Schlagwort-Archiv: Bildungsreformen

Individualisierung verkennt das Potenzial sozialer Kontexte beim Lernen

Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden

Lipowsky_IndividualisierungDr. Frank Lipowsky ist seit 2006 Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel
Dr. Miriam Lotz ist Akademische Rätin im Fachgebiet Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel

Auszüge aus:  Lipowsky, F. & Lotz, M. (2015). Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden. In G. Mehlhorn, F. Schulz & K. Schöppe (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 155-219). München: kopaed

Die Forderung nach einer stärkeren Individualisierung beim Lernen wird als schul­pädagogische Antwort auf die wachsende Heterogenität von Schulklassen verstanden: Da die Lernenden so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen (zsf. Kluczniok, Große & Roßbach 2011, Scharenberg 2012, Trautmann & Wischer 2011), sei es erfor­derlich, die Lernangebote an den Bedürfnissen der einzelnen Schüler auszurichten und die Lernprozesse weitgehend individualisiert zu organisieren (z. B. Hessischer Landtag 2014). (S. 155)

(…) Auch wenn mit dem Begriff der Individualisierung tatsächlich unterschiedliche Be­deutungen assoziiert werden: Gemeinsam scheint diesen Verständnissen zu sein, dass die Anpassung der unterrichtlichen Angebote an die Bedürfnisse einzelner Schüler herausgestellt wird und dass daraus folgend Unterrichtsphasen, in denen die Schüler individuell für sich arbeiten, für bedeutsamer und wichtiger gehalten werden, wäh­rend Kommunikations- und Interaktionsprozesse, die auf die Auseinandersetzung mit Mitlernenden und die Interaktion mit der Lehrperson angewiesen sind, in den Hintergrund rücken.  (S. 159f)

Nach den bisherigen Studien, die individualisierten Unterricht und Formen von Binnendifferenzierung genauer untersuchen, erfüllen sich die Erwartungen, die man mit diesen Formen des Unterrichts verbindet, nicht in dem erhofften Maße. Hattie (2013) gelangte zum Ergebnis, dass individualisierter Unterricht im Mittel einen lern­förderlichen Effekt von d = 0.23 hat, was einem schwachen Effekt entspricht (zur Be­deutung von Effektstärken vgl. Lotz & Lipowsky in diesem Band [Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht – Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion]). Auch die mittlere Effektstärke für binnendifferenzierenden Unterricht ist mit d = 0.16 nicht größer, das heißt Schüler, die in einem Unterricht mit binnendifferenzierten Angeboten lernen, lernen nicht viel mehr dazu als Schüler in einem Unterricht, in dem keine binnendiffe­renzierende Maßnahmen angeboten werden.

Diese eher geringen Effekte über alle [auch ältere] Studien hinweg überraschen zunächst und werfen die Frage auf, warum sich die Erwartungen, die man mit einer zunehmenden Individualisierung verbindet, vielfach nicht erfüllen. Wie im weiteren Verlauf des Bei­trags dargestellt wird, spricht vieles dafür, dass Individualisierungs- und Differenzie­rungsmaßnahmen im Unterricht deshalb eine so geringe Effektivität haben, weil es an der Qualität der Umsetzung mangelt und weil die entsprechenden Maßnahmen häu­fig nicht vertiefte Lernprozesse auf Seiten der Schüler anstoßen können (…) (S. 162f)

(…) Unterricht im Allgemeinen und Formen von Individualisierung im Besonderen zie­len darauf ab, möglichst alle Lernenden gemäß ihrer individuellen Voraussetzungen zu fördern (Leistungsförderung). Häufig wird mit der Forderung nach einer stärkeren Individualisierung auch die Erwartung verknüpft, dass damit die Leistungsunter­schiede zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern verringert werden können (Leistungsausgleich).

Nach allem, was in der Forschung bislang bekannt ist, sind Formen der Individua­lisierung nicht oder allenfalls bedingt geeignet, die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern zu verringern, sofern man diese kompensatorische Funktion überhaupt als Ziel verfolgt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern, wenn sich der Unterricht durch wenig Lehrerlenkung und wenig Strukturierung auszeichnet, eher weitet. (…) Geöffnete Unterrichtsformen laufen demnach Gefahr, insbesondere die Schüler mit geringeren Vorkenntnissen zu benachteiligen, da die Komplexität der behandelten Probleme und Aufgaben das Arbeitsgedächtnis der Schüler zu stark belastet und damit das Lernen und Verstehen neuer Inhalte erschwert. (…) (S. 167f)

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Richtig schreiben, lesen und – verstehen

Unter dem Titel: „Totalschaden für die Orthographie“ berichtet am 10.8.2016 Heike Schmoll in der FAZ:

(…) Den Bildungspolitikern hat [der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes] Heinz-Peter Meidinger vorgeworfen, den Rechtschreibunterricht seit den Lehrplänen der neunziger Jahre systematisch zu vernachlässigen, weil sie als Bildungsbarriere gelte. In der Tat gehört es zum festen Arsenal einiger schulpolitischer Ideologen, die Rechtschreibung als Herrschaftsinstrument zu missachten. So stand es lange genug in den dürren Rahmenlehrplänen für den Deutschunterricht in Hessen, dass Rechtschreibung ohnehin nur deshalb gelernt wurde, um sie kritisieren zu können.

