„Eine Politik, die solche Entscheidungen zum Nachteil der Kinder zulässt, kann man nicht gerade fürsorglich nennen.“

Rote Laterne für Berlin

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17. 11. 2016, von Rainer Werner

Seit Jahren belegt das Land Berlin im bundesweiten Schulvergleich den letzten oder vorletzten Platz. In diesem Jahr haben gleich zwei Studien diese trostlose Platzierung am Ende der Länderskala bestätigt: die Studien des „Instituts der Deutschen Wirtschaft“ und des „Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“. Das Deprimierende dieser Befunde liegt darin, dass eine Besserung der Schulqualität nicht in Sicht ist. Teilweise haben sich die schulischen Leistungen sogar verschlechtert, wie die Erhöhung der Zahl der Schüler ohne Schulabschluss von 9% (2014) auf 11% (2015) zeigt.

Die neue Legislaturperiode des Berliner Abgeordnetenhauses und des Senats von Berlin bietet die Gelegenheit, endlich die Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um aus dem „Tal der Tränen“ herauszukommen. Dabei sollte der neue Senat das beherzigen, was der pädagogische Sachverstand für die Qualitätssteigerung einer Schule als besonders wirksam herausgefunden hat. (…) In der Pädagogik kann man oft den Eindruck gewinnen, dass das politisch Wünschenswerte an die Stelle dessen tritt, was wirklich Qualität verspricht.

An der Universität und im Referendariat bekommen künftige Lehrer heutzutage vermittelt, wie wichtig es sei, im Unterricht vor allem moderne, schülerzugewandte Lehrmethoden anzuwenden. Zu den modischen Lernarrangements zählen das Lernbüro, das Lernen an Stationen, die Individualisierung, die Freiarbeit und der Offene Unterricht. (…)

[Der Bildungsforscher] John Hattie bestätigt (was Lehrkräfte längst wissen), dass das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch eine ungemein wirkungsvolle Methode des Lernens darstellt. Auch Schüler empfinden das Unterrichtsgespräch als effektiv und keinesfalls als bevormundend. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die schlechten Leistungen der Berliner Schüler, die sich vor allem  in den Integrierten Sekundar- und Gemeinschaftsschulen zeigen, auf die Dominanz wenig wirkungsvoller Lernmethoden, die aber alle das Gütesiegel „sozial wertvoll“ tragen, zurückzuführen sind.

Die kritische Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsschule hat offenbart, dass beim Individuellen Lernen vor allem die Kinder aus bildungsfernen Familien benachteiligt sind, da sie der helfenden und fördernden Hand der Lehrkraft besonders bedürfen. Das in der Gemeinschaftsschule vorherrschende Selbstlernkonzept verhindert eine sinnvolle Förderung leistungsschwacher Schüler und vergrößert dadurch die Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien. [1] (…)

Eine Politik, die solche Entscheidungen zum Nachteil der Kinder zulässt, kann man nicht gerade fürsorglich nennen. (…)

Es gibt noch weitere Anzeichen dafür, dass im Berliner Schulsystem der Leistungsgedanke nicht mehr allzu hoch geschätzt wird. An den Leistungsstandards der Schulabschlüsse kann man es deutlich ablesen. Anstatt einen anspruchsvollen Unterricht zu etablieren, der das Wissen der Schüler wirklich mehrt, ist man eher dazu geneigt, das Prüfungsniveau zu senken. (…) Die Abkehr vom Leistungsprinzip in der Schule schadet letztlich allen Schülern, weil sie nicht mehr wissen, was die von ihnen erbrachten Leistungen und Abschlüsse wirklich wert sind. Sie werden es spätestens merken, wenn sie im Hörsaal einer Universität sitzen und an den universitären Leistungsanforderungen scheitern. Die hohe Zahl der Studienabbrecher von über 30% spricht hier eine deutliche Sprache. (…)

Die Senatsschulverwaltung muss in den nächsten Jahren sehr viel mehr Wert auf die Qualitätsentwicklung an unseren Schulen legen, als sie dies bisher getan hat. Dabei sollten vor allem der pädagogische Sachverstand der Lehrkräfte und die wissenschaftliche Expertise zählen und weniger parteipolitische Visionen.

Zum Artikel: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 17. 11. 2016, Rainer Werner, Rote Laterne für Berlin

Der Autor ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er ist Autor des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“. Rainer Werner berät staatliche Schulen und Schulen in freier Trägerschaft bei der inneren Schulreform.


Anmerkung [1] durch Schulforum-Berlin, siehe: Frank Lipowsky, Miriam Lotz, Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? – Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden, 2015; Christoph Türcke, Lehrerdämmerung – Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, 2016; Martin Wellenreuther, Direkte Instruktion, Michael Felten, Lernwirksamkeit statt Methodenfeuerwerk, Jochen Grell, Das Direkte Unterrichten und seine Feinde, in Pädagogik 1/2014; John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013; John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen, 2014


siehe auch:
„Rote Laterne“ für Berlins Schulen
Schulsenatorin Scheeres: Miese Noten, aber trotzdem versetzt

Obwohl es um Berlins Schulen im bundesweiten Vergleich schlecht aussieht, soll Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) weiter im Amt bleiben. (…)
„Mit Frau Scheeres wird Berlin auch die nächsten fünf Jahre die rote Laterne behalten“, sagt Bildungsexpertin Hildegard Bentele.

Zum Artikel:  BZ, 17.11.2016, Olaf Wedekind, „Rote Laterne“ für Berlins Schulen, Schulsenatorin Scheeres: Miese Noten, aber trotzdem versetzt