Archiv der Kategorie: Sozial Media Communities

„Das muss man sich mal vorstellen: Unsere Kultusbürokratie gibt Geld aus, damit die Schüler schlechter lernen – so etwas ist einfach unfassbar.“

„DER CHIRURG GOOGELT NICHT“

FOCUS-MONEY-Redakteur Thomas Wolf interviewt Professor Manfred Spitzer

Psychiatrie-Professor Manfred Spitzer warnt davor, dass digitale Medien der Gehirnentwicklung junger Menschen schaden – mit fatalen Folgen für sie, die Gesellschaft und die Wirtschaft.

FOCUS-MONEY: Sie beklagen eine „digitale Demenz“. Nun beschert uns das Internet aber doch eine unglaubliche Menge von Wissen und Information. Wie passt das zusammen: Demenz und Wissenserweiterung?

Manfred Spitzer: Da muss ich etwas ausholen. Wissen ist etwas, das in den Köpfen stattfindet, die Digitalisierung verschafft uns dagegen Zugang zu Informationen. Mit denen können wir aber nur etwas anfangen, wenn wir schon etwas wissen. Wenn man nichts weiß, hat man auch keine Fragen und versteht auch nicht, was los ist. Es ist also unser Geist, der mit den Informationen in Berührung kommt, die uns die digitalen Medien zur Verfügung stellen. Wenn wir sie uns aneignen und in Wissen umsetzen, dann profitieren wir davon. Das wäre der normale Ablauf, der eigentlich ganz gut funktionieren würde. Der Haken dabei ist aber: Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab – und die ist nun mal die Voraussetzung dafür, dass Gehirne sich entwickeln und wir etwas lernen. Für Erwachsene ist die Entwicklung des Gehirns im Großen und Ganzen schon gelaufen, und digitale Medien sind insofern für sie auch kein Problem. Wenn aber digitale Medien auf Gehirne treffen, die sich noch entwickeln, dann sorgen sie für eine Störung der Entwicklung.

MONEY: Aber funktioniert unser Hirn denn nicht so ähnlich wie ein Computer?

Spitzer: Ganz und gar nicht. Im Prinzip ist es so: Unser Gehirn wird ab der Geburt immer besser, es lernt und lernt. Ein Computer kann so viel gespeichert haben, wie er will, er wird deshalb nicht „besser“, denn er rechnet mit seiner CPU (Central Processing Unit) und speichert auf der Festplatte. Beim Gehirn läuft das anders: Ein Hirn hat weder Festplatte noch CPU, sondern Nervenzellen, die verarbeiten Informationen, und dadurch verändern sich die Verbindungen zwischen ihnen, und das ist gleichzeitig auch der Speicher. Das Hirn verändert sich also – je mehr Informationen es verarbeitet, desto besser wird es auch.

MONEY: Geben Sie uns doch mal ein Beispiel.

Spitzer: Nehmen wir das Sprachzentrum. Je mehr Sprachen jemand verarbeitet, desto besser wird das Sprachzentrum. Das beginnt mit der Muttersprache, und wenn das Kind dann eine weitere Sprache lernt, fällt es ihm umso leichter, auch noch eine dritte und vierte zu lernen. Die Sprache ist nämlich nicht irgendwo unabhängig von der Sprachverarbeitung gespeichert, sondern die Sprachzentren sind der Speicher und das, was spricht. Sie haben sicher noch nie jemanden sagen hören: Ich kann fünf Sprachen, meine Sprachzentren sind langsam voll. Das Gegenteil ist richtig: Je mehr Sprachen jemand beherrscht, desto schneller lernt er die nächste. Es wäre daher auch dummes Zeug zu sagen: Ich lerne in meiner Kindheit kein Englisch, weil ich später Chinesisch lernen will und dafür in meinem Sprachzentrum noch Platz brauche. Ich betone das deshalb so stark, weil wir heute immer wieder hören, die Digital Natives würden viel auslagern und hätten deshalb Kapazitäten für andere Inhalte. Das stimmt eben überhaupt nicht. Wenn man Wissen auslagert, hat man schlicht und einfach etwas nicht gelernt – und was ich nicht weiß, kann ich auch nicht zur Aneignung von noch mehr Wissen verwenden. Nicht Englisch zu können macht Sie eben nicht zu einem besseren Chinesisch-Lerner, sondern zu einem schlechteren.

MONEY: Trifft das denn auf alle Inhalte zu?

Spitzer: Dieser Mechanismus trifft nicht nur auf Sprache, sondern auf alle Fähigkeiten zu. Wenn Sie ein Mathematikbuch gelesen haben, werden Sie das nächste besser verstehen; genauso ist es mit dem Gebrauch von Werkzeugen oder einem Musikinstrument. Völlig egal, worum es geht: Je mehr Sie wissen, desto mehr Wissen können Sie sich aneignen. Wenn eine Festplatte halb voll ist, passt nur noch eine weitere Hälfte rein. Beim Gehirn ist es dagegen so, dass wir einen paradoxen Speicher im Kopf haben: Je voller der ist, desto mehr passt rein. Gehirne machen keinen Download, sondern wenn wir uns etwas Neues aneignen, dann verknüpfen wir es mit dem bereits Vorhandenen – und je mehr wir schon haben, desto besser wird es. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir unser Gehirn in jungen Jahren – wenn es noch in der Lage ist, schnell zu lernen – auftrainieren. Dann kann es viel und lernt auch später weiter, auch wenn es dann nur noch langsamer geht. Entscheidend ist, dass das lebenslang funktioniert, wenn man schon viel gelernt hat. Die Entwicklung durch Interaktion zwischen Gehirn und Umwelt führt nach oben, und irgendwann funktioniert ein Gehirn gut.

MONEY: Und wenn es nicht mehr so gut funktioniert – was passiert dann?

