„Das Wissen von Generationen baut aufeinander auf“!

Evolution im Kopfstand

Wie die kruden Ideen des Peter Fratton auch nach seinem Abgang noch in Baden-Württemberg ein Eigenleben führen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.2017, Bildungswelten, Marco Wehr

Peter Fratton kam, sah und verschwand. Seine vier pädagogischen Urbitten „Erziehe mich nicht! Bring mir nichts bei! Erkläre mir nicht! Motiviere mich nicht!“ überzeugten nicht jeden. Der Schweizer, von der rot-grünen Koalition in Baden-Württemberg 2011 als Bildungsberater bestallt, musste sich Kritik gefallen lassen. Er reagierte beleidigt und strich 2013 die Segel. Doch das von ihm kreierte Bildungsmärchen führt weiter ein gespenstisches Eigenleben. Ist es einfach zu verführerisch?

Wir erinnern uns: Statt von „Lehrern“ und „Schülern“ sprechen Fratton und seine Gesinnungsgenossen von „Lernbegleitern“ und „Lernpartnern“. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich die Fama, dass mit dem rechten pädagogischen Vademecum in der Hand das Lernen seinen Schrecken verliert. Da Lernen ein menschliches Elementarbedürfnis ist, entfalten sich die Lernpartner wie die Blumen – fast von allein. Und weil der kluge Gärtner nicht am Gras zieht, damit es schneller wächst, unterlässt es der Lernbegleiter, den Lernpartner in ein zeitliches Korsett zu zwingen. Jedes Pflänzchen wächst nach seinem eigenen Tempo, und der Lernbegleiter beschränkt sich aufs Hegen und Pflegen, zur rechten Zeit ein bisschen Dünger und Wasser, bis die Pflanze endlich in ihrer schönsten Blüte steht. Kein Stress mehr, kein Zeitdruck, keine Noten, kein Frust. Dass eine solche Bildungsidylle – hier ein wenig überspitzt dargestellt – etwas Narkotisierendes hat, kann man gerade noch nachvollziehen. Und man könnte sie als Schrulle abhaken, wenn die Folgen nicht so gravierend wären, die bis zum heutigen Tag zu bestaunen sind. Viele Erzieherinnen trauen sich nicht mehr, mit den Kindern zu basteln und ihnen etwas beizubringen, weil sie den Vorwurf scheuen, den autonomen Lernprozess des Kindes in unzulässiger Weise zu unterminieren. Nach wie vor gibt es Bildungspläne, die vom frattonschen Denken durchwebt sind. Und manchmal wird es völlig skurril: Bei einer vom brandenburgischen Bildungsministerium veranstalteten Tagung fragte ein Redner, wie ein rechter Lernbegleiter auf die Frage eines Kindes zu antworten habe, das wissen will, wie das weibliche Reh heißt. „Ricke?“, fragte eine Teilnehmerin naiv. Falsch. Die richtige ,,Antwort“ lautet: „Warum fragst du das?“ und „Wie fühlst du dich dabei?“.

Da hört die Romantik auf, und man muss sich ernsthaft fragen, was an der Theorie vom autonomen Lernen dran ist. Da der Schweizer sein geradezu virales Narrativ mittlerweile verschriftlicht hat, kann man genauer hingucken. Doch wer von Fratton eine stringente Argumentation erwartet, wird enttäuscht. Dessen Prosa irrlichtert durch die Wissenschaften und wimmelt von Widersprüchen. Das beginnt schon mit dem Habitus des Autors. Der Schweizer gefällt sich in der Rolle des bescheidenen Wahrheitssuchers. Gerne kokettiert er mit dem momentanen Stand seines Unwissens. Von diesem gefälligen Duktus unterscheidet sich jedoch die Art und Weise, mit der er dem Leser seine Kernbotschaften um die Ohren haut. Auf einmal hantiert er wie in der formalen Logik mit Axiomen, Postulaten und Regeln. Und bei der Formulierung dieses scheinbar wissenschaftlichen Systems greift er wie selbstverständlich auf Erkenntnisse der Kybernetik, der System- und Chaostheorie sowie der fraktalen Mathematik zurück. Das mag den einen oder anderen Pädagogen beeindrucken. Das Problem?

