Archiv der Kategorie: Schulpolitik-Bundesländer

„Schreiben nach Gehör“ ist keine Methode, sondern unterlassene Hilfeleistung

„von Raichtuum und Amuut“

Im Dilemma zwischen Wortschatz und Wortwahl, Schreiben und Tippen, Pflicht und Kür.

Sabine Stahl, Auszüge aus: BILDUNGBEWEGT, NR. 27, 3/2015

Profil BildungBewegt, Nr.27, 3.2015

(…) Die Sprache, das Lesen und das Schreiben muten wie ein Triptychon an, in dessen Mitte die Sprache ruht. Jedes einzelne Element ist detailreich, aber erst im gemeinsamen Zusammenspiel erschließt sich das kommunikative Potenzial. (…)

Schreiben zu lernen bedeutet schon rein motorisch betrachtet mehr, als lediglich Buchstaben zu malen oder miteinander zu verknüpfen. Der Prozess ist hochkomplex, anspruchsvoll, zeugt von Rhythmik und erfordert Feinmotorik. Bei der Aneignung der Schrift sind Gehirn und Hand, Kognition und Koordination eng miteinander verbunden. Denn das Erlernen komplexer Schreibbewegungen stellt eine koordinative Höchstleistung dar. Seit Längerem ist bekannt, dass händisches Schreiben Lern- und Behaltensprozesse erleichtert und unterstützt. (…)

Die Reaktionen auf die Nachricht, dass Finnland die Schreibschrift mehr oder weniger aufgeben möchte, reichen von fassungslos bis bestürzt. „Bessere Lesbarkeit, die nur technisch erzeugt wird, taugt nicht als Lernziel in der Schule“, kritisiert der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung vbe, Udo Beckmann, diese Entwicklung. Das PISA-Siegerland Finnland stellt es seinen Grundschulen ab dem Herbst 2016 frei, ob sie die Schreibschrift noch lehren möchten. Die Entscheidung darüber liegt beim persönlichen Wollen jeder einzelnen Lehrkraft. Die Kinder sollen mehr tippen, weil das fließende Tippen auf der Tastatur grundständig gelernt werden soll – quasi als nationale Zukunftskompetenz im digitalen Zeitalter. (…)

[Dagegen berichten US-Forscher] im Fachblatt „Psychological Science“, dass händisches Notieren den bewussten Umgang mit Lerninhalten fördert und damit auch die Verstehens- und Gedächtnisleistung verbessert. Schreiben ist eine Kulturtechnik, die zur gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe und zur Erhaltung einer Kultur notwendig ist. Kulturtechniken werden durch Erziehung, Unterricht und Sozialisation weitergegeben. Techniken müssen geübt werden, um sie zu vervollkommnen. Das ist beim Schreiben nicht anders als beim Sport. Ist es den Kindern tatsächlich nicht zumutbar, komplexe Fertigkeiten zu erlernen? (…)

Wer jetzt den Finger warnend hebt und denkt, die Entwicklung werde an der Bundesrepublik vorbeigehen, den lehrt ein Blick in die Bundesländer eines Besseren. So hat die Hansestadt Hamburg bereits eine Grundschrift eingeführt, die wie eine Variante der Druckschrift aussieht. Auch in Thüringen und in Nordrhein-Westfalen dominiert die Druckbuchstabenschrift. Und dies, obwohl sich Anzeichen mehren, die die positiven Auswirkungen einer verbundenen Handschrift auf das sprachliche Können und die Rechtschreibkompetenz von Kindern zeigen (vgl. SCHEER 2015).

Die Handschrift ist Ausdruck der Persönlichkeit. Sie ist auch ein Zugang zur Identitätsfindung und ein einzigartiger Informationsträger. Dennoch plädieren nicht wenige für die Abschaffung der verbundenen Schreibschrift. Die Argumente lauten: Man wolle es den Kindern nicht unnötig schwer machen. (…) Inzwischen macht sich allerdings zunehmend die Sorge breit, ob gutgemeinte Vereinfachungen möglicherweise mit Nachteilen für die Lernenden verbunden sein könnten.

US-Forscher hatten im vergangenen Jahr in einer Studie festgestellt, dass Lernstoff besser memoriert wird, wenn er mit der Hand analog und nicht digital notiert wird. Während in der Vergangenheit viele Studien eher die Frage untersucht hatten, ob und inwieweit elektronische Hilfsmittel ablenken und die Konzentration stören, hat diese Studie den Lerneffekt verglichen, der sich beim Mitschreiben bzw. beim Eintippen per Tastatur beobachten lässt. Das Ergebnis: Wer sich mit der Hand Notizen macht, behält die Inhalte von Vorträgen besser und auch länger als tippende Vergleichsprobandinnen und -probanden. Der Effekt ist umso stärker, je komplexer Sachverhalte sind und je mehr Verstehensprozesse oder gedankliche Transferleistungen im Vordergrund stehen. (…)

Das Schreibschrift-Üben hat mit Muße, Sinnlichkeit, Komplexität, Aufmerksamkeit und Anspruch zu tun. Es bedeutet auch, das am höchsten differenzierte menschliche Bewegungsorgan zu nutzen: die Hand. Das hat Folgen. Da beim Schreiben(-lernen) sensomotorische, visuelle, emotionale und sogar auditive Prozesse ineinandergreifen, werden alle Hirnstrukturen auf besondere Weise gefordert. (…) Bei täglicher Übung und Perfektionierung zeigen sich stabile, langfristige Veränderungen der neuronalen Netzwerke und der Gehirnstruktur. Hand und Gehirn beeinflussen sich demnach wechselseitig. Auch die untrainierte Hand profitiert, denn beim Lernvorgang wird das Bewegungsmuster gewissermaßen auf andere Gliedmaßen übertragen. Wenn das kein Plädoyer für das Erlernen einer verbundenen, komplexen Schreibschrift ist! (…)

In Hirnscans konnte aufgezeigt werden, dass das Schreiben per Hand das Gehirn auf besondere Weise beschäftigt und völlig andere Erregungsmuster generiert, als wenn der gleiche Inhalt per Tastatur eingegeben wird. „Der größere motorische Aufwand beim handschriftlichen Notieren führt zu komplexeren und somit stabileren Verknüpfungen im Gedächtnis“ (PASCHEK 2012, S. 26).