Spitzer: Auch wenn die Entwicklung wieder bergab und das Gehirn „kaputt-„geht, gibt es einen entscheidenden Unterschied. Computer stürzen ab oder hängen sich auf, bei Gehirnen dagegen kommt es zur „Graceful Degradation“, wie die Neurowissenschaftler sagen, also zu einer Art „Abstieg in Würde“. Bei Parkinson ist es zum Beispiel so, dass bereits 70 Prozent der Hirnzellen kaputt sind, ehe der Betroffene zu merken beginnt, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung ist. Es gibt also eine hohe Reserve; wer ein gut entwickeltes Gehirn hat, ist in der Entwicklung relativ weit oben angelangt. Nun ist Demenz nichts anderes als ein geistiger Abstieg. Und für jeden Abstieg gilt: Je höher der Ausgangspunkt liegt, desto länger dauert es, bis man unten ankommt. Wer vom Matterhorn absteigt, kann lange absteigen und ist immer noch relativ weit oben. Wer von der Sanddüne zum Meer läuft, ist dagegen ziemlich schnell unten. Das wird oft vergessen, wenn von Demenz die Rede ist.

MONEY: Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Spitzer: Oft publiziert wird das Beispiel der Ordensschwester Maria, die bis zum Alter von 84 als Lehrerin gearbeitet hatte und mit 101 starb. Sie hatte an einer über Jahrzehnte laufenden Versuchsreihe teilgenommen, bei der jedes Jahr die Hirnleistung der Probanden getestet wurde. Auch kurz vor ihrem Tod war Schwester Maria noch getestet worden und hatte Spitzenergebnisse erzielt, ihre Hirnleistung war also völlig in Ordnung. Als nach ihrem Tod ihr Gehirn untersucht wurde, stellte sich heraus: Es war bereits ziemlich geschädigt durch eine bestehende Alzheimer-Krankheit.

MONEY: Und wenn sie in ihrer Jugend mit digitalen Medien aufgewachsen wäre, wäre das nicht möglich gewesen?

Spitzer: Wenn ich von digitaler Demenz spreche, meine ich das ganz wörtlich. Wenn digitale Medien dafür sorgen, dass unsere Gehirnentwicklung Schaden nimmt – und wir wissen, dass sie das tun -, dann kommen junge Menschen in ihrer Hirnleistung eben nicht mehr so weit nach oben, sind geistig nicht mehr so fit, können sich nicht mehr konzentrieren, sind nicht mehr so belastbar. Wenn es bei denen dann ein paar Jahrzehnte später bergab geht, dann sind die gleich „verloren“. Das werden wir erleben, und das wird uns zwei- bis dreistellige Milliardenbeträge jährlich kosten. Auch wenn wir das nicht gern zur Kenntnis nehmen, wird es genau so kommen.

MONEY: Sie sprechen viel vom Lernen. Was passiert dabei eigentlich? Was ist Lernen?

Spitzer: Lernen ist eine grundlegende Fähigkeit des Gehirns, die darin besteht, dass es sich ändert, sobald es Informationen verarbeitet. Das passiert mikroanatomisch durch Veränderung der Nervenzellen. Zwischen ihnen entstehen Verbindungen, die sogenannten Synapsen, die zur Informationsverarbeitung dienen. Und wenn diese Verbindungen benutzt werden, werden sie auch verstärkt. Nutzen wir sie nicht, werden sie geschwächt und am Ende ganz weggeräumt. Dieses Aufbauen und Verschwinden ist in jungen Jahren besonders stark; da schießen solche Verbindungen förmlich ins Kraut, so wie im Frühjahr die Knospen treiben und alles wächst. In älteren Jahren wird das, was man nicht mehr braucht, weggeräumt. In manchen Gehirnbereichen ist die maximale Zahl der Verbindungen im Alter von acht Monaten erreicht, in anderen mit acht Jahren – später wird es dann wieder weniger. Das Wegräumen der Verbindungen ist Teil des Reifungsprozesses und ganz natürlich: Was wirklich nötig ist, bleibt, und was wir nicht brauchen, verschwindet. Problematisch wird es allerdings dann, wenn zu viele Verbindungen weggeräumt werden oder gar nicht richtig entstanden sind. Dann gibt es irgendwann eben auch keine Chance mehr, daran noch etwas zu ändern.

MONEY: Was bedeutet das dann in der Praxis?

Spitzer: Ein gutes Beispiel sind Kinder, die auf Grund einer Sehschwäche Weiterlesen

Bundesbildungsministerium: »Einmaleins und ABC nur noch mit PC.«

»Gegen den Algorithmus kann es kein Aufbegehren geben«

Ralf Wurzbacher im Gespräch mit Matthias Burchardt. Über den digitalen Angriff auf die Schulen, asoziale soziale Netzwerke und die Morgendämmerung des Maschinenmenschen.

Dr. Matthias Burchardt ist Akademischer Rat am »Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne« an der Universität zu Köln und stellvertretender Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW).

Ralf Wurzbacher:  (…) Die Online- und Spielsucht in Deutschland nimmt immer gravierendere Ausmaße an. Laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Marlene Mortler, CSU, gelten heute bereits 560.000 Menschen als computersüchtig. Kinder und Jugendliche sind dabei besonders gefährdet. [Im Oktober 2016] hat die Bundesregierung die Auflage eines fünf Milliarden Euro schweren Programms zur Ausstattung aller deutschen Schulen mit modernster digitaler Technologie angekündigt. Den sogenannten Digitalpakt #D bewirbt das von Johanna Wanka, CDU, geführte Bundesbildungsministerium mit: »Einmaleins und ABC nur noch mit PC.« Wie gut schlafen Sie noch bei all dem, oder Ihre Kinder?

