! Wir brauchen dringend eine Neujustierung der Steuer- und Abgabenarchitektur. Durch den Wettbewerb in der EU erleben wir seit Jahren einen Rückgang der Gewerbesteuer. Die Kommunen haben zusätzliche Lasten zu tragen wie erhöhte Sozialausgaben im Zuge der Hartz-IV-Reformen. Jetzt soll noch die Bekämpfung der Abgaslast im Zuge des Dieselskandals von den Kommunen gestemmt werden. In Nordrhein-Westfalen unterliegt jede zweite Gemeinde dem Haushaltssicherungsgesetz. Selbst über einst wohlhabenden Städten wie Köln und Berlin kreist der Pleitegeier. Deutschland gibt immer noch nur 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Bildung aus. Das ist deutlich weniger als der OECD-Durchschnitt. Und wenn wir uns nicht nur als Bundesrepublik, sondern auch als Bildungsrepublik verstehen, dann müssen wir dringend mehr investieren.

Sie kritisieren offen die Entrepreneurship Education an Schulen, die eine unternehmerische Einstellung bei Jugendlichen fördern soll. Erlangen junge Menschen durch solche Lehre nicht auch ein besseres Selbstbewusstsein oder mehr Weitblick?

Unterrichtszeit kann nur einmal verausgabt werden. Gerade unter den Vorzeichen von G 8 und vor dem Hintergrund einer fixen Stundentafel können Sie nicht beliebig neue Inhalte, Interessen und Schulfächer einführen. Das geht immer zu Lasten anderer Bildungsaspekte. Entrepreneurship Education ist ein klassisches Ergebnis gezielter Lobbypolitik. Neun von zehn Schülern werden später als abhängig Beschäftigte arbeiten. Anstatt Berufs- und Studienorientierung, die jetzt in Baden-Württemberg als eigenständiges Fach eingeführt worden ist, würde ich einen Unterricht begrüßen, der Kinder und Jugendliche – gerade auch Hauptschulabsolventen – unter anderem darauf vorbereitet, dass die Strukturen des Arbeitsmarkts sie unter Umständen erst mal arbeitslos sein lassen. Dass sie mit den Gefahren des Scheiterns und einer befristeten Beschäftigung umgehen lernen. Damit man weiß, das sind keine individuellen Versagensängste, die da eine Rolle spielen sollten, sondern auch ein Stück weit Kollektivschuld, wenn man auf dem Arbeitsmarkt keinen Erfolg hat. Das halte ich für sehr viel wichtiger als Entrepreneurship Education oder Berufsorientierung.

Müssen Abiturienten denn nicht wissen, was die Eurokrise ist?

Das gehört doch zur Allgemeinbildung. In der Tat bin ich ein glühender Befürworter ökonomischer Bildung. Die Frage ist nur, welche ökonomische Bildung wir wollen. Die von Ihnen angesprochene Eurokrise wird auch schon jetzt im sozialwissenschaftlichen Unterricht beleuchtet. Schon deshalb ist es abwegig, ein Pflichtfach Wirtschaft einzuführen. Zudem laufen wir Gefahr, dass dort Inhalte zum Tragen kommen, wie sie vorhin genannt wurden: Entrepreneurship Education und finanzielle Bildung. Wissen um Aktien und Anleihen, Devisen und Derivate, Fonds und Futures. Das ist eine verkürzte Sichtweise auf ökonomische Sachverhalte. Steuerpolitik, Steuersystematik, was sind direkte und indirekte Steuern? Warum zahlen wir Steuern? Warum sind Steuern im Gegensatz zu Abgaben nicht zweckgebunden? Das sind zentrale sozialwissenschaftliche Fragen. Aber nicht die Frage, wie ich meine Steuererklärung mache. Wenn wir in Form eines Separat- oder Partikularfachs Wirtschaft zu viel ökonomische Bildung in die Schulen transportieren, werden die Schüler nicht ökonomisch gebildet, sondern ökonomistisch verbildet. Das können wir in einer Welt, die schon jetzt von allem den Preis und von immer weniger den Wert kennt, nicht wollen.

Im Bundestagswahlkampf war Schulpolitik ein großes Thema, Lobbyismus kam aber wenig zur Sprache. Wohin geht der Trend?

