„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“

Die UNESCO ruft am 5.10.2017 zum 23. Mal zum Welttag der Lehrerinnen und Lehrer auf und erinnert an die bedeutende Rolle der Lehrerinnen und Lehrer für qualitativ hochwertige Bildung. Ziel des Welttages ist es, auf die verantwortungsvolle Aufgabe des Lehrpersonals aufmerksam zu machen und das Ansehen derer weltweit zu steigern.

Es hilft nur Ehrlichkeit

Schulen, die zu früh auf Eigenverantwortlichkeit und zu stark auf selbst gesteuertes Lernen setzen, können Kindern aus bildungsfernen Milieus schaden

Beitrag zum Welttag des Lehrers, von Michael Felten

Es ist sicher nicht vergnügungssteuerpflichtig, Schulministerin eines Bundeslandes zu werden, das zu den Pisa-Schlusslichtern zählt. Nicht zuletzt steht ja auch das Problem der Bildungsgerechtigkeit an. Denn in Deutschland soll es besonders stark von der sozialen Herkunft abhängen, ob Kinder zum Gymnasium wechseln und ob junge Erwachsene ein Studium ergreifen können.

Zwar wird in internationalen Vergleichen gerne mit Äpfeln und Birnen hantiert: Die Bildungsgänge sind andernorts nämlich oft ganz anders strukturiert. Und unserem Mikrozensus zufolge gibt es hierzulande durchaus Bildungsmobilität – überwiegend aufwärts. Gleichwohl bleibt die Frage, ob und wie die Schule die soziale Bildungsbeteiligung noch ausweiten kann.

Nun, womöglich kann auch der gemeine Lehrer selbst schon etwas tun, bevor das Ministerium in die Gänge kommt. Zunächst einmal: Hände weg von kontraproduktiven Unterrichtsmethoden! Zu frühe Eigenverantwortlichkeit, zu viel selbstgesteuertes Lernen, zu oft unstrukturierte Gruppenarbeit – was in der Lehrerausbildung vielfach noch Trend ist, überfordert gerade die schwächeren Schüler. Der linke Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke nahm dazu kein Blatt vor den Mund: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“

Während leistungsstärkere Schüler mit fast allen Lehrstilen zurechtkämen (zur Not unter elterlicher Mithilfe), bedürfe gerade das sozial benachteiligte Kind eines direkt anleitenden, ermutigenden Unterrichts. Wer also die Parole „Kein Kind zurücklassen!“ ernst meint, dessen Unterricht wird bisweilen zwar altmodisch wirken, aber hoch effektiv sein – spätestens die Hattie-Studie lieferte dafür den empirischen Beleg.

Sodann: Schluss mit unehrlichen Beurteilungen! Ob aus Angst vor Schülern oder vor dem Direktor: Wo Lehrer altersgemäße Ansprüche absenken, wo mangelhafte Leistungen mit „3“ oder „4“ beurteilt werden, da entsteht nicht mehr Gerechtigkeit, sondern gerade das Gegenteil. Nicht nur, dass Zeugnisse so an Wert verlieren. Geringere Anforderungen führen auch dazu, dass Schüler sich weniger anstrengen – dabei wäre Fleiß das einzige Gegenmittel gegen milieubedingte Rückstände. Leistungsstarke oder bessergestellte Kinder hingegen werden immer einen Weg finden, um ihre Lernlöcher bei Bedarf zu stopfen.

Schließlich: Hören wir auf, Kinder in unpassende Bildungsgänge hinein zu zwingen, gleich ob aus Unprofessionalität oder aus Mitleid! Wen das Gymnasium dauerhaft überfordert, wer über Jahre erlebt, das letzte Rad am Wagen zu sein, für den werden die hochsensiblen Entwicklungsjahre zur Qual. Lernen soll aber nicht weh tun, hat der Kinderarzt Remo Largo gesagt. Das ist nicht nur eine Warnung an Grundschullehrer, den liebgewordenen Kleinen oder den ehrgeizigen Eltern zuliebe geschönte Eignungsgutachten zu schreiben. Angesprochen fühlen sollten sich auch Schulleiter, die offensichtlich ungeeignete Fünftklässler ins Gymnasium aufnehmen, anstatt Eltern zumindest informell klarzumachen, was sie ihrem Kind womöglich damit antun.

Aber ganz ohne die Schulministerin geht es natürlich doch nicht. Sie muss den Zugang zum Gymnasium grundsätzlich neu regeln. Die Schweiz etwa kommt bestens damit zurecht, dass nur jedes fünfte Kind die Höhere Schule besucht; deshalb hat das Land auch keinen Facharbeitermangel, eine berufliche Ausbildung stellt dort eben keinen Makel dar.

Natürlich spielen der Schulwunsch des Kindes und seiner Eltern eine wichtige Rolle – aber er darf nicht das einzige Kriterium sein. Sinnvoll wäre ein Kriterien-Mix, etwa im Sinne der Maxime „2 aus 3“: Wer das Gymnasium besuchen möchte, sollte außerdem noch eine andere Bedingung erfüllen: entweder ein positives verbindliches Grundschulgutachten oder Erfolg beim gymnasialen Probeunterricht, andernfalls standardisierte Tests oder Aufnahmeprüfung – zur Stressminderung gerne an der vertrauten Grundschule.