Matthias Burchardt: Frau Wanka entfesselt die nächste Welle durch einen Pakt, der den Charakter einer Gewalttat im Gewand einer Wohltat hat. Mir bereitet dieser Angriff auf die Schulen tatsächlich große Sorgen. Meine Kinder dagegen schlafen gut, weil ihre innere Uhr abends nicht vom Bildschirmlicht gestört wird. Tatsächlich gehören Schlaf- und Konzentrationsstörungen zu den bedenklichen Nebenwirkungen dieser Systeme, von der hohen Suchtgefährdung ganz abgesehen.

Was ist so anders daran, mit Smartphone oder Tablet zu lernen, verglichen mit den bisher gängigen Methoden?

Wenn ich den Slogan richtig deute, ist Frau Wanka nicht in erster Linie an einer soliden Geräteausstattung gelegen, die dann nach fachdidaktischen Entscheidungen der Lehrerin oder des Lehrers bedarfsweise eingesetzt wird. Ihr geht es um einen Umbau der pädagogischen Substanz von Schule: »nur noch mit PC«. Bisher galt aus guten Gründen, dass Lernen in Beziehung stattfindet, verantwortet von einer in Fach und Vermittlung souveränen Lehrperson. Diese soziale Dimension von Bildung wird aber verdrängt, wenn der Bildschirm zunehmend zum Bezugspunkt wird. Es ist übrigens eine Illusion zu glauben, dass diese Geräte ein neutrales Instrument wären, das in den Händen der richtigen Leute zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen würde. Zum einen vergrößert digitalisierter Unterricht die soziale Spaltung, anstatt sie zu überwinden. Mehr denn je wird dann nämlich das kulturelle Kapital der Eltern ausschlaggebend für den Bildungserfolg sein. Zum anderen verkennt man die Eigengesetzlichkeit des Mediums, das einem nämlich nur dann gehorcht, wenn man sich ihm unterwirft. Im Grunde funktionieren die digitalen Medien wie ein Fetisch. Sie suggerieren dem Nutzer Freiheit und Souveränität, liefern ihn aber einer Abhängigkeit aus. Sowenig der Seidenstrumpf oder die Götterstatue tatsächliches Liebesglück oder religiöse Erlösung zustande bringen, sowenig können digitale Lehrmittel und Medien die Aufgaben eines Lehrers ersetzen oder auf technischem Weg die Bildung von Schülern bewerkstelligen.

Wie und warum »unterwirft« man sich der digitalen Technologie, wenn man, um beim Beispiel zu bleiben, das Alphabet auf dem Tablet einübt?

Diese Unterwerfung hat mehrere Dimensionen. Zum einen hat Lernsoftware bei allem Geblinke und Gedudel die Dialogfähigkeit eines Formulars und die Sturheit eines Sprachmenüs bei einer Servicehotline. Rückfragen, Verständigung oder auch Einflussnahme auf Inhalt und Art es Lerngeschehens sind nicht wirklich möglich. Im zwischenmenschlichen Unterricht kann der Schüler mittendrin die Sinnfrage aufwerfen, ganz im Sinne von Ruth Cohn: »Störungen haben Vorrang!« Software ist rigoroser als jeder autoritäre Lehrer, die Entmündigung geschieht auf dem Wege des anonymen Algorithmus, gegen den es kein Aufbegehren geben kann. Und dann gibt es eine noch verborgenere Form der Unterwerfung: Die Geräte spionieren ihre Nutzer aus, erheben Daten, generieren Verhaltensprofile und gewinnen so ein Herrschaftswissen, das zur Steuerung der Menschen genutzt werden kann. Sicher wird man hier behaupten, dass dies alles der Optimierung von Lernen dienen soll. Aber worin besteht dieses Optimum? Mündigkeit oder Anpassung an Sachzwänge, die uns die sture Maschine präsentiert – als Einübung für die Insassen der »Industrie 4.0«? (…)

Vor zwei Jahren hat Bertelsmann verkündet, ganz groß ins Geschäft mit Bildung einzusteigen und damit in drei bis fünf Jahren eine Milliarde Euro zu erlösen. Riesige Profite verspricht sich Europas führender Medienkonzern vor allem durch E- Learning-Angebote für Schulen und Hochschulen. Fast zeitgleich hat die Bundesregierung im Sommer 2014 ihre »digitale Agenda« ausgerufen, in deren Rahmen man die deutschen Bildungseinrichtungen zunächst mit der Hardware versorgen will, die es für die schönen neuen Softwarelösungen braucht. Die Koinzidenz beider Vorstöße lässt erahnen: Gütersloh und das Kanzleramt sind schon jetzt bestens vernetzt.

Eine Kollegin war in Berlin anwesend, als Frau Wanka die Digitalisierungsinitiative vorgestellt hat. Sie berichtete, dass die Ministerin ausdrücklich auf ihren »Freund Jörg Dräger« [Bertelsmann-Stiftung] verwiesen hat, der ihr den erfolgreichen Einsatz digitaler Lehrmittel demonstriert habe. Zudem müsse man an die Daten der Schüler kommen. Über diese anekdotische Annäherung hinaus bedarf es natürlich einer sytematischen Aufarbeitung der Beziehungen zwischen der Politik und der Stiftung. Einen ersten, wesentlichen Beitrag dazu hat die Landtagsfraktion der Piraten in Nordrhein-Westfalen mit einer großen Anfrage zu den Verflechtungen zwischen Gütersloh und Düsseldorf geleistet. Die Antwort der Regierung liegt vor, aber obwohl sie durchaus skandalöse Aspekte enthält, berichten die Qualitätsmedien nicht darüber.

Bei Bertelsmann fällt einem ja zuerst der TV-Sender RTL ein. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie hören, dass der Konzern jetzt ganz groß auf Bildung macht?

