IQB-Bildungstrend 2021

Bildung ohne Wirkung – kontinuierlicher Absturz

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin, 28.10.2022

Für den „Bildungstrend 2021“, durchgeführt vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin[1], wird der Stand bei Schülerinnen und Schülern im Abstand von fünf Jahren repräsentativ untersucht. 2021 haben 26.844 Schülerinnen und Schüler der vierten Jahrgangsstufe in 1.464 Grundschulen aus allen 16 Bundesländern teilgenommen. Vorweg:

Die Viertklässler von heute stehen in Deutsch und Mathematik schlechter da als je zuvor.

Nach 2011 und 2016 hat der IQB-Bildungstrend 2021 zum dritten Mal untersucht, inwieweit Viertklässlerinnen und Viertklässler die bundesweit geltenden Bildungsstandards[2] der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch (die Kompetenzbereiche „Lesen“, „Zuhören“ und „Orthografie“) und Mathematik für den Primarbereich erreichen.

Die Testergebnisse werden fünf verschiedenen Kompetenzstufen zugeordnet:
Unter Mindeststandard, Mindeststandard, Regelstandard, Regelstandard Plus und Optimalstandard.

Erläuterungen von Mindeststandard, Regelstandard, Kompetenzstufen

Abb. aus: https://www.isq-bb.de/wordpress/wp-content/uploads/2016/06/VERA-3_Bericht2015_BE.pdf

Als durchschnittliche Erwartung an die Leistungsstände von Schülerinnen und Schülern am Ende der Jahrgangsstufe 4 gilt der Regelstandard (Kompetenzstufe III). Über die dort beschriebenen Kompetenzen sollen Schüler/-innen am Ende der Jahrgangstufe 4 durchschnittlich verfügen. Unterhalb des Regelstandards werden zwei weitere Kompetenzstufen definiert. Der Mindeststandard (Kompetenzstufe II) beschreibt ein Minimum an Kompetenzen, über die alle Schüler/-innen am Ende der Jahrgangsstufe 4 verfügen sollten. Die Gruppe der Schüler/-innen unter Mindeststandard (Kompetenzstufe I) erreicht diese Mindestanforderungen nicht. Diesen Schülerinnen und Schülern fehlen basale Kenntnisse, um den erfolgreichen Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule zu bewältigen. Ihnen sollte bei der Kompetenzentwicklung besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

Dies fordert auch Norbert Maritzen, langjähriger Direktor des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung und Mitglied des Berliner Beirats für Qualität in einem Interview: „Mindeststandards sind zu verstehen als eine Bringeschuld des Staates, die ausnahmslos für jedes Kind eingelöst werden muss. Die immer noch skandalös hohen Anteile von Kindern und Jugendlichen, die in bestimmten Domänen Mindeststandards verfehlen, zeigen, dass dieser Anspruch derzeit nicht erfüllt wird. Mindeststandards würden eine Grenze festlegen, deren Unterschreitung nicht hingenommen werden darf. Das müsste dann massive Konsequenzen für die Bereitstellung von Unterstützung haben.“[3]

Die Ergebnisse sind alarmierend

Die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik haben sich bei Kindern in der vierten Klasse dramatisch verschlechtert. Die Ergebnisse sind alarmierend und sie zeigen, dass in fast allen Bundesländern die Leistungen nachgelassen haben, allerdings in deutlich unterschiedlichem Umfang.

Die Ergebnisse für Berlin

  • Lesen: 27,2 Prozent der Schülerinnen und Schüler verfehlen den Mindeststandard, erfüllen also nicht die Mindestanforderungen. 48,5 Prozent, d.h. nicht einmal die Hälfte erreichen den Regelstandard. Den Optimalstandard erreichen 6,9 Prozent.
  • Zuhören: 27,1 Prozent der Kinder verfehlen den Mindeststandard. Nicht einmal die Hälfte, nämlich 48,4 Prozent, erreichen den Regelstandard, 7,1 Prozent den Optimalstandard. Berlin bildet mit Bremen hier das Schlusslicht.
  • Orthografie: 46,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler verfehlen den Mindeststandard (Bundesweit sind dies 30,4 Prozent). 29,8 Prozent erreichen den Regelstandard, 3,4 Prozent den Optimalstandard. Auch hier stehen Berlin und Bremen ganz hinten im Ländervergleich.
  • Mathematik: 34,5 Prozent der Kinder verfehlen den Mindeststandard, erfüllen also nicht die Mindestanforderungen. 41,6 Prozent erreichen den Regelstandard, 6,7 Prozent den Optimalstandard. Das ist das schlechteste Ergebnis zusammen mit Bremen.