Und nicht nur für den gymnasialen Bildungsgang muss wieder die Parole gelten: Ohne Fleiß kein Preis. Die Ministerin muss umgehend den unsäglichen Hausaufgabenerlass ihrer Vorgängerin von 2015 kassieren. Demnach durften etwa Ganztagsgymnasien gar keine Hausaufgaben mehr aufgeben – auch nicht an Kurztagen, wenn der Unterricht schon mittags endet! Auch dieser rot-grüne Clou war in höchstem Maße sozial ungerecht: Er schadete den leistungsstarken Schülern weniger als den Schwachen – sie brauchten das Üben gar nicht oder erledigten es ohnehin freiwillig.

zum Artikel:  Kölner Stadt-Anzeiger, 5.10.2017, Gastbeitrag von Michael Felten, Es hilft nur Ehrlichkeit

Der Autor hat 35 Jahre an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er ist als freier Schulentwicklungsberater und Buchautor tätig.

Digitales Geräteturnen in der Schule

„Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen“

Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein

Der Ruf nach der Digitalisierung der Schulen ist so laut, so schrill, so penetrant geworden, dass es an der Zeit ist für eine Pause.

Man möchte sie vom Desktop wischen – all die PDFs des Bundesbildungsministeriums, die Zwischenberichte von Arbeitsgruppen, die Expertisen aus IT und Wirtschaft, die humorigen FDP-Wahlplakate mit der Zeile „Digital first. Bedenken second“. Man möchte stattdessen die Frage beantwortet wissen: Von welcher Digitalisierung ist eigentlich die Rede, wenn es um die Schulen geht?

Mit Schwung gehören auch die Studien vom Tisch gewischt, die deutsche Schulen zu Orten der digitalen Ödnis erklären. Diese Studien schüren die Angst, heutige Schüler könnten den Anschluss an eine immer automatisiertere Arbeits- und Kommunikationswelt verlieren. Hallo, die Schüler sind schon jetzt „digitaler“, als gegenwärtige Eltern und Lehrer es jemals sein werden. Natürlich brauchen sie die Hilfe der Schule, um mündige Mediennutzer zu werden und die Chancen des Digitalen von seinen Gefahren unterscheiden zu können; auch vielen Erwachsenen täte Nachhilfe hier gut. Aber brauchen sie dafür Unterricht an digitalen Geräten? Wenn ja, welchen? In welchem Alter, in welchen Schularten und Fächern? Wie oft, wie lange? Mit welchen Inhalten? Vor allem: Mit welchem pädagogischen Nutzen?

Das Bildungsbarometer 2017 des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik verriet, was erwachsene Bürger von Computern in Schulen halten. 63 Prozent der Befragten finden demnach, dass Schüler ein Drittel der Unterrichtszeit für das selbständige Erarbeiten [des Unterrichtsstoffes] am PC nutzen sollten [siehe Grafik und Text unterhalb der Grafik]. Man nehme das wörtlich: Ein Drittel der Unterrichtszeit sind 25 Augenpaare auf 25 Monitore gerichtet, um mit einer Maschine zu lernen, was man im Leben so braucht. Fragt sich, wozu eine solche Studie gut ist [siehe Anmerkung am Ende des Artikels]. Vielleicht dafür, zu zeigen, dass die Diskussion dringend differenzierter geführt werden muss. Dass es absurd ist, die Schulen für Milliarden zu digitalisieren und die Schüler dann vor die Geräte zu setzen, ohne sich ganz genau zu überlegen, was ihnen das bringt.

Aus dem Bildungsbarometer 2017, S. 21:

Andreas Schleicher, als Pisa-Chef der OECD, sagt: Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führe nicht per se zu besseren Schülerleistungen, das hätten Beobachtungen über ein Jahrzehnt gezeigt. Und die Schülertests Iglu und Timss belegen, dass Grundschüler, die mindestens einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzen, in einigen Fächern niedrigere Kompetenzen zeigen als Grundschulkinder, die seltener vorm PC sitzen.

Gegenbeweise konnte die Forschung bislang nicht liefern, aber das stört die Studienmacher nicht. Diesen Freitag präsentierte die Bertelsmann-Stiftung unverdrossen ihren „Monitor Digitale Bildung“, in dem sie beklagt, die Schule verkenne pädagogische Potenziale der Digitalisierung, hätte weder Strategien noch Konzepte – und schlechtes Wlan sowieso. [Das] klingt so, als müssten Pädagogen ihre Pädagogik von den Geräten her denken. Als sollten sie die pädagogischen Potenziale einer Technik anerkennen (und Konzepte dafür entwickeln), obwohl diese Potenziale bislang nur behauptet sind. Worin sie bestehen, weiß auch Bertelsmann nicht.

Im Tagesspiegel vom 15.09.2017 berichtet Amory Burchard aus der Studie: Bessere Technik erhoffen sich die meisten Lehrkräfte und Schulleitungen aber nicht etwa für den Einsatz im Unterricht. 81 Prozent der Lehrkräfte beziehungsweise 88 Prozent der Schulleiter sehen die Chancen des digitalen Wandels vor allem darin, „administrative Aufgaben besser bewältigen zu können“, heißt es. Und nur acht Prozent der Direktorinnen und Direktoren setzen sich Digitalisierung als strategisches Ziel für die Entwicklung ihrer Schule. Gleichwohl sind etwa 70 Prozent der Pädagogen davon überzeugt, dass digitale Medien die Attraktivität ihrer Schule steigern werden.