Schreiben stellt eine motorische und eine kognitive Fähigkeit dar. Anders als andere menschliche Fähigkeiten ist es evolutiv nicht angelegt und muss als Kulturtechnik erlernt, erprobt und geschult werden. Die Schrift leistet dabei deutlich mehr als nur Informationen weiterzugeben. Zu ihrer Charakteristik gehört es, dass sie regelhaften Mustern folgt. Regeln wiederum lassen sich einüben und anwenden. Ergo lassen sich korrektes Schreiben und auch das Vermögen, sich präzise auszudrücken, erlernen und beherrschen. Dabei hat der Eingang in das Reich der Literatur seinen Preis, wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt. Gerade weil das „Entziffern und Arrangieren“ von Buchstaben nicht von Natur aus gegeben ist, erfordert es eine „Disziplinierung der Sinne und des Körpers“ wie kein anderes Medium (vgl. LIESSMANN 2014). Als Belohnung winken Weltaneignung und Welterzeugung. (…)

Vor diesem Hintergrund verdient eine Längsschnittstudie Aufmerksamkeit, in der die Schreibfähigkeit von Viertklässlern untersucht wurde. Wolfgang Steinig, Germanistikprofessor aus Siegen, hat dort in mehreren Zyklen erhoben, wie sich die Fähigkeiten der Grundschülerinnen und Grundschüler in Sachen Zeichensetzung, Grammatik, Textgestaltung und Wortschatz über Jahrzehnte hinweg verändert haben. Dabei kam heraus, dass sich die Zahl der Rechtschreibverstöße, der Flexions- und der Satzbaufehler von der ersten Messung im Jahr 1972 bis zur dritten Messung im Jahr 2012 deutlich erhöht hat. Machten die Schülerinnen und Schüler in den 70er Jahren etwa sieben Rechtschreibfehler pro 100 Wortformen, waren es 2002 rund zwölf und im Jahr 2012 bereits 17 Fehler. (…)

Einen Grund für die Veränderungen in der Fehlerart sieht der Professor in methodischen Umwälzungen im Anfangsunterricht der Grundschule. Während vor den 70er Jahren die geschriebene und die gesprochene Sprache möglichst von Beginn an mit der korrekten Schreibweise verbunden gelehrt wurden, wird das Schreiben in vielen Bundesländern mittlerweile nach Gehör mithilfe von Anlauttabellen unterrichtet. Die Fehlertoleranz ist enorm hoch. Diese Lehrmethode geht vom gesprochenen Wort aus, bei dem Kinder jene Wörter laut aussprechen, die sie aufschreiben wollen. Anschließend suchen sie sich die entsprechenden Buchstaben aus der Anlauttabelle heraus und schreiben die Buchstaben nacheinander ab. Dies führt zu interessanten Wortgebilden. Uhr heißt dann Ua, Butter sieht aus wie buta, der Tiger liest sich geschrieben wie Tieger. Das Prinzip der Regeltreue wird so zunächst aus den Angeln gehoben. Steinig sieht in genau diesem Unterricht und in der Art, wie Rechtschreibung vermittelt wird, eine Ursache der größeren Fehlerhäufigkeit und nicht darin, dass „die Kinder in den letzten 40 Jahren dümmer geworden sind“ (STEINIG 2013). Allerdings konstatiert der Germanistikprofessor auch, dass die Texte der Kinder inzwischen meinungsfreudiger und fantasievoller geworden seien und einen stärker kommentierenden Charakter hätten. Die Befürworter der Lehrmethode des Schreibens nach Gehör mithilfe der Anlauttabelle argumentieren, dass Kinder beim „Lesenlernen durch Schreiben“ nicht von formgebenden Regeln wie Orthografie, Grammatik oder Semantik gehindert oder gestört werden. Wie es richtig geht, können sie später immer noch lernen. (…)

Wenn also nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode mit der Anlauttabelle unterrichtet wird, „dann ist es so, dass die Kinder einen Weg in die Schriftsprache gewiesen bekommen, der grundsätzlich einseitig und auch fehlerhaft ist. Man sollte ihnen vom ersten Tag an das anbieten, was richtig ist,“ sagt Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam. Damit scheint sie dem 8-jährigen Jan aus der Seele zu sprechen.

„Also ich würde sagen, dass man schon anfängt, die Fehler zu korrigieren in der Ersten, weil sonst hat man sich da dran gewöhnt zum Beispiel Blatt hinten nur mit einem t zu schreiben. Da kommt auf einmal jemand in der Zwei und sagt, das ist falsch, und das ist falsch. Da kriegt man irgendwie so ein ganz trauriges Gefühl.“

Aus: Deutschlandfunk, 28.08.2014, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Streit um die richtige Methode  [Eingefügt durch Schulforum-Berlin]

Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann konstatiert zur Tatsache, dass grundlegende Kulturtechniken nicht mehr beherrscht werden: „Volkskrankheit Analphabetismus“! Er sieht darin „den Skandal der modernen Zivilisation schlechthin“. Schreiben nach Gehör sowie das Ansinnen, Texte immer weiter zu vereinfachen, um die Lesefähigkeit zu verbessern oder auch die Vereinfachung der Schrift zählen für ihn zu hochproblematischen Methoden und Strategien (LIESSMANN 2014). (…) Die Tatsache, dass der Erwerb von Kulturtechniken nicht jedem leicht fällt, kann daher nicht als Grund herhalten, „das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren“. „Wenn etwas schwerfällt, bieten die Didaktiker Erleichterungen an. Doch wo alle Schwierigkeiten umgangen werden, herrscht eine Praxis der Unbildung“ (LIESSMANN 2014). Damit auch weiterhin in und mit Sprache gedacht, argumentiert, artikuliert oder abgewogen und fein nuanciert wird, solle lieber alles Erdenkliche unternommen werden, damit auch jene mit Schwierigkeiten wirklich Schreiben und Lesen lernen.

Die Publikation BILDUNGBEWEGT des Hessischen Kultusministeriums für Lehrerbildung – wird nicht mehr aufgelegt!

siehe auch: „Der Schreibvielfalt sind je nach dialektaler Färbung keine Grenzen gesetzt“

siehe auch: Die Hälfte der Drittklässler erfüllt nicht einmal die Mindeststandards, Schreiben ungenügend

Neue Vorgaben für den Rechtschreibunterricht in BW

Die Grundschulen in Baden-Württemberg sollen künftig von Anfang an auf korrekte Rechtschreibung der Schülerinnen und Schüler achten. Das kündigte Kultusministerin Susanne Eisenmann in einem Brief an die Schulen an. Sie erteilt damit Lernmethoden wie Schreiben nach Gehör eine Absage.