Ich glaube, es gibt in Deutschland noch kein gewachsenes Bewusstsein für die Gefahren, die in Schulen mit Lobbyismus verbunden sind. Wir haben bekanntlich eine auf zehn Jahre lautende Schulpflicht. Das heißt, die Kinder sind Schutzbefohlene. Der ‚Schonraum Schule‘ darf somit nicht von privatwirtschaftlichen Interessen geentert werden. Leider geben sich die Lehrkräfte oft dem Irrglauben hin, sie könnten das mit ihren mündlichen Beiträgen im Unterricht korrigieren, was an unlauteren Materialien dort Eingang gefunden hat. Oder sie glauben, dies mit gegensätzlich gelagerten Unterrichtsmaterialien, die sie für die Hausaufgaben mitgeben, auffangen zu können. Eltern geben sich häufig dem Irrglauben hin, sie könnten das mit Tischgesprächen am Abend auffangen. Aber mittlerweile sehe ich einen Silberstreif am Horizont, denn das politische Bewusstsein für die Problematik wächst. Es gibt in 13 von 16 Bundesländern eine Prüfung von Schulbüchern, bevor sie für den Schulunterricht zugelassen werden. Diese Prüfverfahren gelten leider für die Materialien privater Content Anbieter nicht. Mittlerweile pochen jedoch die ersten Bundesländer darauf, dass diese Materialien ein Prüfverfahren durchlaufen, wie es für Schulbücher üblich ist. Ansonsten hängt die Entwicklung maßgeblich davon ab, ob wir die Steuerpolitik so gestalten, dass die Bildungsrepublik Deutschland den Namen Bildungsrepublik verdient. Eine weitere Steuersenkungspolitik können wir uns mit Blick auf das Bildungswesen nicht erlauben.
Wir investieren immer noch mehr Geld ins Militär als in Bildung. Das ist schlicht skandalös.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: https://www.auslandsschulwesen.de/SharedDocs/Downloads/Webs/ZfA/DE/Publikationen/BEGEGNUNG/BEGEGNUNG_2018_2.pdf?__blob=publicationFile&v=5

zum Thema siehe auch die Website:  BildungsRadar – Ökonomisierung der Bildung unter Beobachtung

Lehrerfortbildungen: „Allerlei Nutzloses wie Skurriles“

Lehrerfortbildung – Zwischen Spreu und Weizen trennen

Lehrerfortbildungen werden zu sehr vielen Themen angeboten, bei vielen lässt sich der Effekt für einen besseren Unterricht jedoch nicht erkennen.

FAZ, Bildungswelten, 18.10.2018, von Michael Felten

Wie Lehrer unterrichten, das weiß man im Groben. Aber wie sie sich fortbilden, wie sie ihre Kenntnisse auffrischen – fachlich, pädagogisch, organisatorisch -, das entzieht sich dem öffentlichen Blick weitgehend. Schaut man dennoch hin, stößt man auf allerlei Nutzloses wie Skurriles.

Grundschullehrerin Jana etwa nimmt an einem mehrtägigen Lehrgang teil, Thema „Kommunikation in Konfliktsituationen“. Kürzlich hatte sie doch einen schwierigen Mobbingfall in der 4. Klasse, und im Kollegium brodelt es ja ohnehin dauernd. Weich beginnt der Fortbildungstag mit fernöstlichen Sphärenklängen, dann wird die Zeit mit Kennenlernspielchen vertrödelt; später debattiert man das Thema zwar in Kleingruppen an, werden im Plenum typische Konfliktthemen gesammelt, Vermutungen über Lösungsstrategien angestellt, einige Fälle im Rollenspiel in Szene gesetzt und diskutiert. Aber alles bleibt im Vagen, es gibt keinerlei Input von Experten – am Schluss allerdings lange Evaluationsbögen.

Ein anderes Beispiel, Studienrat Jochen: Auf Drängen seiner Schulleitung besucht er eine der obligatorischen Angebote zur Schulentwicklung – vier achtstündige Tage innerhalb eines Halbjahres. Die Fortbildner stellen sich zunächst vor, referieren kurz, dass Lehrer zukünftig nur noch Lernbegleiter sein könnten, und verteilen Fragebögen (Dauer 1,5 h). Danach sollen die Teilnehmer ihre Schule in einem Plakat darstellen (2 h). Nachmittags gibt’s dazu einen gallery walk, so können sich Schulen finden, die zueinander passen (1 h), dies wird anschließend in einer Fragerunde diskutiert (2 h). Als Hausaufgabe soll überlegt werden, wie sich zukünftige Fortbildungsinhalte ins Kollegium transferieren lassen. Diese Innovationen kennt zwar noch keiner, erst recht weiß keiner, ob sie etwas taugen werden – aber niemand fragt, will unangenehm auffallen, gar als altmodisch dastehen.