Fratton scheint nicht so genau zu wissen, wovon er spricht. Die Verwirrung beginnt schon bei der Begrifflichkeit. So redet er stolz von „Axiomen“, da er das Wort. „Grundsatz“ nicht mag. Ein Blick ins etymologische Wörterbuch hätte geholfen:
Ein Axiom ist ein Grundsatz, der keinen Beweis benötigt. Und wie lautet dann eine axiomatische Wahrheit a la Fratton? „Lernen ist eine Existenzform.“ Eine Existenzform? Was meint er damit? Ist das ein Lebenskonzept wie das des Mönchs? Oder wollte er sagen, dass Lernen für den Menschen eine existentielle Notwendigkeit darstellt? Wohl letzteres. Doch um sicher zu sein, muss man eine seiner sprunghaften Argumentationsketten dechiffrieren.

Eine zentrale Argumentation funktioniert ungefähr so: Am Anfang war die Urzelle, und die hatte eine semipermeable Membran. Diese erlaubt es der Zelle zu entscheiden, was sie aufnimmt und was nicht. Und genauso machen es angeblich auch die Sinnesorgane, über die wir Menschen verfügen. Daraus zieht Fratton einen gewagten Schluss, der sich seiner Meinung nach einer evolutionären Überlegung verdankt: Da in uns Menschen solche Zellen am Werke sind und wir zudem über „entscheidende“ Sinnesorgane verfügen, sind wir beim Lernen autonom. Zellen und Sinnesorgane entscheiden schließlich auch selbst, was sie reinlassen und was nicht! Da ist man sprachlos. Weder die Urzelle noch die Sinnesorgane entscheiden irgend etwas. Wenn sie es täten, würde auch die Filtertüte entscheiden, wie der Kaffee wird. Deshalb lässt sich aus diesen Pseudofakten auch keine Lernautonomie ableiten. Und ein Axiom erst recht nicht! Ein Axiom ist nämlich nicht das Ergebnis einer wie auch immer gearteten Schlusskette, sondern deren Voraussetzung. Dass eine derart inkonsistent begründete Lernphilosophie in der deutschen Bildungslandschaft eine so große Wirkung hat, sollte den Kultusministerien zu denken geben.

Da für Fratton evolutionäre Überlegungen zentral sind, kann man einmal nachhaken und fragen, ob die verklärten Lernpartnerschaften tatsächlich etwas mit der Evolution des menschlichen Wissenstransfers zu tun haben. Um zu einer Antwort zu gelangen, ist ein kleiner Umweg nötig. Man muss zuerst klären, was Menschen im Unterschied zu Tieren außergewöhnlich macht. Affen können besser klettern, wir schwimmen nicht wie ein Delphin oder rennen wie ein Gepard. Was zeichnet uns aus? Der Mensch ist Spezialist im Nicht-Spezialisiertsein! Deshalb ist er in fast allen Lebensräumen zu finden: in den Eiswüsten der Arktis genauso wie im Amazonas. Wie macht er das? Seine erstaunliche Anpassungsleistung verdankt sich einer besonderen evolutionären ,,Strategie“, die aufs engste mit Lehren und Lernen verbunden ist. Tiere passen sich über Generationen einem Habitat an, um dort zu existieren. Eisbären haben ein dickes Fell entwickelt, um in der Arktis zu überleben. Hat ein Inuit ein dickes Fell? Nein! Aber er weiß, wie man Tiere mit dicken Fellen erlegt, um aus Pelzen wärmende Kleidung herzustellen. Das ist etwas völlig anderes.