Auch an den Haltungen und Kompetenzen der Lehrkräfte müsse noch gearbeitet werden, resümiert die Bertelsmann-Stiftung. Deshalb sollte der Einsatz digitaler Medien zum Pflichtprogramm im Lehramtsstudium und in der Weiterbildung gehören, erklärte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Mit dem „Monitor digitale Bildung“ sondiert die Stiftung auch ein wichtiges Geschäftsfeld des Bertelsmann-Konzerns. Die 2016 gegründete „Bertelsmann Education Group“ etwa hat zahlreiche Bildungsanbieter hinzugekauft, vor allem solche, die auf digitale Bildung spezialisiert sind.  [siehe nachfolgender Beitrag:  Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung – Perfektes Zusammenspiel]

Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Damit die Schulen nicht zur nächsten Reform verdonnert werden, die eine kurzsichtige Politik irgendwann zurücknehmen muss.

Hervorhebungen im Fettdruck und eingerückte Elemente durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel:  Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein, Digitales Geräteturnen in der Schule

siehe auch:  „Digitale Bildung“: Big Brother ist teaching you!
Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer?

Das Steuerungselement – Schaffung eines öffentlichen Meinungsklimas:

[Beim ifo Bildungsbarometer] wird nicht untersucht, wie Bildungspolitik bestmöglich gestaltet werden sollte, um das Bildungssystem zu verbessern. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, welche Meinungen die Deutschen haben und in welchen Bereichen und unter welchen Umständen sich politische Mehrheiten für oder gegen Bildungsreformen finden. (S. 17)

Die Ergebnisse zeigen also Bereiche auf, in denen politische Reformen auf öffentliche Akzeptanz treffen und somit leichter umsetzbar sein dürften. (S. 18)

Insgesamt zeigt das ifo Bildungsbarometer deutlich, dass die Bereitstellung bestimmter Informationen bildungspolitische Meinungen verändern kann. (S. 37)

aus ifo Bildungsbarometer 2017:
https://www.cesifogroup.de/de/ifoHome/research/Departments/Human-Capital-and Innovation/Bildungsbarometer/Bildungsbarometer2017.html
ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München

Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung

Perfektes Zusammenspiel

von Christian Füller

Die Bertelsmann Stiftung wirbt intensiv für die Digitalisierung in Schulen und Hochschulen. Das passt perfekt in die Strategie des gleichnamigen Konzerns: Das Bildungsgeschäft ist seine neue „Cash-Kuh“.

Paul ist 15 Jahre alt und wundert sich. „Wieso steht unsere Schule plötzlich auf einer Homepage der Bertelsmann Stiftung?“, fragt sich der Elftklässler der Evangelischen Schule in Berlin. „Wir machen jetzt ja praktisch Werbung für die.“

So schnell geht das. Im November veranstaltete die Schule mit der Gütersloher Stiftung ein Lern- Lab über „digitales Lernen an der Schule“. Die Schule hatte kaum etwas davon – aber die Stiftung vermarktet es groß im Netz. „Wir sehen in der Digitalisierung das Potenzial“, sagt ein Stiftungsmitarbeiter im Werbevideo, „das große Versprechen des Bildungssystems einzulösen: für Chancengerechtigkeit zu sorgen.“

Kleiner geht´s beim Thema Digitalisierung in der Bildung wohl nicht. Mit digitalen Medien, so heißt es oft, könne endlich Wilhelm von Humboldts Idee – die „vollkommene Persönlichkeit“ – Wirklichkeit werden. Bei Bertelsmann aber schwingt noch etwas anderes mit: Geld. In der Tat verwandelt die Digitalisierung Bildungseinrichtungen in einen gigantischen Markt.

Von diesem Markt will ein Unternehmen profitieren, das ebenfalls den Namen Bertelsmann trägt. Die Bertelsmann S.E., der milliardenschwere Medienkonzern aus Gütersloh. „Bildung ist eine neue Säule für Bertelsmann“, betont Vorstandschef Thomas Rabe seit drei Jahren bei jeder Bilanzpressekonferenz. Bildung soll das dritte Standbein des 20-Milliarden-Umsatz- Konzerns neben Medien und Dienstleistungen werden. Daher ist Rabe weltweit auf Einkaufstour, damit digitale Lernangebote bald Profit liefern können. Bertelsmann hat „Relias“ gekauft, ein großes Portal für Online-Weiterbildungen im Gesundheitswesen. Der Konzern besitzt zudem mit „HotChalk“ ein Unternehmen, das Universitäten hilft, Vorlesungen als Weiterbildungsangebot online zur Verfügung zu stellen – und zu kommerzialisieren. Der größte Coup aber ist dem Konzern mit der Beteiligung an „Udacity“ gelungen. Udacity ist die wahrscheinlich vielversprechendste Online-Universität, die es derzeit gibt. Ihr Gründer, der deutsche Super-Professor Sebastian Thrun aus Stanford, will mit der virtuellen Hochschule sage und schreibe eine Milliarde Menschen erreichen. Und Bertelsmann möchte an diesem Geschäft mitverdienen.