Bisweilen bilden sich auch ganze Lehrerkollegien fort. Das Programm sucht nicht immer der Schulleiter selbst aus, häufig delegiert er – nicht unbedingt an jemanden, der sich in Schulentwicklungsfragen gut auskennt, ein innovatives Image und flexibles Karrieredenken genügen. Die Schüler bleiben dann einen Tag lang zuhause, und irgendwelche Moderatoren – womöglich ohne jede Unterrichtserfahrung, vielleicht gar „Unterrichtsflüchter“ – präsentieren dem Lehrerkollegium einen bunten Mix aus Selbstverständlichem, Anregendem und Unmöglichem. Und spätestens auf dem Heimweg beschleicht die meisten Teilnehmer das Gefühl, dass die Veranstaltung tatsächlich fort-bildend war – sprich, von ihren eigentlichen Problemen und Bedarfen wegführte. Die gängige Abkürzung für schulinterne Lehrerfortbildung lautet denn auch zweideutig SchiLF.

Oder aber die Veranstaltung hat viele eingelullt. Sie sind so erschöpft vom überfordernden Schulalltag, dass die in der „Zukunftswerkstatt“ breit diskutierte Vision einer „Schule von morgen“ wie ein Heilsversprechen nachhallt: mehr Teamarbeit, mehr Bewegung, mehr Humor, mehr Autonomie, mehr Bauästhetik, mehr Inklusion – nicht zuletzt Musik in den Pausen. Und erst zuhause findet man auf dem Schreibtisch den Brief der Schulverwaltung, der eine Anhebung der Stundenzahl ankündigt.

Schuld an solchen Verirrungen tragen natürlich auch die Kultusministerien – deren Kriterien für Schulqualität sind keineswegs immer der Forschung letzter Schrei. In NRW etwa spielen bei den regelmäßigen Schulinspektionen („Qualitätsanalyse“) die tatsächlichen Schülerleistungen gar keine Rolle, haben nicht-unterrichtliche Faktoren wie „Schulkultur“ oder „Führung und Management“ ein erhebliches Übergewicht, gilt für den Unterricht selbst das unsinnige Paradigma, wonach das beste Lernen selbstgesteuert sei.

Die Frage ist, wie lange wir uns eine solch enorme Verschleuderung von manpower, Schülerlernzeit und Steuergeldern noch leisten wollen. Dabei lässt die Unterrichtsqualität ja vielerorts erheblich zu wünschen übrig. Der jüngste minimale PISA-Aufschwung ist ein Gutteil Augenwischerei: In vielen Bundesländern zeigen sich am Grundschulende, zum Mittleren Schulabschluss, beim Abitur teilweise gravierende Kompetenzdefizite der Schüler – Tendenz steigend. Und bundesweit mangelt es an „Leistungsspitzen“, haben wir ein Übermaß an „Risikoschülern“.

Das liegt eben nicht nur am Lehrermangel. Auch die Professionalität des Lehrpersonals wurde lange vernachlässigt – die Schulaufsicht agierte vielfach ideologisch, die Basis gab sich gerne forschungsskeptisch. Die Folge: vielfach nur mäßig guter, bisweilen durchaus schlechter Unterricht. Das Vorwissen der Schüler wird zu wenig gründlich aktiviert, ihr Feedback zu Stolperstellen kaum eingeholt; es gibt zu selten Angebote für unterschiedliche Niveaustufen, das Lernklima wäre oft ausbaufähig.

Dabei könnten unsere Schüler mehr. Und auch Lehrkräfte wären durchaus fortbildungsinteressiert, halten aber viele Angebote für unsinnig: zu wenig anwendbar, zu wenig langfristig angelegt, zu wenig kollegial orientiert. Das liegt nicht zuletzt an der Armseligkeit vieler bisheriger Reformen: „Schulprogramme und Leitbilder haben Schülern nicht geholfen. Es geht kaum um Unterrichtsverbesserung, und die zwischenmenschlichen Beziehungen werden zu wenig beachtet.“ So das Resümee des Erziehungswissenschaftlers Jörg Schlee.