Die Autorinnen und Autoren des IQB-Bildungstrends haben berechnet, dass der Kompetenzunterschied zwischen dem Land mit dem höchsten (Bayern) und dem Land mit dem niedrigsten Mittelwert (Bremen und Berlin) bis zu einem Schuljahr Lernzeit in Lesen und Zuhören entspricht. Bei Orthografie umfasst die Spanne etwa zwei Drittel eines Schuljahres und in Mathematik drei Viertel eines Schuljahres. Bremen und Berlin sind weiter im Ländervergleich die Schlusslichter.

Dass in unseren Schulen eine immer größere Schülergruppe heranwächst, die von sozialem Abstieg und von Ausgrenzung bedroht sind, hat mehr mit fehlender frühkindlicher Bildung in Familie und Kita, Dauerreformen, Lehrermangel, unzureichend ausgebildeten Lehrkräften und einer immer heterogener werdenden Schülerschar zu tun als mit Hinweisen auf Corona-Quarantänen, Testzeitraum oder Flüchtlingszahlen.

Wie sind jedoch die Reaktionen aus Berlin zu den Ergebnissen der Studie? Ein Sprecher der Senatsbildungsverwaltung erklärte: Man habe den Handlungsbedarf „bereits vor längerer Zeit klar erkannt“ und deshalb vieles auf den Weg gebracht.[4]

Die Ergebnisse sprechen – wie schon in den letzten Jahren – eine andere Sprache! So heißt es bereits im Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie (2017): „Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems“.[5]

Zur offensichtlichen Schulmisere in Berlin beschrieben Experten aus der Schulpraxis im Tagesspiegel vom 09.09.2019 ihre Position zur Berliner Schulpolitik: „Uns eint – trotz unterschiedlicher Positionen im Einzelnen – die Sorge, ja Fassungslosigkeit über den desaströsen Zustand der Berliner Schule und damit über das Versagen der Bildungspolitik über Jahre hinweg mit vorhersehbaren fatalen Ergebnissen. Die lange Liste der Versäumnisse, der falschen Entscheidungen und aktionistischen Ablenkungsmanöver hat jetzt ein Ausmaß erreicht, das wir als erfahrene Schulexperten, die seit langem vielfach auf die sich abzeichnenden Probleme hingewiesen haben, einfach nicht mehr hinnehmen können. Wir haben unsere Verantwortung nicht mit dem Ruhestand oder an der Schultür abgegeben – sie bleibt. […] Im Fokus müssen wieder die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte stehen, nicht zuerst ein ideologisch fixierter Glaube an bestimmte pädagogische Rezepte, die Befriedigung von Interessenvertretungen, die Sorge um den politischen Machterhalt oder gar um den eigenen Posten.“[6]

Offenbar ist die Politik nicht gewillt, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, und sieht die fundamentalen Risiken nicht, die damit für unsere Gesellschaft einhergehen – ein Ausmaß an Ignoranz, das uns noch teuer zu stehen kommen wird.


[1] Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Bericht: IQB Bildungstrend 2021
[2] Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen: Bildungsstandards in folgenden Fächern
[3] Das Deutsche Schulportal, 24.06.2022, Der lange Weg zu bundesweiten Bildungsstandards, Interview von Florentine Anders mit Norbert Maritzen, der am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) Berlin die Weiterentwicklung der Bildungsstandards leitet.
[4] Tagesspiegel,18.10.2022, Früher war alles schlauer
[5] Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie (2017), Bilanz nach 10 Jahren Reform der Berliner Schulstruktur „Leistungsstandards sind mit den Sekundarschulen gesunken“, S. 483.
Siehe auch zu diesem Thema: Bilanz nach 10 Jahren Reform der Berliner Schulstruktur | Schulforum-Berlin
[6] Tagesspiegel, 09.09.2019, Position zur Berliner Schulpolitik: „In Sorge über die desaströsen Zustände“.