Schöne neue Uni-Welt

Udacity aber ist nicht nur ein aufregender Anbieter auf dem universitären Weltmarkt. Die Online-Uni ist zugleich das Unternehmen, das Jörg Dräger stets in höchsten Tönen lobt. Für ihn ist Udacity der Prototyp der schönen neuen Universitätswelt. Interessant ist, welche Funktion Dräger ausübt: Er ist Vorstandsmitglied und Sprecher der gemeinnützigen Bertelsmann Stiftung.

Wenn er spricht, weiß man freilich nie genau, für wen er das eigentlich tut. Der Stiftungsvorstand hat ein Buch über „Die digitale Bildungsrevolution“ veröffentlicht – in einem Verlag des Bertelsmann- Konzerns. In dem Buch bedankt sich Dräger wiederum – bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung, weil die das Buch ermöglicht hätten. Für die PR hat die Stiftung sogar einen eigenen Vorstandsbereich samt Blog eingerichtet, damit die „Digitalisierung der Bildung“ vorankommt.

Sieht man sich die Strategie von Stiftung und Konzern genauer an, entdeckt man ein perfektes Zusammenspiel: Die Stiftung wirkt wie ein Türöffner. Sie war immer die erste Adresse bei der Beratung von Schulen und Hochschulen. Mit der digitalen Bildung haben die bislang ungleichen Schwestern aus Gütersloh jetzt ein gemeinsames Betätigungsfeld: Die eine bewirbt und verbreitet die Idee digitalen Lernens; die andere ist in der Lage, ein Geschäft daraus zu machen. Bertelsmann besitzt die komplette Verwertungskette für digitale Lern-Produkte. Mit der Stiftung hat der Konzern nun eine Organisation im Vorfeld, die zielgerichtet inmitten seines neuen Marktes steht – der Bildung.

Beispiel Hochschule: Stiftungsvorstand Dräger referiert in seinen Vorträgen unermüdlich, dass bisherige Vorlesungen über neue Distributionskanäle an Hörerinnen und Hörer weltweit geliefert würden. „Massification“ nennt Dräger das. Die Hälfte der Universitäten gehe bei diesem Prozess Bankrott, schätzt er. Konzernvorstand Rabe stellt fest: An Hochschulen werde noch wie vor 100 Jahren unterrichtet. „Das ist nicht mehr nötig.“ Daher habe der Konzern neue Geschäftsideen entwickelt, so Rabe, „zum Beispiel das Bildungsgeschäft“. Noch in diesem Jahr wird Udacity in Deutschland starten.

Beispiel Schule: Das größte Geschäft winkt auch hier mit Lehrvideos. In Hongkong bieten Bildungsunternehmen bereits Filme von Lehrkräften an, die Schülerinnen und Schüler zuhause angucken können. Einige Pädagogen sind dabei Stars geworden, die bis zu vier Millionen Euro verdienen – pro Jahr. Klar ist: Wenn ein Konzern Erfahrung mit der Vermarktung von Videos hat, dann ist es Bertelsmann. 2015 hatte seine RTL-Group sagenhafte 105 Milliarden Videoabrufe. Das sind, noch, keine Lehrfilme. Aber Bertelsmann hat mit RTL das „Trash-TV“ erfunden. Warum sollte es nicht in der Lage sein, sein Know-how in die Produktion von Billig-Lehrfilmchen zu stecken? Eigentlich müssten Konzern und Stiftung streng getrennt agieren. Die Reden der Repräsentanten des Gemeinwohls – Dräger – und des Profits – Rabe – sind aber in puncto Bildung kaum auseinanderzuhalten. Es gibt lediglich einen Unterschied: Dräger flicht in seine „Wir-müssen-die- Bildung-digitalisieren“-Rede stets ein paar kritische Bemerkungen ein. Am liebsten über Datenschutz und „Big Data“.

Freilich enden selbst die kritischsten Sätze des Stiftungssprechers im Unverbindlichen. In einem seiner jüngsten Beiträge etwa warnt er vor „dem gläsernen Lerner“. Aber wie lauten seine Konsequenzen? „Ein digitalisiertes Bildungssystem lebt von der Bereitschaft, persönliche Daten preiszugeben“, schreibt er und stellt fest: „Wir brauchen mehr Datensouveränität, nicht mehr Datenschutz.“

Wir wissen heute, dass sich die Digitalisierung der Schulen nicht vermeiden lässt. Inzwischen sind aber auch eine ganze Reihe von Risiken und Nebenwirkungen bekannt – vom Suchtpotenzial bis zum veränderten Leseverhalten der Schülerinnen und Schüler, von „Hate Speech“ gegen Lehrkräfte bis hin zum Online-Grooming, dem Anbahnen pädosexueller Übergriffe auf Kinder im virtuellen Raum. Von dieser hässlichen Seite der Digitalisierung findet sich bei Dräger und seiner Stiftung so gut wie nichts. Zufall? Oder würde echte Digital-Kritik womöglich dem Geschäft schaden?