Tatsächlich sind die Sender der RTLGruppe nicht unbedingt für ihre hochwertigen Bildungsangebote in die Geschichte eingegangen. Es entsteht insofern ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn man sich in Sachen Bildung »beratend« in die Politik einmischt, während die eigenen Formate eher wie ein Abgesang auf die Ansprüche einer humanistischen oder emanzipatorischen Kultur erscheinen. Kritiker werfen der Stiftung deshalb vor, dass hinter den sozialpolitisch konsensheischenden Zielen im Grunde die Agenda einer neoliberalen Umsteuerung verfolgt wird. Nebenbei kann man natürlich auf dem Digitalisierungsmarkt viel Geld verdienen.

Wenn die Interessenlage so durchsichtig ist, warum machen dann alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte bei diesem Hype mit? Selbst die Gewerkschaften singen das Hohelied auf das digitale Klassenzimmer und bekritteln allenfalls, dass es dafür mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte bräuchte. Dabei gibt es doch Kritik aus berufenem Munde: Fast alle Kinderärzte warnen, dass der Gebrauch der neuen Medien die körperliche und kognitive Entwicklung von Kindern stört und mitunter krank und blöd machen kann. Will das einfach keiner hören?

Über die Gründe kann man nur spekulieren. Hier treffen wohl Naivität und erfolgreiche Lobbyarbeit aufeinander. Das Internet und der Computer wurden von Beginn an als Militärtechnologien genutzt und gefördert. In einer Verquickung von politischen und ökonomischen Interessen wurden auch die Privathaushalte seit den 1980er Jahren mit Geräten und in den 1990ern mit Internetanschlüssen versorgt. Computer wurden als pädagogisch wertvoll gepriesen und das Netz als Ort der freien Zirkulation von Informationen. In der »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace« entwirft John Perry Barlow 1996 die Utopie einer neuen Welt der Freiheit, die nicht mehr durch staatliche Repression kontrolliert wird. Man hätte damals stutzig werden müssen, dass dieses Manifest ausgerechnet in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum vorgetragen wurde. (…)

Ende August war in einem Artikel der New York Post zu lesen, dass leitende Angestellte aus dem Silicon Valley ihre Kinder gerade nicht in diese hippen Technoschulen schicken, wo schon kleine Menschen mit Smartphone und Tablet großgezogen werden. Und gleichzeitig machen diese Leute Milliardenprofite damit, dass Heranwachsende ihr ganzes Leben bei Facebook, Twitter und Youtube entblößen. Ist es wirklich nur das Geld, das die Digitalhysterie befeuert?

Es ist bekannt, dass die Kinder von Steve Jobs kein I-Pad oder I-Phone hatten. Ganz nach dem Motto: »Analog ist das neue Bio« gestalten Eltern das Leben ihrer Kinder bewusst frei von digitalen Medien, sogar wenn sie mit IT ihr Geld verdienen. Ich glaube aber nicht, dass es nur um Geschäfte geht. Es entsteht ein Instrument totaler Überwachung und Steuerung, das den Ansprüchen einer aufklärerisch-emanzipatorischen Gesellschaft fundamental entgegenwirkt und uns zu Insassen im Raum eines technischen Kraftfeldes macht, das nicht im Netz endet, sondern auch das Politische selbst vernichtet. Die US-Politologin Wendy Brown hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Verfahren des Governance – als einem Steuerungsmodell gesellschaftlicher Prozesse auf Basis von Daten, Kennziffern und Sollwerten – den Akteuren quasi eine neue geistige Firmware aufgespielt wurde. Das führt dazu, dass ein jeder die Illusion von Handlungsfreiheit und ethischer Integrität hat, aber gleichwohl aufgrund der Systemlogik genau dieselben Entscheidungen trifft, die auch der durchtriebenste Verfechter des Neoliberalismus getroffen hätte. (…)

Sie waren für die Fraktion Die Linke im Hessischen Landtag Sachverständiger zum Thema Digitalisierung in der Enquetekommission »Kein Kind zurücklassen«. In Ihrem Gutachten heißt es klipp und klar: »Die Digitalisierung ist nur ein weiterer Schritt zur Entstaatlichung und Ökonomisierung des Bildungssystems.« Wundert es Sie nicht, dass Die Linke im Bundestag davon gar nichts wissen will? Die bildungspolitische Sprecherin Rosemarie Hein warnte Frau Wanka vor einem Monat allen Ernstes  davor, »bei der Ausstattung der Schulen keine halben Sachen zu machen«.

Ich würde mich sehr freuen, auch mit den Akteuren auf Bundesebene ins Gespräch zu kommen, denn ich unterstelle zunächst einmal den meisten Politikern guten Willen, aber auch Unkenntnis. Dass eine gewisse Geräteausstattung pädagogisch und organisatorisch sinnvoll ist, würde ich auch unterstreichen. Doch eine solche Überlegung darf nicht auf die Analyse der Interessen und Folgen verzichten. Wenn die Linkspartei gegen gesellschaftliche Spaltung vorgehen möchte, sollte sie zur Kenntnis nehmen, dass Digitalisierung keine Lösung, sondern ein Problem ist.