Psychospielchen und Innovationshuberei tragen eben herzlich wenig dazu bei, wenn man die „Kunst des beybringens“ alltagstauglich modernisieren will. Lehrer brauchen vielmehr solides Handwerkszeug dafür, wie man auch die „Neuen Kinder“ im Klassenverband effektiv unterrichten kann, wie man alltagstauglich der wachsenden Heterogenität Herr wird, wie man „Störenfriede“ entwicklungsförderlich knackt. Der Fall der Berliner Bergius-Schule hat gezeigt, dass Schulen bisweilen ihre Qualität erst dann steigern können, wenn sie sich über indoktrinierende Inspektoren hinwegsetzen.

Nun ist die Wirkung von Lehrerweiterbildung tatsächlich schwierig zu beurteilen. Teilnehmer mögen sich auf einer Veranstaltung wohlfühlen – sie verlief vielleicht unterhaltsam, der Trainer war cool, ein Flirtversuch gelang; ihr Unterricht muss dadurch aber keinen Deut besser werden. Und selbst wenn Lehrer nach einer Veranstaltung mehr fachliches oder methodisches Wissen haben, kann das ja erst der Anfang sein – der praktizierte Unterricht soll schließlich besser werden. Und das zeigt sich letztlich daran, dass die Schüler lieber und nachhaltiger lernen, dass sie solideres Grundlagenwissen erwerben, ihren Horizont erweitern, ihre Sozialität ausbauen.

Dank der Hattie-Studie, dieser weltgrößten Datensammlung über Unterrichtseffekte, kann sich jedenfalls niemand mehr damit herausreden, man könne nicht so genau sagen, welche Lehrmethoden welche Lernwirksamkeit hätten. Die Lehrerkollegien im Lande gehören über diese Befunde nur noch informiert, und diese sind auch gründlich aufzuarbeiten, methodisch wie pädagogisch.

Das aber kommt höchst zögernd voran, anscheinend sind die Klärungen der empirischen Unterrichtsforschung in manchen Amtsstuben nicht gern gesehen. Vielleicht, weil die Botschaft geradezu revolutionär ist: Das Märchen vom selbstgesteuerten Lernen und eigenverantwortlichen Arbeiten etwa wird drastisch dekonstruiert, die Lehrperson hingegen als souveräne, aktivierende und feinfühlige Führungskraft ebenso rehabilitiert wie fokussiert. „Im Zentrum steht ein Lehrer, für den allerdings seine Schüler im Zentrum stehen. Er muss ihr Lernen sehen können, um sein Lehren daran orientieren zu können.“ So die Hattie-Bilanz des Unterrichtsforschers Ewald Terhart.

Nach den antipädagogischen Irrungen der letzten Jahrzehnte dürfte solche Kunde den Lehrberuf deutlich attraktiver machen. Denn das fehlt ganz vielen Lehrer-fort-bildungen: Dass unter den Mühen des Alltags die pädagogische Begeisterung wieder freigelegt wird – für das Bilden und Erziehen überhaupt, für das Faszinierende an Heranwachsenden, für das Spannende an „schwierigen“ Schülern. Die neugegründete, von namhaften Forschern unterstützte „Initiative Unterrichtsqualität“ (IUQ) gibt dazu bundesweit Anstöße.

Außerdem liegt mit dem Programm EMU (evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung) ein kluges, vom Team um den Unterrichtsforscher Andreas Helmke im Auftrag der KMK entwickeltes Instrument vor, wie Lehrkräfte ihre Unterrichtsqualität ohne schulaufsichtliche Bevormundung verbessern können: durch verbindliches, kollegiales, auf valide empirische Kriterien gestütztes Hospitieren. Solch‘ gegenseitiges Besuchen und Kommentieren steigert Hatties Befunden zufolge den Unterrichtseffekt enorm. Kooperation an der Basis scheint bürokratischer, womöglich gar ideologischer Kontrolle weit überlegen.

Doch was soll mit den Hasardeuren in der Lehrerweiterbildung geschehen? Vielleicht sollte man das nach einem Bielefelder Bildungsforscher benannte Dollase-Kriterium anwenden: Jedem Referenten und Moderatoren auferlegen, jährlich einen Monat lang eine schwierige Mittelstufenklasse zu unterrichten – etwa als Vertretungslehrer. So würde sich ganz schnell Spreu von Weizen trennen.