Neue Mission

Bertelsmann ist aber nur das markanteste Beispiel für die Arbeit von Stiftungen im Bildungsbereich. Deren Rolle verändert sich gerade. Früher engagierten sich viele von ihnen gegen Bildungsarmut. Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften „Teilhabe“ und „Kooperation“ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten. Das wird den öffentlichen und nicht-profitablen Charakter von Schulen verändern. Noch nie in der Geschichte stand so viel privates Kapital bereit, den Bildungsbereich zu überschwemmen. Um es mit einem Werbefilm des neuen Konzernarms „Bertelsmann Education“ zu sagen: „Der weltweite Bildungsmarkt hat ein Volumen von über fünf Billionen US-Dollar.“

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel:  https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

Ist das Gymnasium noch zu retten?

„Jeder Einzelne kann sich der schleichenden Bildungsverflachung entgegenstemmen“

Wer als Lehrer nur über die da oben schimpft, die das Gymnasium durch sinkende Anforderungen zu Fall bringen, macht es sich zu leicht. Es ist jetzt Stehvermögen gefragt.

Michael Felten

Im Wettkampf der Schulsysteme hat das Gymnasium zwar gesiegt, aber sieht man genauer hin, ist es ein Pyrrhus-Sieg. Dass etwa in Nordrhein-Westfalen mittlerweile mehr als jeder zweite Schüler die ehemals „Höhere Schule“ besucht, müsste kein Manko sein, wenn es sich denn um junge Menschen handelte, die an niveauvollem Fachunterricht interessiert und für solche Ansprüche geeignet sind. Aber schon in den Eingangsklassen fällt auf, ein erheblicher Teil der Fünftklässler liest nur stockend, schreibt fehlerhaft und beherrscht schriftliche Rechenverfahren nur unsicher. Und bei der ersten Klassenarbeit maulen manche Schüler, dazu hätten sie heute keine Lust. Die individualisierende Grundschule, der die Befindlichkeit des Einzelnen mehr gilt als eine systematisierende Lernanforderung, hat deutliche Spuren hinterlassen. Manchen Kindern fehlt schlichtweg Unterrichtsreife.

Aber über ihre Gymnasialzulassung haben ja auch keine professionellen Kriterien entschieden wie Lehrerurteile oder Tests, sondern befangene beste Freunde, nämlich die um Zukunftschancen bangenden Eltern. Vielleicht schaffen diese Kinder dann die Erprobungsstufe noch mit Ach und Krach, aber schon kommt die Pubertät hinzu mit ihrer ohnehin labileren Lernlust. Die Gymnasien an Rhein und Ruhr indes müssen heute auch Ungeeignete bis zur bitteren Neige (mittlere Reife) mitschleifen – durch hochsensible Entwicklungsjahre, als letztes Rad am Wagen. […]

Und was kommt dabei raus? Angesichts der immensen Studienabbrecherraten kann von breiter Befähigung zu allgemeiner Hochschulreife beim besten Willen keine Rede mehr sein. Auch scheint Bestenförderung nicht recht zu gelingen, sonst wäre die Gruppe von Deutschlands Spitzenschülern ausweislich der Pisa-Studien nicht so klein. Bei solcher Bildungsexpansion auf niedrigem Niveau geht aber Kostbares verloren. […]

[Zur] Kindeswohlorientierung und Bildungsexpansion gesellte sich seit den siebziger Jahren ein egalitärer und antipädagogisch gesinnter Zeitgeist. Zunächst geriet das gegliederte Schulsystem als Selektionsinstrument unter Beschuss, Lehrer wurden als „Anpassungsagenten des bürgerlichen Systems“ verächtlich gemacht, Noten und Versetzungsordnungen als „Klassenschranken“ verdammt. Zwar musste die SPD in Nordrhein-Westfalen beim Volksbegehren gegen die „kooperative Schule“ schmerzlich realisieren, dass sich das Gymnasium nicht abschaffen ließ. Gleichwohl hat die Parteispitze nicht davon abgelassen, diese Schulform schleichend aufzuweichen, sie von innen her zu dekonstruieren und zur Quasi-Gesamtschule zu machen. Statt den Schulen viel mehr personelle Ressourcen und pädagogische Expertise bereitzustellen, wurden Stoffpläne ausgedünnt und Anforderungsniveaus gesenkt, später die Lehrer zu Lernbegleitern degradiert und dafür eigenverantwortliches Lernen propagiert.

Diesen „Gang der Dinge“ nur zu beklagen wäre indes ein wenig scheinheilig. Denn haben nicht allzu große Teile des Bildungspersonals an diesem Niedergang nach Kräften mitgewirkt? Und was ist mit dem Schulleiter, der auch offensichtlich ungeeignete Fünftklässler aufnahm – um sein Kollegium nicht abbauen, sich nicht in Widerspruch zur Schulaufsicht setzen, seine Parteiräson nicht konterkarieren zu müssen? Und dann ist da der Lehrer, der in seinen Klassenarbeiten immer geringere Ansprüche stellte, seine Noten immer öfter liftete – um überforderte, aber fleißige Schüler nicht zu kränken, um es sich mit der Klasse nicht zu verderben, um seine Quote an Fünfen nicht vor dem Direktor begründen zu müssen, um sich die Mühen eines ausführlichen „Lern- und Förderplans“ zu ersparen? Es ist eine Art Bermuda-Dreieck – aus administrativen Vorgaben, pädagogischen Illusionen und beruflicher Bequemlichkeit. […]