Im Rechtschreibunterricht an den Grundschulen in Baden-Württemberg soll wieder mehr darauf geachtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler von Anfang ihrer Schulzeit an korrekt schreiben. „Richtiges Schreiben ist ebenso wie Lesen und Rechnen eine Schlüsselkompetenz, die wieder gestärkt werden muss“, teilt die Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann mit.

Deren Erwerb dürfe weder vernachlässigt noch nebenbei erfolgen. Systematisches (Ein-)üben sei ebenso wichtig wie Kontinuität. „Deshalb ist es wichtig“, sagt die Ministerin, „dass richtiges Schreiben nicht erst zum Ende der zweiten oder in der dritten Klasse, sondern von Beginn der Grundschulzeit an konsequent unterrichtet wird.“ (…)  „Auf Fehler hinzuweisen ist unabdingbar. Die Schülerinnen und Schüler wollen wissen, was richtig oder falsch ist“, sagte die Ministerin. Gleiches gelte für die Eltern in Bezug auf die Beurteilung der Leistung ihrer Kinder.

Das richtige Schreiben von Wörtern habe in unserer Gesellschaft nicht mehr den Stellenwert, der ihm als Kulturgut zukommen sollte. Man denke nur an die „schreib-und-tipp-wie-du-sprichst-“Methode, die über das Mobiltelefon und den Computer Einzug gehalten habe. Sie hob aber auch einen anderen Aspekt hervor: „Eine Unterrichtsmethodik und -didaktik, die der Rechtschreibung nicht den zentralen Stellenwert gibt oder diese zu spät berücksichtigt, ist wenig hilfreich“, so Eisenmann in ihrem Brief. An dieser Stelle müsse gegengesteuert und Rechtschreibung von Anfang an gezielt geübt werden. Das Erlernen der Rechtschreibung soll laut der Kultusministerin außerdem in jedem Fachunterricht verankert werden. „Wenn korrektes Lernen bereits in der ersten Klasse beginnt, dann hilft dies den Mädchen und Jungen auch an den weiterführenden Schulen, wenn es in Fächern wie Physik oder Chemie um exaktes Arbeiten geht“, erläuterte die Ministerin. (…)

In den vergangenen Jahren [unter Rot-Grüner Regierung in BW] hätten sich andere Unterrichtskonzepte durchgesetzt. (…) So seien eine Vielzahl an „individuellen Schreibungen“ eines Wortes feststellbar, wodurch das Einüben der korrekten Schreibweise erschwert werde. „Deshalb ist es aus meiner Sicht zwingend erforderlich, dass orthografische Fehler von Anfang an konsequent korrigiert werden“, so die Ministerin. Methoden, bei denen Kinder monate- beziehungsweise jahrelang nicht auf die richtige Rechtschreibung achten müssen, seien nicht mehr zu praktizieren.

Eisenmann kündigte an, dass das Ministerium die Schulen bei der Weiterentwicklung des Rechtschreibunterrichts durch Maßnahmen wie Handreichungen, verstärkte Fortbildungsangebote und Fachtage unterstützen werde. „Ziel ist, gemeinsam die Qualität des Unterrichts durch die verstärkte Vermittlung von Rechtschreibtechniken zu verbessern“, so Eisenmann.

siehe Pressemitteilung, 15.12.2016, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg


Die politischen Reaktionen darauf:

„Statt sich in die Arbeit der pädagogischen Profis mit wenig Sachverstand einzumischen, sollte sie lieber die Schulen ordentlich ausstatten“, wettert die Lehrergewerkschaft GEW. Die Ministerin kenne offenbar „weder die kritisierte Methode, noch den Forschungsstand“.

Sandra Boser, bildungspolitische Sprecherin der Grünen, warnt davor, den Lehrern die pädagogischen Freiheiten zu nehmen, die ihnen der Bildungsplan gewähre, „um erfolgreiche Konzepte zum Erlernen der Rechtschreibung zu entwickeln“.

aus:  Rhein-Neckar-Zeitung, 16.12.2016, Sören S. Sgries, Kultusministerin Eisenmann sorgt sich um die Rechtschreibkompetenz, „Schüler wollen wissen, was richtig oder falsch ist“: Brief an Grundschullehrer, kein „Schreiben nach Gehör“ mehr.

Die Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?

Zum Abschlussbericht Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen

Eine Auftragsstudie soll das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept der Berliner Gemeinschaftsschulen legitimieren.


Ein Beitrag des „Arbeitskreises Gute Schule Berlin“[1]

Seit 2008/09 wird in mittlerweile 25 Berliner Gemeinschafts­schulen unterrichtet. Zwei Generationen von Schülern haben damit bereits den Pilotversuch in der Sekundarstufe I durchlaufen – eine ausreichende Zeitspanne, die mit Einführung der Gemeinschaftsschule versprochenen Ziele und Methoden[2] zu überprüfen:

  • Unabhängig davon, was Kinder und Jugendliche an unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen mitbringen, soll Chancengleichheit und -gerechtigkeit verwirklicht werden.
  • Im gemeinsamen Unterricht von Kindern und Jugendlichen und durch Moderation individueller Lernwege und selbstgesteuerten Lernens soll eine maximale Leistungsentwicklung (Lernzuwachs) ermöglicht werden.

Lösen die bestehenden Gemeinschaftsschulen nun diese Ziele ein? Im April dieses Jahres stellte die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin einen in ihrem Auftrag erstellten „Abschlussbericht“ zur achtjährigen Pilotphase der Gemeinschaftsschule vor.[3] Das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept konnte „erfolgreich implementiert werden“ heißt es in der Pressemitteilung[4] aus dem Hause von Senatorin Scheeres.

Wer sich jedoch Zeit nimmt, den Abschlussbericht daraufhin genauer anzuschauen, dem kommen doch erhebliche Zweifel und Fragen zu dieser Schlussfolgerung – und man meint sich überraschend in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ wiederzufinden. Zu deutlich sind die wahren Absichten zu erkennen: Das politische Vorhaben der Schulsenatorin, die Gemeinschaftsschule im Berliner Schulgesetz zu verankern, soll legitimiert werden.