Spielerei, Bedrohung, Stütze – wie man den Einsatz digitaler Technologie im Klassenzimmer bewertet, hat oft mehr mit Ideologie als mit Auseinandersetzung zu tun.

zum Artikel:  Die TAGESZEITUNG jungeWelt, 19./20. November 2016, Nr. 271, »Gegen den Algorithmus kann es kein Aufbegehren geben«

„Digitaloffensive für Schulen ist eine „Scheinlösung“

Weitere Beiträge zum „Digitalen Lernen“

(…) Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung fordert: „Inhalte statt Geräten“. Tablets und soziale Netzwerke verwenden zu können, heißt noch lange nicht, den digitalen Wandel zu meistern. Vollständig digital kompetent sei nur, wer die theoretischen Grundlagen verstehe. Um diese zu vermitteln, sollten digitale Medien aber „nur ergänzend eingesetzt werden“: „Nach Erfahrung der überwältigenden Mehrheit der Mathematikerinnen und Mathematiker weltweit sind Tafel, Papier und das direkte Unterrichtsgespräch meist viel besser geeignet.“ Priorität müsse bleiben, das analytische Denken gezielt zu lehren. Die Mathematiker halten daher die von Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) vorgeschlagenen Digitaloffensive für Schulen für eine „Scheinlösung“ (…)

Aus:  TSP, 16.11.2016, Tilmann Warnecke, „Digitales Lernen lernen“


(…) Massive Verlierer der neuen Bildungskatastrophe werden diejenigen sein, die in Spracharmut und mit gleichzeitiger Reizinflation aufwachsen – zwischen flimmernden Playstations, Fernsehern, Smartphones. Und das sind Millionen.

Gerade ihnen muss Schule bieten, was immer essentieller wird: die Kenntnis der enormen Privilegien des Analogen trotz digitalisiertem Alltag. Vermitteln kann das nur der analoge Mensch, der präsente, gut ausgebildete und motivierte, der auch individuell mit Schülern arbeitet. Jemand der sie sieht.

Das kostet mehr, als sämtliche Schulen mit Computern zu pflastern, einige Milliarden mehr. Besser würde jedoch in der Bildungsrepublik nirgends investiert.

Aus:  TSP, 22.09.2016, Caroline Fetscher, „Lesen, denken, reden, kochen“


(…) Zu den Auswirkungen von Smartphones auf Schüler und ihre Leistungen gibt es inzwischen viele Studien, die laut dem Hirnforscher Manfred Spitzer nach unterschiedlichen Methoden immer zum selben Ergebnis kommen: Schüler, die keine Smartphones in die Schule mitbringen dürfen, lernen besser und fühlen sich wohler. Und dann stellt man ihnen Laptops vor die Nase? Das ist ja fast schon Sabotage.

Das gute Geld, das die Bildungsministerin versprochen hat, wäre mit Sicherheit besser angelegt in Lehrerschulungen, denn bei guten Lehrern lernt man gut (…).

Aus:  TSP, 20.10.2016, Ariane Bremer, „Rettet die bildschirmfreien Klassenzimmer!“

Durch die Online-Kommunikation leidet die Qualität persönlicher Beziehungen

Datum:   08.08.2015
Postbank-Studie: Deutsche sind 40 Stunden pro Woche im Internet

Die Deutschen sind aktuell 40 Stunden in der Woche im World Wide Web unterwegs – eine durchschnittliche Arbeitswoche. Besonders online-affine Bundesbürger surfen sogar noch 14 Stunden mehr. Die meiste Zeit verbringen die Berliner im Netz (50,6 Stunden), verhältnismäßig wenig dagegen die Bayern: Sie sind durchschnittlich nur knapp 36 Stunden wöchentlich online. Deutschlandweit ist die Kommunikation über Online-Kanäle in den vergangenen zwölf Monaten gestiegen. (…)

Mit knapp 52 Stunden surfen die 18- bis 24-Jährigen am längsten im Netz. Doch auch die Altersgruppe 60plus kommt auf fast 30 Stunden. Männer und Frauen verbringen dabei etwa gleich viel Zeit online. Das meistgenutzte Gerät zum Surfen ist der Laptop, den 68 Prozent der Befragten verwenden. Der Siegeszug des Smartphones scheint jedoch unaufhaltsam: 57 Prozent aller Deutschen gehen damit bereits mobil online, insgesamt 18 Stunden pro Woche. Bei den besonders technik-affinen Deutschen, den so genannten Digital Natives und den Early Adopters, ist das Smartphone mit 84 Prozent Nutzung bereits die erste Wahl. Auch Tablet-PCs sind auf dem Vormarsch: 32 Prozent der Deutschen und 44 Prozent der digitalen Trendsetter nutzen sie regelmäßig, so die Studie. (…)

Auch privat kommunizieren die Deutschen über mehrere digitale Kanäle. Überraschendes Ergebnis der Studie: Die klassische SMS ist als privater Kommunikationskanal weiter beliebt, fast zwei Drittel der digitalen Deutschen nutzen sie zum Austausch mit Familie und Freunden. Am häufigsten wird aber per Instant Messenger wie z.B. WhatsApp (73 Prozent) kommuniziert, gefolgt von E-Mail (67 Prozent) und Social Media (65 Prozent). (…)

Die Postbank Studie zeigt  noch eine andere Entwicklung: Bei vielen Deutschen steigt der Wunsch nach persönlichem Kontakt. So sind 64 Prozent der Meinung, dass durch die steigende Online-kommunikation die Qualität persönlicher Beziehungen leidet. 53 Prozent lehnen es ab, ständig erreichbar zu sein. Auch die technik-affinen Bundesbürger sehen nicht nur Vorteile in der digitalen Kommunikation: 61 Prozent von ihnen befürchten, dass persönliche Beziehungen beeinträchtigt werden könnten. (…)

zum Artikel:  Deutsche Postbank AG, Presseportal, 07.08.2015, Postbank-Studie: Deutsche sind 40 Stunden pro Woche im Internet


Spielen, spielen, spielen und chatten, chatten, chatten: Manche Jugendliche sind süchtig nach dem Internet.