Mir scheint, die Lehrerschaft ist keineswegs machtlos, ist „denen da oben“ nicht einfach ausgeliefert. Jeder Einzelne kann sich der schleichenden Bildungsverflachung entgegenstemmen, kann dieser angeblich „gesellschaftlichen Entwicklung“ Sand ins Getriebe streuen. Das sollte doch zumindest für Verbeamtete nicht allzu riskant sein. Und überhaupt: Haben die Schüler nicht ein Recht auf Niveau- und Urteilsehrlichkeit? Man mag einwenden, das sei doch nichts als Sisyphos-Arbeit. Nun, der Einzelne ist zwar nur ein Glühwürmchen, aber in der Masse könnte es doch ganz schön hell werden. Stell dir vor, alle sagen zu mangelhaften Leistungen nicht mehr „drei“ oder „vier“!

Ehrlichkeit im pädagogischen Alltagshandeln ist natürlich nicht alles – man muss auch Forderungen nach oben stellen. Dringend muss der Zugang zum Gymnasium neu reguliert werden. Machen wir uns frei vom gefühlten Druck der hohen Abiturraten anderer Länder! Daraus lassen sich keinerlei seriöse wirtschaftliche Schlüsse ziehen, erst recht keine pädagogischen. Die Schweiz kommt bestens damit zurecht, dass nur jedes fünfte Kind die höhere Schule besucht (auch laut Kognitionspsychologin Elsbeth Stern eine sinnvolle Quote), folglich ist dort eine berufliche Ausbildung auch kein Makel. […]

Für die aber, die in den gymnasialen Bildungsgang aufgenommen wurden, muss wieder die Parole gelten: Ohne Fleiß kein Preis. In Nordrhein-Westfalen – einem der Pisa-Schlusslichter – hatte die rot-grüne Landesregierung den Ganztagsgymnasien 2015 untersagt, Hausaufgaben aufzugeben – auch nicht an Kurztagen, wenn der Unterricht schon mittags endet! Stattdessen könnten die Schüler in fiktiven „Lernzeiten“ innerhalb des Unterrichts üben. Wer nüchtern nachrechnete, entdeckte Skandalöses. Pro Woche verbrachten Ganztagsgymnasiasten seitdem bis zu 5,5 Stunden weniger mit Lernen als zu Zeiten des alten neunjährigen Gymnasiums halbtags. Den leistungsstarken Schülern schadete das mal wieder weniger als den Schwachen – die mittlerweile schon übliche Logik des Misslingens liberaler Bildungsreformen. Genau das Gegenteil war beim Schulexperiment von Malmö so erfolgreich: dass Lehrer viel von ihren Schülern verlangten – und diese breit unterstützten. […]

zum Artikel:  FAZ, 07. 09. 2017, BILDUNGSWELTEN, Michael Felten, Ist das Gymnasium noch zu retten?

Der Autor hat 35 Jahre an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er ist als freier Schulentwicklungsberater und Buchautor tätig (siehe Bücherliste und Seitenleiste).

„Lernen sichtbar machen“

Wie man das LERNEN besser lernt

Fanny Jimenez
[…] „Dass man das Lernen lernen muss, weiß man erst, wenn man scheitert“ sagt Barbara Oakley [Professorin für Ingenieurwissenschaften an der Universität Oakland und ausgezeichnet als Lernexpertin]. Zu zeigen, dass es geht, dass man alles lernen kann, was man will, ist heute ihre Lebensaufgabe. […] Noch immer gebe es viele Mythen darüber, was beim Lernen hilft, was schadet oder unnötig ist. Dabei wisse man inzwischen sehr genau, wie und warum Neues am besten im Gehirn gespeichert wird und welche Lerntechniken deshalb wirklich funktionieren, und zwar bei jedem. […]

Beim Lernen denken viele: “Wenn ich es verstanden habe, dann kann ich es auch. Aber verstehen ist nur ein Teil des Lernens.“ Schließlich nehme man ja auch nicht an, ein Lied singen zu können, nur weil man einmal die Melodie gesummt und dabei den Text gelesen habe.
Aber genau dieser Illusion unterliegen viele Schüler. Vor allem, wenn sie mit Texten arbeiten. Wer unterstreicht, notiert und markiert, hat oft das Gefühl, alles verinnerlicht zu haben. Dass das nicht stimmt, konnten die Psychologen Jeffrey Kapicke und Januell Blunt von der Purdue University nachweisen. Von vier Studiengruppen schnitten drei Gruppen gleich ab, nur eine stach heraus, die sich die meisten Fakten gemerkt hatten: Diese Gruppe sollte den Text nur einmal lesen und direkt danach aufschreiben, was sie behalten hatten. Dann lasen sie erneut und schrieben wieder sofort auf, woran sie sich erinnerten.
Lesen und sofort schriftlich wiederholen ist also die beste Methode, mit Texten umzugehen. Lesen und sofort anwenden die beste Art, Formeln auswendig zu lernen. Jedes Mal ist das ein kleiner Test, jedes Mal weiß man hinterher genau, was man kann – und was nicht.