Ein Abschlussbericht – warum aus Hamburg?
Die Arbeitsstelle für Schulentwicklung und Schulentwicklungsforschung der Hamburger Universität sowie eine nachgeordnete Behörde der Hamburger Schulverwaltung und ein Management Consulting Unternehmen[5] wurden von der Berliner Senatsschulverwaltung mit der Erstellung des Abschlussberichts zur Pilotphase der Gemeinschaftsschulen in Berlin beauftragt. Warum Hamburg und warum wurden die drei Berliner Universitäten bei Fragen zur Berliner Schulpolitik übergangen? Allein die Universität Hamburg erhielt im Zeitraum von 2008 bis 2015 für die Erstellung dieses Berichts 950.000 €[6]. Welche Gelder gingen in den kommerziellen Bereich?

Kritik am methodischen Vorgehen
Was das methodische Vorgehen angeht, so muss dieses grundsätzlich hinterfragt werden und damit auch der Aussagewert der daraus gefolgerten Ergebnisse. Auch lohnt sich eine kritische Befassung mit den im Rahmen von Interviews mit einigen Kollegenteams gegebenen Aussagen zu deren alltäglicher pädagogischer Praxis. Ihre teils ernüchternden Einschätzungen wurden in der öffentlichen Darstellung des Abschlussberichts schlichtweg übergangen.

Im Folgenden dazu einige Beispiele

1. Vergleichbarkeit und Auswahl
Der Abschlussbericht stellt einen Vergleich vor zwischen Berliner Schülern einiger Gemeinschaftsschulen und Hamburger Schülern des gegliederten Schulsystems.[7] Um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten, müssten jedoch Berliner Gemeinschaftsschulen mit bestehenden Berliner Schulen verglichen werden: Es findet also kein direkter Vergleich der verschiedenen Schulformen in Berlin statt. Zwar nahmen 18 von 24 Berliner Gemeinschaftsschulen an der Befragung teil. Bei den beiden Lernstandserhebungen wurden aber nur noch 10 Schulen einbezogen, die Teilnahme war freiwillig. In beiden Fällen werden keine Erklärungen für die jeweiligen Auswahlkriterien gegeben. Von einer wissenschaftlichen Studie erwartet man jedoch Transparenz. Auch stellt sich die Frage danach, wie repräsentativ die Ergebnisse sind.

2. Kritik am Aussagewert der Ergebnisse – Lernzuwachs ist nicht gleich Lernstand
Für die Kompetenzbereiche „Leseverständnis, Mathematik, Englisch, Ortho­graphie und Naturwissenschaften“ stellt der Abschlussbericht einen größeren Lernzuwachs der Berliner Schüler gegenüber den Hamburger Schülern heraus. Was heißt dies aber wirklich?
Aufgepasst: Lernzuwachs bedeutet nicht Lernstand. Zu Beginn der Studie war die Ausgangslage bei den Berliner Schülern deutlich schlechter als bei den Hamburger Schülern. Ein Beispiel soll den Sachverhalt verdeutlichen:

Wenn ein Berliner Schüler in Mathematik einen Lernzuwachs von zwei Noten aufweist, steigert er sich beispielsweise von einer Note 5 auf eine Note 3. Der Hamburger Schüler startet bereits bei 3 und landet mit einem Lernzuwachs von nur einer Note auf einer 2. Damit ist der Hamburger Schüler im Lernzuwachs schlechter als der Berliner, obwohl sein Lernstand um eine Note besser ist. Die Lernzuwächse der Berliner Schüler resultieren aus einem Aufholen von erheblichen Lernrückständen.[8] Es ist bekanntlich wesentlich einfacher, sich von schlechten Leistungen auf mittlere zu verbessern, als von mittleren zu guten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Studie keine Rückschlüsse auf einen vergleichbaren Lernzuwachs ermöglicht, geschweige denn auf einen Lernstand.

3. Aussagen aus Interviews zu Chancengleichheit und –gerechtigkeit
Mehr als der Hälfte der befragten Lehrkräfte bewertet den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht.[9]

Diese unmittelbar erfahrenen Beeinträchtigungen der Pädagogen vor Ort sind keineswegs unüberlegt geäußerte Befindlichkeiten, über die hinweggegangen werden kann. Die Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer müssen als fachlich fundierte Beurteilungen der Unterrichtssituationen ernst genommen werden. Ihr pädagogischer Auftrag ist es – ihr Berufsethos gebietet es – jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin zu einer Persönlichkeit heranzubilden, die ihren Platz in unserer Gesellschaft verantwortungsvoll einnimmt.[10] Diesen Anspruch kann man jedoch angesichts der Heterogenität der Schulklassen schwerlich einlösen. In Anbetracht der politisch gewollten und tatsächlich wachsenden Heterogenität in den Schulklassen wird nun mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule die strittige Schlussfolgerung abgeleitet: Unterricht müsse eine weitgehende Individualisierung ermöglichen.

Dem ist entgegenzusetzen: Auch eine noch weitergehende Individualisierung der Lernarrangements, z.B. durch Werkstatt- und Wochenplanarbeit, Arbeit im Lernbüro und im offenen Lernen[11], wie von der Gemeinschaftsschule propagiert, erscheint nicht als die Problemlösung. Wie in mehreren aktuellen Studien (Hattie, Lipowsky, u.a.)[12] bereits nachgewiesen, läuft diese Vorgehensweise des individualisierenden und selbständigen Lernens Gefahr, dass insbesondere Schüler mit schwächeren und ungünstigeren Voraussetzungen nicht angemessen gefördert werden. Die Schere zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern wird damit nicht verringert. Das Ziel der Gemeinschaftsschule, Schüler zu mehr Chancengleichheit zu führen und Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, kann demnach auf diesem Wege nicht eingelöst werden.

Die Zahlen der Berliner Schulstatistik sprechen hierzu eine nüchterne Sprache: Das Konzept der Gemeinschaftsschule führt nicht zu einer Verminderung des Anteils von Jugendlichen ohne Schulabschluss.

4. Aussagen aus Interviews zu Lern- und Kenntnisstand sowie altersangemessener Lernmotivation
Zwei Teams der Gemeinschaftsschulen benennen gravierende Probleme, mit denen sie täglich konfrontiert sind. Die Studie fasst zusammen: „Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt.“[13]

Weiter werden die Lehrkräfte zitiert: „Ich bin wirklich entschieden der Meinung, es kommt viel zu wenig dabei raus, bei der Lernwerkstatt. (…) … für den Schüler, der mit einer gewissen Allgemeinbildung nach der zehnten Klasse die Schule verlässt, finde ich, ist die Allgemeinbildung ganz schön klein. Da würde ich mir mehr wünschen.“[14]

Der Bericht referiert, „deutlich ist in einigen Interviewgesprächen, dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen.“[15]

Was bleibt nun nach eingehender Prüfung von Begleitstudie und Presseerklärung übrig von der Aussage der Pressemitteilung, das pädagogische und schulorganisatorische Rahmenkonzept der Gemeinschaftsschule konnte „erfolgreich implementiert werden“[16]?