Dieses Wissen steckt nicht in den Genen. Es wurde in der menschlichen Gemeinschaft der Inuit entwickelt. Es ist Teil ihrer Kultur. Und dieser Überlebenscode aus Wissen und Fertigkeiten muss an die nächsten Generationen weitergegeben werden, das bedeutet: Er muss gelehrt und gelernt werden. Lernen ist deshalb tatsächlich eine existentielle Notwendigkeit! Aber in ganz anderer Weise, als Fratton glaubt. Kein erfahrener Jäger würde jemals auf die Idee kommen, dass er in die Lernautonomie eines Kindes eingreift, wenn er diesem zeigt, wie man einen Speer herstellt und diesen wirft. Und kein Kind würde mit der frattonschen Urbitte antworten: ,,Bringe mir nichts bei!“, zumindest, wenn es überleben will.

Die Universalität des menschlichen Lernprozesses bedingt übrigens, dass sich Kinder, entsprechend unterrichtet, das Wissen unterschiedlichster Kulturen aneignen können. Ein Inuit-Kind, von Indios großgezogen, lernt wie selbstverständlich mit dem Blasrohr statt mit dem Speer zu jagen und könnte bei Bedarf auch in die Geheimnisse der modernen Physik eingeführt werden.

In diesem Zusammenhang war und ist es aber immer notwendig, dass Kinder genau zuhören und hinschauen, was erfahrene Menschen, die das Wissen von Generationen bündeln, ihnen mitteilen und zeigen. Genau zu diesem Zweck haben sich nämlich in der Evolution zwei mächtige Werkzeuge entwickelt: die Sprache und das Lernen durch Imitation.

Doch gerade beim Lernen durch Imitation sieht man, dass Fratton die menschliche Evolution missversteht. Im Gegensatz zu einem Kind kann man auch den klügsten Affen nicht lehren, wie man Pfeil und Bogen baut. Obwohl wir vom „Nachäffen“ sprechen, sind Affen keine begnadeten Nachahmer, denen sich diese etwas komplexere Kulturtechnik beibringen ließe. Sie sind eher neugierige Rumprobierer.

Selbst bei primitiven Werkzeugen, wie Termitenangeln, begreifen sie nur, dass man irgendwie einen Stock braucht, um an die Leckerbissen zu kommen. Wie man den herstellt, probiert jeder selbst aus. Es gibt in der Affenhorde keine kompetenten Lehrer für den Herstellungsprozess funktionaler Termitenangeln. Es ist eine Ironie, dass sich Fratton ausgerechnet in diesen rumstochernden Lerntyp verguckt hat, und er muss sich die Frage gefallen lassen, ob er eine Didaktik favorisiert, die der Mensch schon in der Steinzeit überwunden hat.

Zwei Dinge geraten ihm dabei völlig aus dem Fokus: Das Wissen von Generationen baut aufeinander auf. Das meinte Isaac Newton, als er sagte, „er habe auf den Schultern von Riesen gestanden“. Zudem gibt es eine Evolution der Didaktik. Wir lernen komplizierte Dinge immer weiter zu vereinfachen und damit effizienter zu vermitteln, weil sie kognitiv fassbar werden. Leibniz gab der umständlichen newtonschen Differentialrechnung eine elegante Gestalt und machte sie so für viele begreifbar. In solcher Weise gebündeltes Wissen den Kindern vorzuenthalten ist fahrlässig. Und es ist naiv zu glauben, Kinder würden durch Rumprobieren – ,,durch Physik spielen“ – das Rad immer wieder neu erfinden oder sich die keplerschen Planetengesetze erschließen. Nichts gegen das Spielen. Aber im Prinzip muss verdichtetes Wissen vom Lehrer anregend vermittelt werden, wobei der Lehrende immer offen für Fragen und Kritik der Lernenden bleiben sollte. Ein solches Wechselspiel ist kennzeichnend für den respektvollen Umgang von Lehrern und Schülern. Eine ehrliche Frage mit einer gefühligen Gegenfrage zu beantworten ist vollkommen verfehlt. Die einzig korrekte Antwort auf die Frage nach dem weiblichen Reh heißt deshalb „Ricke“.

Der Autor ist Physiker und Wissenschaftstheoretiker.

siehe auch:  Druck auf den Umbau der Schullandschaft in Baden-Württemberg – Neue „Lernkultur“ im Musterländle