Nach vorsichtigen Schätzungen sind in deutschsprachigen Ländern über fünf Millionen Menschen von einer problematischen oder pathologischen Internetnutzung betroffen. (…)

Das Leben im Internet erscheint ihnen vertrauter, beherrschbarer als das reale Leben, in dem sie mit Anforderungen von Menschen konfrontiert sind, die sie nicht einfach so wegklicken können. (…)

Die Games-Industrie feiert Computerspiele, etwa bei der am 6. August anstehenden „Gamescom“ in Köln, als „Wirtschaftsfaktor, Innovationstreiber, Lernwerkzeug und Kulturgut“; zu erwähnen, dass bestimmte Spiele ein besonders hohes Suchtpotenzial haben, würde das rosige Bild stören. (…)

zum Artikel:   Tagesspiegel, Wissen & Forschung, 23.07.2015, Dorothea Nolte, Hilfe für die digital verwahrloste Jugend

Fragen zur Medienkompetenz unserer Jugend

Datum:  07.08.2015
Kinder stark für den Umgang mit Medien machen

Dr. Eliane Gautschi (Zeit-Fragen) interviewt Uwe Buermann aus Berlin. Er arbeitet als Lehrer und pädagogisch-therapeutischer Medienberater an der Freien Waldorfschule Mittelrhein, zum anderen ist er Mitbegründer und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IPSUM. IPSUM ist das Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie mit Hauptsitz in Stuttgart und einer Zweigstelle in Kiel. Seit 19 Jahren referiert er in Kindergärten, Schulen, Seminaren, Hochschulen und Universitäten in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Tschechien über das Thema Medien.

Zeit-Fragen: Medien sind heute in unserem Lebensalltag überall präsent. Für viele Eltern stellt sich deshalb die Frage, wie ihre Kinder die nötige Medienkompetenz erwerben. Was braucht es dazu?
Uwe Buermann: Wir leben im Medienzeitalter. Das ist gut so, aber es ist eine Herausforderung. Um eins vorwegzunehmen: Wir müssen wegkommen von Debatten, die geführt werden zur Frage:«Ist das Internet gut oder schlecht, sind Smartphones gut oder schlecht?» So kommen wir nicht weiter. Es geht letztlich um die Frage: «Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten muss ich als Nutzer mitbringen, damit ich die verschiedenen Geräte und Angebote sinnhaft nutzen kann?» (…)

Was erachten Sie als Voraussetzungen für einen kompetenten Umgang mit Medien?
(…) Medienkompetenz erwerben die Kinder nicht am Computer, sondern in der Familie und in der Schule, wo sie an das Wissen und die gesellschaftlichen Werte herangeführt werden. Nur so kommen sie in die Lage, die Medien richtig zu verwenden.

Die Medien richtig verwenden, was muss ich da unter anderem wissen?
In diesem Zusammenhang pflege ich an meinen Veranstaltungen die Frage nach den Nutzungsbedingungen zu stellen. Es stellt sich immer wieder heraus, dass äusserst selten irgendein Benutzer eines Smartphones die Nutzungsbedingungen von Facebook, WhatsApp und Instagramm wenigstens auszugsweise gelesen und verstanden hat. (…)
Im Internet kommen die AGB ja erst, wenn ich schon lange im Anmeldeprozess bin. Das heisst, ich habe mich schon längst entschieden mitzumachen, und dann kommen da die Seiten mit Juristendeutsch. Da ist mir doch klar: Wenn ich auf Ablehnen drücke, mache ich nicht mit, wenn ich anfange zu lesen, dann bin ich eher verwirrt als informiert, also klicke ich auf «annehmen»! Ich kann das alles verstehen. (…)
Bei jeder App, die unsere Kinder und Jugendlichen herunterladen, akzeptieren sie die Nutzungsbedingungen, und sie unterschreiben einen Vertrag, ohne ein Wort davon zu lesen. Das lernen sie von uns, wir machen es ja auch so. Wenn wir nun an unsere Kinder denken, wenn die dann einmal den ersten Mietvertrag oder den ersten Arbeitsvertrag vorgelegt kriegen, woher soll dann bei denen der Impuls kommen, auch nur ein Wort von diesem Vertrag zu lesen? Das heisst, die werden das genau so unterschreiben, wie sie zurzeit eine App herunterladen und die Nutzungsbedingungen akzeptieren, ohne sie gelesen zu haben. Wir haben da eine Verantwortung.

Sie erwähnen die Verantwortung von uns Erwachsenen. Das betrifft vermutlich auch den Zeitpunkt, an dem wir unseren Kindern und Jugendlichen ein Smartphone übergeben?
Ja, auch hier haben wir, wie ich an Veranstaltungen merke, als Erwachsene und Kinder ebenfalls so gewisse kollektive Denkfehler. «Ab wann darf man eigentlich bei WhatsApp teilnehmen?» habe ich die Kinder gefragt. Ab 16 Jahren, es geht gar nicht vorher. Und ich habe gefragt, wer welche Geräte hat. Sehr viele haben Smartphones, dann habe ich die einzelnen gefragt: «Wem gehört das?» Da gucken sie einen befremdet an und sagen: «Mir!» Dann kommt von mir immer nur: «Versuch es nochmal, wir spulen zurück.» Nun kommen interessante Theorien: «Google?» Schliess­lich kommt so langsam das Näherrücken: «Meinen Eltern?» Schon besser, aber immer noch falsch. Das ist ja eben der Punkt. Ich kann überall problemlos eine SIM-Karte kaufen fürs Prepaid-Handy. Aber ich muss jede SIM-Karte freischalten übers Internet oder übers Telefon. Und da muss ich die Personendaten einer Person angeben, die mindestens 16 Jahre alt ist. Jede SIM-Karte ist auf eine Person registriert und bleibt es. Das sind nicht die Eltern, das sind konkret Vater oder Mutter, einer hat unterschrieben. Wenn ich einen Vertrag abschliessen will fürs Handy oder fürs Smartphone, muss ich 18 sein und einen Ausweis vorlegen. Das Gerät wird auf diese Person registriert. Der kollektive Denkfehler ist, dass Eltern bis heute meinen, sie könnten ihrem Kind so ein Gerät schenken. Es ist juristisch unmöglich, es geht gar nicht. Sie können es leihen, wem sie wollen, aber die SIM-Karte ist und bleibt auf sie registriert. Das ist ja eben der Punkt! Bei WhatsApp muss ich bei der Registrierung keinen Namen und kein Geburtsdatum angeben. Aber ich brauche eineTelefonnummer, und weil die erst ab 16 erworben werden kann, ist es auch juristisch gegeben, dass es keine Person unter 16 gibt, die bei WhatsApp mitmacht; denn es macht nicht Ihr Kind bei WhatsApp mit, sondern Ihr Kind macht in Ihrem Namen bei WhatsApp mit. Wenn dann etwas schiefläuft und es eine Anzeige wegen Beleidigung, Sexting oder sonst etwas gibt, dann kommt die Anzeige bei Vater oder Mutter an, bei der Person, auf welche die Rufnummer registriert ist. Das machen sich viele immer noch nicht klar. Wir sind als Erwachsene verantwortlich für das, was unsere Kinder und Jugendlichen auf den Geräten machen. Wir haben eine Fürsorgepflicht ihnen gegenüber. (…)