Es bleibt die nüchterne Feststellung: Die mit hohen Investitionen (bis 2012 bereits 22 Mio. Euro)[17] und großem Engagement der Lehrkräfte eingeführte Gemeinschaftsschule und ihre Konzeption zeitigen die von der Schulsenatorin vorgegebenen Erfolge nicht.

Stattdessen drängt sich die Frage auf, ob Schule, statt sich in ständig neuen Reformanstrengungen aufzureiben, sich nicht auf ihre Kernaufgaben konzentrieren sollte. Eine zentrale Aufgabe in Berlin ist es, Verantwortung zu übernehmen für die erschreckend hohe jährliche Zahl von Jugendlichen ohne Schulabschluss – an der auch die Gemeinschaftsschule nichts geändert hat – und alle Kräfte zu bündeln, diesen jungen Menschen einen sinnvollen Weg ins Leben zu bahnen. Eine weitere Senkung des Niveaus, wie in den letzten Jahren bereits praktiziert, kann nicht die Lösung sein.[18] Dies bedeutet nur eine Verschiebung der Problematik in die sich anschließende Bildungs- und Ausbildungseinrichtung.

Bei der Auswahl einer guten Schule für ihre Kinder dürfen die Eltern nicht durch parteipolitische Interessen und ideologische Standpunkte in die Irre geführt werden. Eine offen geführte und breite Diskussion über eine „Gute Schule in Berlin“ muss beginnen.

PDF-Datei zu obigem Beitrag zum Herunterladen


[1] Für: www.Schulforum-Berlin.de
[2] https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/gemeinschaftsschule/ ,abgerufen am 31.08.2016
[3] ebd., Zum Abschlussbericht: Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule, Stand: Juni 2016
[4] Pressemeldung vom 8.4.2016, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen
[5] Ramboll Management Consulting ist ein multidisziplinäres Ingenieurs-, Design- und Beratungsunternehmen. Tätigkeitsfelder sind:  Energie, Transport & Infrastruktur, Bauten & Design, Stadtplanung & Gestaltung, Umwelt & Gesundheit, Management & Consulting sowie Politikberatung und –evaluation. „Wir evaluieren und dokumentieren laufend die Auswirkungen politischer Maßnahmen und Entscheidungen“; siehe www.ramboll.de
[6] https://www.ew.uni-hamburg.de/ueber-die-fakultaet/personen/bastian.html
[7] Abschlussbericht, S. 176, hier zitiert der Abschlussbericht ein gegliedertes Schulsystem in Hamburg. Dazu folgende Anmerkung: tatsächlich wurde das gegliederte Schulsystem in Hamburg bereits 2008/09 abgeschafft. Haupt- und Real- und Gesamtschulen wurden zu sogenannten Stadtteilschulen zusammengefasst; siehe auch FOCUS online, 15.05.2008, Hamburg schafft Hauptschulen ab; Zum Niveau der Hamburger Vergleichsschulen siehe auch: Hamburger Morgenpost, 20.04.2012, Sandra Schäfer, Kaum Schüler mit Gymnasialempfehlung. Die Stadtteil-Schule ist ein flop!
[8] Abschlussbericht, S. 177
[9] ebd., S. 63, Abb. 40; 56,8% bzw. 64,3% der befragten Lehrkräfte sagen zu den Fragen “trifft voll zu“ und „trifft eher zu“, mit deutlich zunehmender Belastung von 2013 zu 2014
[10] Schulgesetz für Berlin, §1, Auftrag der Schule
[11] https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/gemeinschaftsschule/ ,abgerufen am 31.08.2016
[12] Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014
[13] Abschlussbericht, S. 144
[14] ebd., S. 149
[15] ebd., S. 160
[16] Pressemeldung vom 8.4.2016, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Abschlussbericht zur Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen
[17] vgl. Fatina Keilani in: Der Tagesspiegel vom 30.08.2012
[18] 2015 verließ jeder zehnte Schüler die Schule ohne Abschluss; siehe auch:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr; Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss; Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Lehrer finden Mathe-Prüfungen „Pillepalle“


Anmerkung zu den Autoren des obigen Beitrags:

Der „Arbeitskreis Gute Schule Berlin“ ist eine Gruppe von Lehrerinnen, Lehrern und Eltern. Die Lehrkräfte sind an allgemeinbildenden Schulen im Primar- und Sekundarbereich sowie an berufs­bildenden Schulen tätig. Über ihre praktische Unterrichtstätigkeit hinaus sind sie, wie viele andere Lehrkräfte auch, an pädagogischen, didaktischen und bildungspolitischen Fragen interessiert. Im stän­digen Austausch miteinander entschlossen sie sich, Beobachtungen und Entwicklungen im Berliner Schulwesen über das Erleben und Wahrnehmen hinaus zu analysieren, zu kommentieren und darüber zu informieren. Ihr Wunsch ist, eine breite Diskussion für alle daran Interessierten anzustoßen.

email-Adresse:  gute-schule-berlin@online.de


 siehe auch:

Gut gehütete Tabus

Eine Studie soll auf zweifelhafte Weise den Erfolg der Berliner Gemeinschaftsschule beweisen
FAZ, Bildungswelten, 08.09.2016, Rainer Werner
Der Autor war in verschiedenen Berliner Schulformen tätig und ist Autor des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“. Er betreibt die web-Seite:  Für eine gute Schule

Zum Artikel:  Rainer Werner, Gut gehütete Tabus, web-Seite „Für eine gute Schule“

Schülerleistungen im Vergleich der Bundesländer

Jugendliche Klassengesellschaft

Warum das Lernniveau von Neuntklässlern je nach Bundesland so stark variiert – und mit welchen Maßnahmen die erfolgreichen Länder den Unterricht verbessert haben.