Der Autor ist pensionierter Gymnasiallehrer und arbeitet als unabhängiger Lehrerweiterbildner.

ONLINE oder OFFLINE – Welche Schulen brauchen wir?

Plenum digitale – Vacuum mentale?
Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz zur Digitalisierung
Oktober 2018, Universität Frankfurt/Main [siehe Veranstaltung auf der Seitenleiste]

Der kurze Weg vom digital native zum digitalen Naivling

von Josef Kraus  [1987 bis 2017 ehrenamtlich Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, DL]
Ich werde mich kritisch mit der Digitalisierung von Schule und Unterricht auseinandersetzen. Da ist es angebracht vorwegzuschicken, wie ich es selbst über 20 Jahre hinweg als Direktor an meiner eigenen Schule, einem Gymnasium, mit der Digitalisierung gehalten habe. Ich habe in diesen 20 Jahren an meiner Schule dafür gesorgt, dass sukzessive alle Unterrichtsräume (inkl. Musik- und Kunsträume) online gehen konnten und mit je einem Rechner und Beamer ausgestattet wurden; dass drei sehr große Computerräume eingerichtet wurden; dass für rund 800 Schüler ca. 150 Rechner zur Verfügung standen; dass wir vier Lehrer mit Lehrbefähigung Informatik bekamen. Laptop- und Whiteboardklassen habe ich nicht mitgemacht. Mein 80-köpfiges Kollegium hat es hervorragend verstanden, sog. Kreidezeit und Computerzeit zu vereinen. Und: Ich habe dafür gesorgt, dass meine Schule eine eigene Bibliothek mit einer Grundfläche von 700 m² und mit einem Buchbestand von 45.000 Bänden bekam und dass diese Bibliothek (die zugleich öffentliche Bibliothek wurde) jeden Tag von 7.30 bis 17.00 Uhr geöffnet ist.

Zum Thema

Im Jahr 1647 schrieb Georg Philipp Harsdörfer ein Lehrbuch mit dem Titel „Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugießen“. Daraus ist – auf Kupferstichen sichtbar – der Nürnberger Trichter geworden. Die Suche nach einem solchen war damals und scheint heute erneut ein visionäres Anliegen. Zur Karikatur wird die Suche, wenn Bildungspolitik und Pädagogik nicht wahrhaben wollen, dass Lernen etwas Aktives ist, dass es mit Edutainment/Infotainment nicht getan ist und dass Lernen ohne personalen Bezug nicht geht. Die Flops, die man in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Sprachlabor und mit programmiertem Lernen landete, sollten Beleg genug sein.

Nun ist ein neues pädagogisches Trichterstudium angesagt: das des digitalen Nürnberger Trichters. Der Hype der Digitalisierung soll bereits in der Grundschule, wenn nicht schon in der KiTa, beginnen. Jeder Bildungspolitiker und „Bildungsexperte“, der etwas auf sich hält, inszeniert sich als leidenschaftlicher Befürworter eines Lernens in Laptop- oder Smartphon-Klassen. Mich beschleicht dabei aber das Gefühl, dass „moderne“ Bildungspolitik und Pädagogik damit eher vom eigenen Versagen der letzten Jahrzehnte ablenken will, nämlich ablenken will von einer plump-populistischen Gefälligkeitspädagogik, mit der Bildungsqualität und Abiturquoten immer mehr in ein reziprokes Verhältnis gerieten.

Inszeniert wurde und wird der „digi“-Hype Ganze mit einer Melange aus Alarmismus, Klischees und Visionen, so als sei die Schule des Jahres 2017 immer noch die Schule des 19. Jahrhunderts oder gar der geologischen Epoche der „Kreidezeit“. Rezepte und alarmistische Schlagzeilen lauten dementsprechend: „Das wischende Klassenzimmer“; „Je mehr Tablets, desto höher die Qualität der Bildung“ (Samsung); „Schlaumäuse für 8.000 Kindergärten (!) verschenkt“ (Microsoft). Angesagt sind ferner: didaktische Hyperlinks, Edutainment, Homelearning, interaktive Lernumgebung, just-in-time-knowledge, knowledge-machines, instant-learning, learn-line, Lernanimation, Lern-Software, Multimedia-Learning, multimedialer Lernspaß, Online-learning, Telelearning, Teleteaching, virtuelles Klassenzimmer, usw. Und dann immer wieder, bis hinauf in Abiturprüfungen: PPP-Kompetenz! Power-Point-Präsentation-Kompetenz. Vulgo: betreutes Lesen!