Das Problem ist ja auch die ganze Datenüberwachung!
Wir müssen natürlich diese ganze Datenüberwachung ernster nehmen. Es gibt Alternativen zu WhatsApp. Mir ist schon klar, ich kann nicht einfach sagen: Löscht WhatsApp! Wenn die Kinder schon dabei sind und diese Gruppendynamik und -struktur haben, dann kann ich nicht einfach sagen, sie sollen es lassen. Aber WhatsApp ist, vor allem seit es zu Facebook gehört, datenschutztechnisch ein Riesenproblem. Es ist faktisch die datenschutzmässig schlimmste App, die wir zurzeit haben. Viele wissen das nicht: Bei den letzten beiden Zwangs-Updates kam das Kamerarecht dazu. Das bedeutet, dass jedes Mal, wenn man WhatsApp startet und das Gerät eine Frontkamera hat, vom Nutzer ein Foto angefertigt wird. Dass Facebook alle Fotos biometrisch bearbeitet, ist hinlänglich bekannt. Das heisst, auch wenn ich kein Profilbild hinterlegt habe, kennt Facebook das Gesicht der Nutzer. Beim letzten Zwangs-Update im Januar dieses Jahres kam es dazu, dass WhatsApp jetzt Mikrofonzugriff hat. Es findet natürlich nicht permanent statt, keine falsche Panik, das würde auch das Datennetz nicht hergeben, es findet aber statt.

Gibt es Alternativen zu WhatsApp?
Die Alternative, die ich den Schülern genannt habe: Nach aktuellem Stand meiner Kenntnisse und nach bestem Wissen und Gewissen ist es Threema, ein Schweizer Qualitätsprodukt, die Programmierer sitzen in Zürich. Threema kann alles, was WhatsApp auch kann – inklusive Gruppen bilden, Sprachnachrichten, Fotos, Text. Der Vorteil ist, die Daten werden automatisch nach zwei Monaten auf dem Server gelöscht, also keiner kann später in seinem Berufsleben Probleme kriegen für das, was er als Jugendlicher gepostet hat. Bei Threema wird alles «peer to peer» verschlüsselt. Von daher ist Threema die aktuelle Alternative. Es gibt keine Werbung und die Daten werden nicht an Dritte weitergegeben. Was will man mehr? Und «aktueller Stand» heisst natürlich: Sollten Sie jemals in den Medien hören, dass Threema gekauft worden ist, dann muss man natürlich wieder wechseln. Aber es wäre schön, wenn Sie als Eltern Ihre Kinder, wenn sie eben zurzeit WhatsApp nutzen, darin unterstützen, ihre Kollegen dazu zu bewegen, auf Threema zu wechseln. Das ist ein Problem, das weiss ich auch. Wenn ich einem Jugendlichen sage, wechsle zu Threema, und seine Kollegen nicht mitmachen, dann nützt es gar nichts. Deshalb habe ich die Jugendlichen animiert, heute ihre letzte WhatsApp-Nachricht ihres Lebens zu verschicken an alle ihre Kontakte mit etwa folgendem Inhalt: «Ich bin doch nicht blöd, ich mach hier nicht mehr mit, ihr trefft mich jetzt bei Threema.» (…)

Die Fürsorgepflicht der Erwachsenen gegenüber ihren Kindern steht also im Zentrum?
Ja, zum einen bezüglich der Daten, die über Kinder oder Jugendliche gesammelt werden. Die Spuren im Internet sind unauslöschlich. (…) Immer mehr Personalchefs aus Firmen nutzen die Daten der Internetnutzung bei der Entscheidung, wer eingestellt wird. Klar, bei Versicherungen spielt es mittlerweile eine Rolle. So kann in Deutschland theoretisch eine Gesellschaft im Falle eines Einbruchdiebstahls den Versicherungsnehmer einer Hausratsversicherung fragen, ob er bei Facebook oder WhatsApp ist. Wenn er nein sagt, und es stellt sich heraus, er ist es doch, dann hat er keinen Versicherungsanspruch. Und wenn er ja sagt, dann darf die Versicherung bei Facebook die Kommunikation der letzten drei Tage einkaufen. Alles, was dieser User bei Facebook oder WhatsApp geschrieben hat! Und wenn er denn da irgendwo geschrieben hat: «Wir sind am Wochenende für drei Tage weg», gilt das als grobfahrlässiges Verhalten und dann erlischt der Versicherungsschutz. (…)