FAZ, 28.10.2016, von Heike Schmoll

Was haben Bundesländer getan, deren Neuntklässler sich im Ländervergleich „IQB-Bildungstrend 2015“ in Englisch und Deutsch so deutlich gegenüber der ersten Erhebung 2009 verbessert haben wie Schleswig-Holstein und Brandenburg? Sie haben sich konzentriert. Nach den niederschmetternden Leistungsergebnissen in Englisch hat Brandenburgs damaliger Staatssekretär Burkhard Jungkamp die ostdeutschen Länder eingeladen und mit ihnen eine Strategie für eine Qualitätsoffensive in Englisch verabredet [Sommerakademien für ihre Englischlehrer, Tandems mit muttersprachlichen Lehrern]. Sechs Jahre später sind die Verbesserungen sichtbar. (…)

Ähnliches gilt für Schleswig-Holstein im Fach Deutsch. Der Direktor des Kieler Leibnizinstituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN), der Bildungsforscher Olaf Köller, sagte dieser Zeitung, die Kampagne „Lesen macht stark“ habe an den Schulen, die sie ernst genommen hätten, zu verblüffenden Erfolgen geführt. (…)

Baden-Württemberg indessen scheint sich auf den guten Ergebnissen der vorangegangenen Studien ausgeruht zu haben, jedenfalls fehlt es dort an gezielten Anstrengungen zur Unterrichtsverbesserung, wie die neue Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) auch in Berlin bekräftigte. Man habe sich zu viel mit Schulstrukturdebatten aufgehalten, statt an Unterrichtsqualität und Leistung zu denken, so Eisenmann. (…)

Besonders ungünstige Ergebnisse weisen für alle getesteten Fähigkeiten Berlin und Bremen auf. (…)

Auffallend ist, dass in manchen Ländern nicht nur die schwächsten Schüler zu wenig gefördert werden, sondern auch die leistungsstärksten. (…) Die Gymnasiallehrer scheinen also angesichts der immer unterschiedlicher und größer werdenden Schülergruppe, die sie zum Abitur führen sollen, die Förderung der Leistungsstärksten zugunsten der Leistungsschwachen zu vernachlässigen. (…)

zum Artikel :  FAZ, 29.10.2016, Heike Schmoll, Jugendliche Klassengesellschaft


… mehr aus dem Ländervergleich „IQB-Bildungstrend 2015“:

An der Überprüfung des Erreichens der Bildungsstandards in den Fächern Deutsch und Englisch nahmen im Jahr 2015 insgesamt 33 110 Schülerinnen und Schüler der 9. Jahrgangsstufe aus allen 16 Ländern in der Bundesrepublik Deutschland teil.

Im Fach Deutsch erreichen oder übertreffen im Jahr 2015 bundesweit im Bereich Lesen gut 48 Prozent, im Bereich Zuhören fast 62 Prozent und im Bereich Orthografie rund 66 Prozent der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler den KMK-Regelstandard für den MSA. Den Mindeststandard (MSA) verfehlen in diesen Kompetenzbereichen jeweils etwa 23 Prozent [Lesen], fast 19 Prozent [Zuhören] beziehungsweise rund 14 Prozent [Orthografie] der Schülerinnen und Schüler.

Zwischen dem Land mit dem geringsten [Berlin und Bremen] und dem Land mit dem höchsten Kompetenzmittelwert [Bayern und Sachsen] beträgt der Abstand im Fach Deutsch (…) in allen drei Bereichen [Lesen, Zuhören, Orthografie] mehr als drei Schuljahre Lernzeit. (S.16)

Der Kompetenzzuwachs am Ende der Sekundarstufe I [zwischen dem Land mit dem geringsten und dem Land mit dem höchsten Kompetenzmittelwert] ist im Fach Englisch größer als im Fach Deutsch, sodass diese Unterschiede dem Lernzuwachs von etwa einem Schuljahr entsprechen. (S.16)

Neben Berlin und Bremen zählt auch Sachsen-Anhalt zu den Ländern, in denen die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Fach Englisch in beiden Kompetenzbereichen (Leseverstehen und Hörverstehen] im Durchschnitt ein signifikant geringeres Kompetenzniveau erreichen als Neuntklässlerinnen und Neuntklässler in Deutschland insgesamt. (S.16)

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2015 zeigen, dass nahezu alle Länder sowohl fachfremd unterrichtende Lehrkräfte als auch Quereinsteiger einsetzen.
Besonders hoch ist der Anteil der Quereinsteiger in den ostdeutschen Ländern, was auf die seit Jahren hohe Anzahl von Pensionierungen und den daraus resultierenden Lehrkräftemangel zurückzuführen ist. [siehe auch: Berliner Bildungsdesaster – wo bleibt der Aufschrei der Eltern? TSP vom 8.2.2016, Berlin braucht 1000 neue Grundschullehrer – hat aber nur 175] Außerdem zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit der fachfremd unterrichtenden Lehrkräfte und der Quereinsteiger in nichtgymnasialen Schulen eingesetzt wird. (S. 28f)

Im IQB-Bildungstrend 2015 wurde darüber hinaus untersucht, ob die Qualifikation und der Fortbildungsbesuch der Lehrkräfte mit den Kompetenzen zusammenhängen, die von ihren Schülerinnen und Schülern erreicht werden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die von fachfremden Lehrkräften unterrichteten Schülerinnen und Schüler sowohl in Deutsch als auch in Englisch auch nach statistischer Kontrolle der Klassenzusammensetzung im Durchschnitt geringere Kompetenzen erreichen als die von Fachlehrkräften unterrichteten Schülerinnen und Schüler. In einzelnen Kompetenzbereichen sind die Leistungsnachteile an nichtgymnasialen Schulen besonders ausgeprägt. Nachdem negative Zusammenhänge fachfremd erteilten Unterrichts mit den Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern bereits im IQB-Ländervergleich 2011 in der Primarstufe und im IQB-Ländervergleich 2012 in der Sekundarstufe I insbesondere für das Fach Mathematik festgestellt wurden, bestätigen die Befunde des IQB-Bildungstrends 2015, dass diese Zusammenhänge auch in den sprachlichen Fächern in der Sekundarstufe I bestehen. (S.29)

nachzulesen:  IQB-Bildungstrend 2015 Zusammenfassung


Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)
In den Jahren 2003 und 2004 verabschiedete die Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) Bildungsstandards für den Primarbereich und die Sekundarstufe I. Diese beschreiben, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu bestimmten Zeitpunkten in ihrer Bildungslaufbahn in den Fächern Deutsch und Mathematik (Primarbereich und Sekundarstufe I), in den Fremdsprachen Englisch und Französisch (Sekundarstufe I) sowie in den naturwissenschaftlichen Fächern (Sekundarstufe I) entwickelt haben sollen. Für die Durchführung dieser Untersuchungen ist das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin verantwortlich. Die entsprechenden Studien des IQB werden ab 2015 als IQB-Bildungstrends bezeichnet.