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ich kann solche Schlagzeilen und Wort-Hülsen nicht mehr hören und lesen. Und wenn mir dabei Namen unterkommen wie Bertelsmann Stiftung (Deutschlands oberste Bildungs-, Alarmismus- und Zahlenfetischismus-Gouvernante oder Vodafon-Stiftung, Telekom-Stiftung, Bitkom, Samsung ….. dann weiß ich, dass es hier um ein Milliardengeschäft geht.

Als ob jetzt der neue Adam geschaffen werden könne, ist selbst unter selbsternannten „Bildungsexperten“ der (Aber-)Glaube ausgebrochen, Multimedia eröffne „kaum absehbare Potentiale für die Steigerung der Effizienz des Lernens“. Ganz Kundige, darunter EU-Kommissare, glauben gar erkennen zu können, dass der Schulunterricht, der bislang „hinter verschlossenen Türen“ stattgefunden habe, nunmehr „über elektronische Fenster zur Außenwelt geöffnet“ werden könne. Schöne Visionen, die da heraufziehen – Visionen von einer Schule, in der der Computer für das Kognitive zuständig sein soll und in der sich Lehrer voll auf das Sozial- und Freizeit-Pädagogische konzentrieren könnten. Brave New School. Digitalisierung als unterrichtliches Anabolikum! Ein simpel animistisch-magisches Denken ist das (und damit eine der untersten Stufen der Intelligenzentwicklung laut Piaget!)

Bewegen müsste Pädagogen etwas ganz anderes, etwa die Frage, ob der junge, verkabelte oder w-lan-mäßig vernetzte Multimedia-Mensch ab einem gewissen Stadium des Informationsangebots bzw. -konsums überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, zwischen faktischer Realität einerseits und virtueller, medialer Realität andererseits zu unterscheiden oder ob er nicht – weil Computer ja keine Welt außerhalb der eigenen kennen – bereits einer höchstselektiven „Windowisierung“ von Wirklichkeit ausgesetzt ist. Aldous Huxley jedenfalls hätte seine Freude an solch neuer Welt.

So gesehen, darf und sollte gerade Schule den Mythos der Informationsgesellschaft entzaubern. Von Wissensgesellschaft kann man ja wohl nicht sprechen, weil das ein Euphemismus wäre. Denn es gibt einen essenziellen Unterschied zwischen Information und Wissen. Kurz gesagt: Information wird erst durch Bildung, durch Reflexion zu Wissen veredelt.

Nicht zu Unrecht hat der gute alte Joseph Weizenbaum (1923 in Berlin geboren und dort 2008 verstorben) gerade der Pädagogik ins Stammbuch geschrieben: Die bloße Informationsverarbeitung erleichtere das Durchwursteln, und sie verhindere wirkliche Innovationen. Weizenbaum nennt das „Stagnovation„. Es sei, so Weizenbaum weiter, informationstechnisch eine Fehleinschätzung, dass die Mattscheibe eine große Informationsdichte besitze. Jeder Waldspaziergang habe um Größenordnungen mehr Potential als künstliche Zeichensysteme. Aber den meisten sei die Fähigkeit verlorengegangen, sie zu erschließen, weil es einfacher sei, Technologie einzuschalten, als selbst zu denken.

Und ein Günther Anders (+1992) würde mit Blick auf die digitalen Medien eindringlich vor einer Ikonomanie, vor einer Bildsucht, warnen. Diese Warnung präzisiert Günther Andres in seiner Essaysammlung „Die Antiquiertheit des Menschen“ von 1956 bzw. 1980: Darin belegt er, dass die technische Intelligenz oft die Intelligenz ihrer Erzeuger übertrifft. Folge gerade beim Fernsehen (um wieviel mehr erst bei den digitalen Medien!): „Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wird wirklich.“