Was wäre nun der Weg zur Medienkompetenz?
Was ich am Anfang gesagt habe, meine ich ganz ernst. Ich will nicht sagen, Smartphones sind schlecht. Ich will nicht sagen, das Internet ist schlecht. Dass das alles auch seine Vorteile in sich birgt, ist mir völlig klar. Denken Sie noch einmal an das, was ich eben sagte. Die Frage, die wir stellen müssen, ist die: «Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten muss ich als Nutzer mitbringen, um damit sinnvoll umzugehen?» Ich sage nicht, ich darf Facebook nicht benutzen. Aber ich muss mir doch sehr gut überlegen, was ich da hineinschreibe. Wenn wir das jetzt alles noch einmal zusammen nehmen, dann haben wir ein Dilemma. Und das bemängle ich beim Unterricht zur Medienkompetenz. Sie wird reduziert auf die Frage: Weiss ich, wie ich die Geräte bedienen kann? Das ist nicht Medienkompetenz, das können Dreijährige! Aber gerade in diesen Sachen, die ich versucht habe hier darzustellen, kann doch vielleicht deutlich werden, dass es um ganz andere Fragen geht, die viel wichtiger sind: «Habe ich eine Urteilsfähigkeit auch im Sinne einer Selbsteinschätzung?» «Kann ich mir klarmachen, nach welchen Themen ich im Internet recherchieren kann und wo ich besser in die Bibliothek gehe?» «Welche Themen kann ich mit meinen Kollegen im Internet diskutieren, was sollte ich lieber von Mund zu Ohr machen oder am Telefon oder per Post?» «Es gibt Dinge, die sollte ich auch im Jahre 2015 lieber in einem Brief als im Internet schreiben.» Nicht einmal uns Erwachsenen sind all diese Zusammenhänge bewusst, wie sollen dann 14jährige das durchschauen! Wir alle haben es doch auch erlebt, mit 14 ist das primäre Lebensziel 16 zu werden, und die Utopisten in der Klasse denken an 18, und alles danach ist Science-fiction. Natürlich kann ich mich vor den Jugendlichen stellen und sagen: «Denk an deine berufliche Karriere!» Das haben unsere Eltern und Lehrer auch gemacht. Das geht hinein und da raus. Und jetzt haben wir wieder ein historisches Dilemma. Wir konnten uns das erlauben. Wir alle haben doch auch viel Blödsinn gemacht. Und das Schöne ist, keiner hat eine Ahnung, was wir alles angestellt haben! Selbst unsere Partnerinnen und Partner wissen nicht, was wir für einen Mist erzählt haben. Das Problem der jungen Generation von heute ist: Wenn die so bedenkenlos das Internet und Smartphones nutzen, wie sie es zurzeit tun, sind die durch die Bank weg potentiell erpressbar. Das ist das Problem und das heisst, diese Regelung «Smartphone erst ab 16» ist nicht nur juristisch, sondern auch entwicklungspsychologisch korrekt. Und es mü­sste uns eigentlich klar sein, – und ich weiss, es ist völlig gegen den Trend – aber wenn ich einem 12jährigen ein Smartphone aushändige, dann ist die eine oder andere Katastrophe vorprogrammiert (ob jetzt Sexting, Mobbing oder Probleme im Berufsleben). Die Frage ist eigentlich nur, welche Katastrophe es sein wird. (…)

zum Artikel:   Zeit-Fragen, Nr. 15/16, 9. Juni 2015, Dr. Eliane Gautschi interviewt Uwe Buermann zum Thema:  Kinder stark für den Umgang mit Medien machen

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin


 zur web-Seite von Uwe Buermann


In ihrem aktuellen Test 8/2015  hatte die Stiftung Warentest herausgefunden, dass viele beliebte Messenger-Apps einen fragwürdigen Umgang mit persönlichen Daten der Nutzer praktizieren. Siehe Artikel:  Datenschutzlücken bei WhatsApp und Co. 

Datenschutzlücken bei WhatsApp und Co.

Datum:  03.08.2015
Was neugierige Bäckersfrauen und WhatsApp gemeinsam haben

Eine Bäckerei am Morgen. Die Frau hinter dem Tresen bedient eine Kundin, sie reicht Brot und Brötchen an, nimmt Kleingeld entgegen. Eine ganz normale Szene – bis die Verkäuferin plötzlich persönliche Fragen stellt: „Wo waren Sie gestern um 20 Uhr? Wem haben Sie die letzte SMS geschrieben? Wie lautet Ihre Telefonnummer?“ Die Kundschaft ist völlig verdattert. Wer möchte der Bäckersfrau schon gerne erzählen, was er am Abend zuvor unternommen hat?

Mit einem Video, in dem eine neugierige Bäckersfrau die Hauptrolle spielt, macht die Stiftung Warentest bei Facebook auf den zu laschen Umgang vieler Smartphone-Benutzer mit ihren Daten aufmerksam. Denn natürlich möchte niemand der Verkäuferin im Laden an der Ecke die eigene Telefonnummer verraten. (…)

In ihrem aktuellen Test 8/2015 hatte die Stiftung Warentest herausgefunden, dass viele beliebte Messenger-Apps einen fragwürdigen Umgang mit persönlichen Daten der Nutzer praktizieren. WhatsApp und der Facebook-Messenger wurden in der Datenschutz-Kategorie am schlechtesten bewertet und erhielten hier nur ein „ausreichend“. Testsieger wurde die App Hoccer aus Deutschland, dicht gefolgt von Threema aus der Schweiz.

zum Artikel:  Handelsblatt, 03.08.2015, tha, Was neugierige Bäckersfrauen und WhatsApp gemeinsam haben


Die Tester untersuchten unter anderem, ob der jeweilige Messenger eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung der verschickten Nachricht bietet, welche Daten beim Einrichten des Dienstes abgefragt werden und ob die Anwendung automatisch das Adressbuch des Smartphones ausliest. Kritisiert werden außerdem die Rechte, die sich das Programm bei der Installation geben lässt. Ohne Ende-zu-Ende-Verschlüsselung kann der Anbieter alle Nachrichten mitlesen, kritisiert Stiftung Warentest.