Vera 8 – Nichts Gutes kündigt sich an

Vera 8 – neue Ergebnisse für Berlin:  Deutsch, Mathe, Englisch – keine Besserung in Sicht

Sorry, bad news
Berlins Achtklässler offenbaren erschreckende Lücken. Schon die Grundschulen leiden unter dem starken Mangel an Fachlehrern.

TSP, Susanne Vieth-Entus, Amory Burchard, 28.10.2016

(…) Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Dies zeigen die neuesten Vera-8-Ergebnisse von 2016, die das Institut für Schulqualität Berlin-Brandenburg (ISQ) am Donnerstag – nach Absprache mit der Bildungsverwaltung – überraschend online stellte [siehe: Keiner übernimmt Verantwortung]. In der Mathematik gibt es sogar eine massive Verschlechterung gegenüber dem Vorjahr: Die Risikogruppe stieg demnach von 56 Prozent im Vorjahr auf jetzt 68 Prozent. Diese Schüler sind weit davon entfernt, ausbildungsreif zu sein, und beherrschen teilweise noch nicht einmal die Grundrechenarten.

Kursiver Text aus: Länderbericht Berlin VERA 8 im Schuljahr 2015/16, Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg e.V. (ISQ)

Mit Blick auf die Kompetenzerwartungen der Bildungsstandards lässt sich festhalten, dass 68% der Schülerinnen und Schüler, die Testheft I bearbeiteten [Integrierte Sekundarschule (ISS) und Gemeinschaftsschule], die Mindeststandards im [Bereich Mathematik] derzeit noch nicht erreichen (KS I = niedrigste Kompetenzstufe). Dabei verfehlen etwas mehr Mädchen als Jungen die Mindeststandards (70 % der Mädchen, 66 % der Jungen). Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Verkehrssprache liegt auf dieser Kompetenzstufe bei 81%.

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die Testheft II [Gymnasium] bearbeiteten und die Mindeststandards noch nicht erreichen, liegt mit 12% deutlich niedriger. Rund 68% der Schülerinnen und Schüler erzielen hierbei Leistungen, die dem Regelstandard und damit den durchschnittlichen Kompetenzerwartungen entsprechen (KS III) oder zum Teil weit dar über hinausgehen (KS IV und V) [KS V = höchste Kompetenzstufe]. Auch hier schneiden die Mädchen tendenziell etwas schlechter ab als Jungen und 26% der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Verkehrssprache verfehlen die Mindeststandards in Mathematik.

Im Bereich Deutsch unterschritten 2016 über 35 Prozent der Neuntklässler die Mindestanforderungen; im Jahr zuvor lag diese Quote noch bei 25 Prozent. Diese Schüler haben kaum eine Chance, bis Klasse 10 die Defizite aufzuholen. Bei den Kindern aus Migrationsfamilien war es sogar mehr als jeder Zweite, der vom deutschen „Regelstandard“ weit entfernt ist.

Mit Blick auf die Kompetenzerwartungen der Bildungsstandards lässt sich festhalten, dass 37% der Schülerinnen und Schüler, die Testheft I bearbeiteten, die Mindeststandards im Bereich Deutsch Lesen noch nicht erreichen (KS I). Zwischen den Jungen und Mädchen zeigen sich dabei kaum Unterschiede. Mit 56% liegt dagegen der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Verkehrssprache auf dieser Kompetenzstufe erheblich höher als der mit deutscher Verkehrssprache (28%). Dem Regelstandard entsprechende Leistungen oder solche, die darüber hinaus gehen, erreichen bei Testheft I 33% aller Schülerinnen und Schüler.

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, welche die Mindeststandards [in Deutsch Lesen] noch nicht erreichen, liegt bei Testheft II [Gymnasium] mit 5% erwartungsgemäß niedriger. Rund 77% der Schülerinnen und Schüler erzielen Leistungen, die dem Regelstandard und damit den durchschnittlichen Kompetenzerwartungen bereits entsprechen (KS III) oder zum Teil darüber hinausgehen (KS IV und V). Auch 51% der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Verkehrssprache erzielen Leistungen, die den durchschnittlichen Kompetenzerwartungen der Bildungsstandards bereits entsprechen (KS III) oder darüber hinausgehen (KS IV und V).

Von den Schülerinnen und Schülern, die in Deutsch Orthografie das Testheft I [ISS und Gemeinschaftsschulen] bearbeiteten, erreichten 47 % noch nicht die Mindeststandards. Die Mädchen schneiden dabei etwas besser ab als die Jungen (KS I Mädchen: 40 %, Jungen: 53 %). Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Verkehrssprache ist mit 59 % unter dem Mindeststandard größer als der Anteil der Schülerinnen und Schüler deutscher Verkehrssprache (41 %). Es erreichen 16 % aller Schülerinnen und Schüler Leistungen, die dem Regelstandard entsprechen oder darüber hinausgehen.

Bei Testheft II [Gymnasium] liegt der Anteil der Schülerinnen und Schüler, welche die Mindeststandards [in Deutsch Orthografie] noch nicht erreichen bei 2 %. 84 % der Schülerinnen und Schüler erreichen dabei Leistungen auf Kompetenzstufe III (Regelstandard) oder darüber hinaus. Auch in Testheft II erzielen die Mädchen etwas bessere Leistungen, als die Jungen. Von den Schülerinnen und Schülern mit nichtdeutscher Verkehrssprache erreichen 68 % den Regelstandard oder sogar Kompetenzstufe IV oder V.

Seit vielen Jahren beklagen die Oberschullehrer, dass die Sechstklässler mit mangelndem Vorwissen aus den Grundschulen kommen. Dies gilt nicht nur für Deutsch und Mathematik, sondern auch für Englisch: Es gibt zu wenige Grundschullehrer, die Mathematik oder Englisch studiert haben. Dies führt dazu, dass diese Hauptfächer „fachfremd“ unterrichtet werden.

[In Englisch] verpassten fast 40 Prozent der Sekundarschüler den Anschluss: Die Hälfte der Migranten war nicht imstande, einen englischen Text so zu lesen, dass sie etwas mit dem Gelesenen anfangen können, weitere 40 Prozent haben ebenfalls Probleme und landen auf der zweituntersten von den fünf Kompetenzstufen.