Apropos „Ikonomanie“: Sie macht heutzutage vor dem eigenen Bild und zumal vor jungen Leuten nicht halt. Man „postet“ sich. Beta- und Prolo-Promis machen es vor: Jede mit Botox weggebügelte Hautfalte, jedes neue Tattoo und natürlich Tausende an Selfies landen bei Facebook, Instagram und in WhatsApp-Bildanhängen. Soziale Netzwerke nennt man sie. Was aber ist daran sozial, wenn es hier nur um Egophanie, um die Vergöttlichung des eigenen Egos, geht? Selbst zwölfjährige Mädchen tun es. Sie posten sich in Lolitapose und geben Persönlichstes preis. Wenn man, weil man als Schulleiter bei einer Internetrecherche zur eigenen Schule zufällig auf dergleichen stößt, ihre Mütter besorgt darauf anspricht, dass sich ihre Töchter damit zum Objekt von Pädosexuellen machen, erntet man durchaus die giftige Gegenrede: „Wie kommen Sie dazu, meiner Tochter nachzuschnüffeln!?“

Schade, dass es heutzutage keinen Joseph Weizenbaum und keinen Günther Anders mehr gibt.

All diese Skepsis ist kein Anlass zur Maschinenstürmerei. Aber eines scheint vonnöten: Schule sollte hauptsächlich bei einer Kommunikation bleiben, die unmittelbar, personal, sozial und damit human ist.

Ich möchte junge Menschen nicht zu Infokraten getrimmt sehen, die mit Häppchen-Information herrschen oder davon beherrscht werden, sondern die Kommunikation als etwas Menschliches und nicht als etwas Technisches erfahren und praktizieren. Immerhin könnte das Ergebnis multimedialer Vernetzung eine Art Kasper-Hauser-Syndrom sein. Damit wäre man bei einem Punkt angekommen, wo Information Kommunikation tötet, weil sich jeder nur noch das an Information sucht, was er braucht, und nur noch darüber redet.

Die Überwältigung der Wahrnehmung und des Denkens durch Informationsfluten sowie die medial bedingte Isolation könnte außerdem dazu führen, dass Kinder nichts mehr begreifen – „be-greifen“, wie es die Weisheit der Sprache zum Ausdruck bringt, weil sie nichts mehr zum Greifen haben. Schließlich ist ja alles auf dem Bildschirm immateriell.

Der klassische Unterricht im Lehrer-Schüler-Gespräch wird jedenfalls auch zukünftig im Zentrum schulischer Lernprozesse stehen (müssen).

Wofür also „Laptop statt Schulranzen“? Warum „Handys“ in den Schulen? Damit sich Schüler aus dem World Wide Web einen englischsprachigen Zeitungsartikel holen, um ihn sodann mit Hilfe des www-integrierten digitalen Wörterbuches zu übersetzen?

Hierher passt mein Plädoyer für das Buch! Das Buch wird in der Schule schon deshalb das zentrale Medium bleiben, weil es – weitaus mehr als Multimedia – Wissen ohne Verfallsdatum und ohne permanente Aufkündbarkeit per Mausklick anbietet.

Ansonsten sollte nach dem hoffentlich baldigen Abkühlen der überhitzt euphorischen Schulcomputer-Debatte zur Kenntnis genommen werden, dass das, was man an technisch-manuellen Internet-Fertigkeiten braucht, auch von einem Laien in wenigen Stunden erlernt werden kann. Außerdem sollte zur Kenntnis genommen werden, dass laut Untersuchung der Alfred-University in Albany (Kalifornien) internet-interaktive Studenten erheblich häufiger in Prüfungen scheitern als ihre Kollegen, die sich mehr auf das Studium als auf den PC konzentrieren.

Jedenfalls muss Schule aufpassen, dass sie nicht mit einer Sintflut an elektronisch aufbereiteten Informationen einem Tyrannen die Tür öffnet, der sie „vernetzt“, verstrickt, fesselt und ihrer Freiheiten beraubt. Das Buch wäre das geeignete Rettungsboot in dieser Sintflut.

Aber ansonsten? Es mag ja sein, dass junge Menschen heutzutage aufgrund neuer Informationstechniken über mehr Informationen über die Welt verfügen (können) als Voltaire, Kant und Goethe zusammen. Aber dass wir heute klüger seien als unsere Väter, Großväter oder Urgroßväter, das ist doch sehr zu bezweifeln.

Und es mag ja auch sein, dass Hardware und Software unschlagbar sind im Suchen, Speichern, Rechnen. Doch es sind die Menschen, auch die jungen, die unschlagbar sind im Auswählen, im Bewerten und in der Interpretation.

Ein paar Anmerkungen zur Frage der Handy-Nutzung an Schulen:
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