Auch wenn das viele Schüler nicht gerne hören: Das spricht für Hausaufgaben. Wenige, dafür täglich. Das, was man morgens in der Schule gelernt hat, nachmittags zu wiederholen ist lernpsychologisch gesehen ideal für das Gehirn. […]

Wichtig ist auch, dass man sich vor dem Lernen Gedanken darüber macht, was man erreichen will. „Dazu gehört ein guter Plan, der aufschlüsselt, wie viel man in welcher Zeit lernen muss und welches Ziel man hat“ sagt Tina Seufert, die an der Universität Ulm Lernstrategien erforscht. Dieser Plan sieht anders aus, wenn man eine Drei anstrebt, als wenn man unbedingt eine Eins schaffen will.“ Wer das macht, weiß, was genau ihn erwartet, bevor er sich an den Schreibtisch setzt. Oft brauchen die Kinder und Jugendlichen dabei unsere Hilfe, diesen Plan aufzustellen und einzuhalten.
Nur wer neuen Stoff über mehrere Tage wiederholt, kann sicher sein, dass alles Neue zuverlässig im Langzeitgedächtnis landet. […] Das bedeutet aber auch, dass nächtliche Lernmarathons kurz vor Prüfungen ineffizient sind. Sie fördern die Wissensillusion, aber nicht das Wissen, sagt Barbara Oakley.

Regelmäßig zu Üben mag anfangs nerven, ist aber allen Lernexperten zufolge das Wichtigste. Wiederholung verstärkt die neuronale Spur im Gehirn und automatisiert das Wissen. So fällt den Schülern die Lösung auch dann noch ein, wenn sie aufgeregt in der Prüfung sitzen.
Wer Lehrstoff häufig wiederholt, hat natürlich auch mehr Gelegenheit, Fehler zu machen. [Lehrer und] Eltern sollten ihren Kindern beibringen, sich davon nicht entmutigen zu lassen. Denn über Fehler findet man oft alternative Lösungen und versteht, dass manche Regeln nur für bestimmte Kontexte gelten. Wenn Kinder auf diese Weise immer wieder kleine Hürden überwinden, macht das Lernen mehr Spaß, sagt Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich. „Wenn man das Gefühl hat, Hürden überwinden zu können, sich kompetent zu fühlen und selbst die Kontrolle darüber zu haben, wie man ein Problem löst, dann entsteht Motivation.“ […]

Oft sagen ihr Studenten, dass ihnen das alles zu viel Aufwand sei. Dass es ihnen nur darum gehe, die Prüfung zu bestehen. Diese Art zu denken ist aber fatal. Nur für Tests zu lernen hilft zwar unmittelbar, macht aber auf lange Sicht Probleme. […]
Wer nur auf die nächste Prüfung lernt, bei dem findet kein „Chunking“ statt. Neurowissenschaftler bezeichnen damit Abläufe, die aus vielen einzelnen Schritten, also neuronalen Spuren, bestehen – und die das Gehirn nach vielen Wiederholungen zusammenfasst. Ohne Wiederholung und Üben bleiben die neuronalen Spuren getrennt – und das Lernen bleibt immer neu und anstrengend. […]

„Musik ist bei allem, wo man sich wirklich konzentrieren muss, eher störend“ sagt Elsbeth Stern. „Wo man sie aber gut einsetzen kann, ist in den Pausen. Zum Abschalten, um sich selbst in eine gute Stimmung zu bringen. Das kann beim Lernen danach helfen“. […] Und je öfter man lernt, umso leichter fällt das Anfangen beim nächsten Mal.

zum Artikel:  Welt am Sonntag, Wissen, 03.09.2017, Fanny Jimenez, Wie man das LERNEN besser lernt

siehe auch: John Hattie, Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen

„Lieblingsprojekt Gemeinschaftsschule“

Integrationskonzept Gemeinschaftsschule – erfolglos

WitschaftsWoche, Bildungspolitik, 31.08.2017, Ferdinand Knauß

Martin Schulz entdeckt Bildung als Thema für seinen Gerechtigkeitswahlkampf. Dabei haben gerade SPD-geführte Bundesländer, Berlin voran, bei der Schulpolitik zuletzt alles andere als überzeugt. […]

Vor allem das von Schulz und dem Berliner regierenden Bürgermeister Michael Müller ausdrücklich mit der „Nationalen Bildungsallianz“ verknüpfte Ziel, für Chancengleichheit und Integration zu sorgen, wird von den Ergebnissen der lange Zeit SPD-regierten Bundesländer besonders deutlich verfehlt. Denn laut Bildungsmonitor belegen Bremen, Berlin und Hamburg, aber auch Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen hier Schlussplätze. 21,9 Prozent der ausländischen Schulabgänger in der Hauptstadt haben keinen Schulabschluss – und damit kaum Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. […] Kurz gesagt: Ausgerechnet in den Hochburgen der Gerechtigkeitspartei SPD sind der Lernerfolg und damit die späteren beruflichen Aussichten besonders stark von der Herkunft abhängig.