Der Anteil des „fachfremd“ erteilten Unterrichts wird kaum erhoben, dürfte aber an vielen Schulen bei über 50 Prozent liegen. Dies bedeutet, dass viele Schüler etwa in Mathematik nur maximal in vier von zehn Schuljahren von Fachlehrern unterrichtet werden. (…) [Weiter wird berichtet, dass] es inzwischen Sekundarschulen gibt, die nur noch über einen einzigen ausgebildeten Mathematiklehrer verfügen. (…) Diese Lage führt dazu, dass der einzige verbliebene Mathematiklehrer auch noch die Aufgabe hat, die Quereinsteiger einzuarbeiten und Referendare zu betreuen. (…)

In der FAZ vom 29.10.2016 schreibt Heike Schmoll zu diesem Thema:  (…) Von diesem Scheitern [ihrer Bildungspolitik] abzulenken, war offenbar die Absicht der Berliner Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD), die Berlins miserable Ergebnisse mit dem Verweis auf die Lehrer kommentierte, welche „die notwendigen Schlussfolgerungen für die Förderung des einzelnen Kindes ableiten und den Unterricht danach ausrichten“ müssten. Wenn die Politik das Schulsystem wie in Berlin „an die Wand fährt, sollte sie nicht plump davon ablenken und die Lehrerschaft dafür verantwortlich machen“, entgegnete der Präsident des Lehrerverbandes Josef Kraus. Es sei schließlich Berlin, das nicht für genügend Lehrer gesorgt und die Leistungsansprüche „bei einer gleichzeitigen Inflation an Zeugnissen mit Bestnoten heruntergefahren hat“, so Kraus.

Wer sich vor Augen führt, dass die Regelstandards für den Mittleren Schulabschluss schon so angesetzt sind, dass sie etwa von der Hälfte der Schüler erreicht werden können, muss sich über die Klagen von Handwerk, Industrie und Universitäten über Bildungsdefizite nicht wundern. Eigentlich müsste die Messlatte höher gelegt werden, doch dann wird sie von weit mehr als der Hälfte verfehlt.

Hervorhebungen im Fettdruck und Einschübe durch Schulforum-Berlin

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 28.10.2016, Susanne Vieth-Entus, Amory Burchard,  Deutsch, Mathe, Englisch – keine Besserung in Sicht

zum Artikel:  FAZ, 29.10.2016, Heike Schmoll, Bildungsunterschiede – Jugendliche Klassengesellschaft

zum Länderbericht Berlin VERA 8 im Schuljahr 2015/16:  Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg e.V. (ISQ)
Das Institut für Schulqualität (ISQ) Berlin-Brandenburg wurde 2006 gegründet und an die Freie Universität Berlin angegliedert. Das ISQ ist zuständig für die Auswertung der Vergleichsarbeiten Vera 3 und Vera 8, für die zentralen Prüfungen wie Abitur, Mittlerer Schulabschluss (MSA) und Berufsbildungsreife (BBR), die Schulinspektionen und für die Portale zur Selbstevaluation. Das ISQ veröffentlicht seine Ergebnisse stets erst nach Absprache mit den Landesregierungen – seinen Auftraggebern.


Anmerkungen zur Selbstevaluation:

Die Fragebogen zur „Selbstevaluation“, mit denen Berlins Lehrer, Schulleiter, Schulräte ihre Arbeit evaluieren können stehen im Netz (www.isq-bb.de). Laut Tagesspiegel vom 31.10.2016, Fragen und fragen lassen, war im Schuljahr 2015/16 nur ein einziger Schulrat bereit, sich der Einschätzung der Schulleiter in seinem Bezirk zu stellen. Nur 13 Schulleiter ließen sich von ihrem Kollegium einschätzen. 12000 Zugriffe durch Lehrkräfte ergab die Zählung des ISQ in den letzten fünf Jahren. Nach den Vorgaben der Schulverwaltung sollten es jedoch 70000 Zugriffe sein.

Keiner übernimmt Verantwortung

Eine schlechte Nachricht weniger

Die Berliner Schulsenatorin entschied, Ergebnisse der Vergleichsarbeiten (Vera) nicht zu veröffentlichen [ein Schelm, der Böses dabei denkt].

05.09.2016, Susanne Vieth-Entus

„Jeder fünfte Schüler kann nicht rechnen“, „Schreiben ungenügend“. So lauteten Jahr für Jahr die Schlagzeilen, wenn im Spätsommer die Gesamtergebnisse der Vergleichsarbeiten der Dritt- und Achtklässler, „Vera3“ und „Vera 8“, publik gemacht wurden.  (…)

Die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion äußerte sich dem Tagesspiegel gegenüber, „dass die  SPD wirklich jede Möglichkeit sucht, die Resultate ihrer Bildungspolitik, die sie seit 20 Jahren verantwortet, zu verschleiern oder zu verheimlichen.“ (…)

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 05.09.2016, Susanne Vieth-Entus, Eine schlechte Nachricht weniger


Im Tagesspiegel schrieb am 11.09.2016, Harald Martenstein eine Glosse zu diesem Thema:

(…) „Es gibt seit Jahren einen bundesweiten Schultest namens „Vera“. Berlin schneidet meist desaströs ab. Zuletzt wurde festgestellt, dass etwa die Hälfte der Berliner Drittklässler im Grunde weder lesen noch schreiben kann. Einige wissen immerhin, dass es so etwas wie „Schrift“ gibt. Vor ein paar Tagen kam dank „Tagesspiegel“ heraus, dass die Schulverwaltung die neuen Ergebnisse einfach nicht veröffentlichen wollte, vermutlich, um in der Bevölkerung keine Ängste zu schüren. Das kam nicht gut an, sie mussten den Geheimhaltungsplan aufgeben. Es reicht, wenn die Ergebnisse erst nach der Wahl bekannt werden.
Wenn es dir nicht mal mehr gelingt, etwas zu vertuschen, hast du als Regierender wirklich ein Problem. (…)“


Die Unesco veröffentlichte soeben die Zahlen zum Analphabetismus (Stand 9/2016):

  • 758 Millionen Erwachsene auf unserem Planeten sind Analphebeten
  • 2,3 Millionen der Welt-Analphabeten kommen aus Deutschland
  • 7,5 weitere Millionen in Deutschland sind funktionale Analphabeten, die einfache Sätze, aber keine zusammenhängenden Texte lesen können.

Weitere alarmierende Zahlen:

  • ca. 45.000 Jugendliche verlassen jährlich in Deutschland die Schule ohne Schulabschluss.
  • jeder 9.  Jugendliche verlässt jährlich in Berlin die Schule ohne Schulabschluss.