Ein Lieblingsprojekt sozialdemokratischer Bildungspolitik ist die Gemeinschaftsschule. Erwartet wird von ihr nämlich genau das, was sich Martin Schulz und die SPD als Ziel auf die Wahlkampffahnen geschrieben haben: Mehr Gerechtigkeit. „Sie hat“, so heißt es beim Berliner Senat, „das Ziel, mehr Chancengleichheit und -gerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen und eine optimale Förderung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Schülerinnen und Schüler zu schaffen“.

Im Rahmen einer Gemeinschaftsschule sollen die verschiedenen Schularten flexibler als in Gesamtschulen miteinander kombiniert werden bis hin zur vollständigen Zusammenführung. Die einzelnen Schulen sollen sich – abgestimmt auf die jeweilige lokale Situation – selbstbestimmt verändern können. Es gibt keine nach Leistungsniveaus bestimmten festen A-, B- oder C-Kurse. Im gemeinsamen und „offenen“ Unterricht – in „Lerngemeinschaften“ – soll die Heterogenität der Schüler zum Vorteil werden.

Durch Unterstützung „individueller Lernwege“  und „selbstständigen Lernens“ der Schüler sollen maximale „Lernzuwächse“ erreicht und die „Trennung von Lernerfolg und sozialer Herkunft“ überwunden werden, wie es auf der Website des Senats heißt. Neben der Integration von Migrantenkindern soll das nicht zuletzt auch die Inklusion Benachteiligter erleichtern.

Klingt alles sehr gut – vor allem im Rahmen eines Gerechtigkeitswahlkampfes. Aber erfüllen die Gemeinschaftsschulen – in Berlin gibt es seit 2008 mittlerweile 25 – auch die sozialdemokratischen Hoffnungen?

Die Berliner Senatsverwaltung gibt sich zufrieden: „Die Ergebnisse zeigen, dass die Entwicklung der Gemeinschaftsschulen hin zu einer Schule für alle Schülerinnen und Schüler von Fortschritten und der Verfestigung des Erreichten gekennzeichnet ist“, fasst sie den in ihrem Auftrag erstellten „Abschlussbericht“ der „Wissenschaftlichen Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule“ zusammen.

Der „Arbeitskreis Gute Schule Berlin“, ein Zusammenschluss von Lehrern und Eltern, kommt zu einem anderen Ergebnis: Die mit hohen Investitionen (bis 2012 bereits 22 Mio. Euro) und großem Engagement der Lehrkräfte eingeführte Gemeinschaftsschule und ihre Konzeption zeitigen die von der Schulsenatorin vorgegebenen Erfolge nicht.“

Denn was die Senatsverwaltung nicht erwähnt, sind die im Abschlussbericht genannten ernüchternden Aussagen von Lehrern der Berliner Gemeinschaftsschulen: Mehr als die Hälfte von ihnen bewerten den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht.

Nach Befragung von zwei Lehrerteams heißt es im Bericht: „Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt.“ In einigen Interviews sei, so der Bericht, deutlich geworden, „dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen.

zum Artikel:  http://www.wiwo.de/politik/deutschland/gemeinschaftsschule-und-co-schulz-und-das-scheitern-der-spd-bildungspolitik/20258110-all.html

zur Analyse des „Arbeitskreises Gute Schule Berlin“ zur „Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?“ Zum Abschlussbericht der Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen.

Der „Arbeitskreis Gute Schule Berlin“ ist eine Gruppe von Lehrerinnen, Lehrern und Eltern. Die Lehrkräfte sind an allgemeinbildenden Schulen im Primar- und Sekundarbereich sowie an berufs­bildenden Schulen tätig. Über ihre praktische Unterrichtstätigkeit hinaus sind sie, wie viele andere Lehrkräfte auch, an pädagogischen, didaktischen und bildungspolitischen Fragen interessiert. Im stän­digen Austausch miteinander entschlossen sie sich, Beobachtungen und Entwicklungen im Berliner Schulwesen über das Erleben und Wahrnehmen hinaus zu analysieren, zu kommentieren und darüber zu informieren. Ihr Wunsch ist, eine breite Diskussion für alle daran Interessierten anzustoßen.

email-Adresse:  gute-schule-berlin@online.de


Aus der McDonald´s Ausbildungsstudie 2017, Institut für Demoskopie Allensbach (IfD):

Ein wichtiges Thema der Bildungspolitik ist die Grundstruktur des Schulsystems. In der jungen Generation gibt es einen breiten Rückhalt für das mehrgliedrige Schulsystem: 63 Prozent der unter 25-Jährigen favorisieren nach der Grundschulzeit ein mehrgliedriges Schulsystem mit der Beibehaltung des klassischen Gymnasiums und einer Mischform aus Haupt- und Realschule [Integrierte Sekundarschule (ISS), Gesamtschule, Stadtteilschule, u.a.].

Lediglich 23 Prozent der unter 25-Jährigen sprechen sich für die Gemeinschaftsschule aus, die alle Schüler besuchen und in der sie unabhängig von ihrem Leistungsniveau gemeinsam unterrichtet werden. Die Befürworter der Gemeinschaftsschule rekrutieren sich überdurchschnittlich aus jungen Erwachsenen mit einfachem Schulabschluss. (S. 40)

zur Studie:  https://karriere.mcdonalds.de/docroot/jobboerse-mcd-career-blossom/assets/documents/McD_Ausbildungsstudie_2017.pdf