Dass es mit den Orthographiekenntnissen ihrer Schüler nicht zum Besten steht, wissen die meisten Kultusminister sehr wohl. Nicht umsonst haben sie sich seinerzeit geweigert, die Rechtschreibleistung als Teil des Leistungsvergleichs zwischen den Ländern überprüfen zu lassen. [Heute wird die Rechtschreibleistung wieder einbezogen.]

Doch warum lassen Kultusminister es sehenden Auges zu, dass in den Grundschulen keine Diktate mehr geschrieben werden, weil bis zum Ende der dritten Klasse ohnehin nur nach dem Hören (phonetisch) geschrieben wird und das Erlernen der Orthographie auf die vierte Klasse vertagt wird? [Ein Vertreter dieser Methode ist Hans Brügelmann, siehe weiter unten]. Damit sind schwächere Schüler überfordert. Mit der Gleichmacherei haben die Minister weitere Ungleichheiten geschaffen. Die Folgeschäden sollen dann die Lehrer weiterführender Schulen beseitigen und scheitern dabei. (…)

Zum gleichen Thema berichten am 10.8.2016 im Berliner Tagesspiegel Amory Burchard und Tilmann Warnecke  im Artikel „Richtig schreiben, lesen – und verstehen“:

Meidinger führt aus: (…) Es sei ein „schwerer Fehler“, dass in einigen Bundesländern keine benoteten Rechtschreibdiktate mehr geschrieben werden dürften. In keinem anderen europäischen Land werde zudem dem muttersprachlichen Unterricht in den Stundentafeln so wenig Platz eingeräumt. (…)

Man [müsse] sich klar sein, so der Schriftsprach- und Grundschuldidaktiker Hans Brügelmann, dass Rechtschreibung eine „dienende Funktion“ im Rahmen einer umfassenden Schriftsprachkompetenz habe: Das Ziel, möglichst korrekt zu schreiben, dürfe andere Formen der Schriftsprache, wie das Lesen und Verfassen von Texten, nicht dominieren. „Wem nutzt es, Belanglosigkeiten oder inhaltlichen Unsinn orthografisch korrekt schreiben zu können?“

Im Tagesspiegel schreibt am 14.8.2016 Peter von Becker „Rechtschreibung heute – Es geht um mehr“:

(…) Die heutige Sorge freilich betrifft nicht die Details bestimmter Schreibweisen [Rechtschreibreform], sondern die Grundlegende Kompetenz junger Leute, überhaupt noch lesen, komplexere Texte verstehen und sich dazu sprachlich, das heißt auch: schriftlich angemessen, äußern zu können. (…) Denken und Sprache, die unsere Identität ausmachen, hängen unauflöslich zusammen. Schärfe, Klarheit, Ausdrucksvermögen brauchen aber ein Mindestmaß an Form. Deshalb sprechen, schreiben, lesen wir – und sollten es weiter können: Ohne unser Hirn, wie schon beim Kopfrechnen, bloß an computerisierte Hilfen und Schirme zu delegieren [kann nicht die Zukunft sein].

aus der Streitschrift:  „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung“ von Prof. Konrad Paul Liessmann

Schreiben nach dem Gehör! Schreiben, wie man spricht, ohne dabei korrigiert zu werden – das könnte die Kinder traumatisieren -, wird schon seit einigen Jahren praktiziert und zeitigt nun seine sichtbaren Erfolge: das Ende der Orthographie.
“Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, deren grundlegende Beherrschung unerlässlich ist. Dass der Erwerb dieser Techniken nicht jedem leichtfällt, ist kein Grund, das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren. Besser wäre es, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen und schreiben lernen.”
Liessmann weiter:  “So wohltönend können die Reden der Bildungsreformer und ihrer politischen Adepten gar nicht sein, dass sich dahinter nicht jene Geistfeindlichkeit bemerkbar machte, die den Analphabetismus als geheimes Bildungsziel offenbart.” (siehe Bücherliste)

„Berliner Bildungsverwaltung will ihre Bilanz schönen“

Abschlussprüfungen an Berliner Schulen

Mathe zu leicht, Bio zu wirr

Bei den Prüfungen an Berlins Schulen hat das Niveau der Aufgaben nachgelassen – sagen Lehrer. Und äußern einen Verdacht.

Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus

Die Klausuren sind geschrieben, bald beginnen die Zeugniskonferenzen, aber Erleichterung will sich nicht einstellen: Gymnasiallehrer beklagen im aktuellen Abitur „wachsweiche Prüfungen“ in Mathematik und eine „wirre Aufgabenstellung“ in Biologie. Sekundarschulen und Berufsschulen hadern damit, dass die Hürden in die gymnasialen Oberstufen gesenkt wurden. Alle zusammen haben den Eindruck, „dass die Bildungsverwaltung ihre Bilanz schönen will“. (…)

Unter den Kollegen von Thilo Steinkrauß, Fachbereichsleiter Mathematik am Herder-Gymnasium in Westend  sei es „unstrittig, dass der Schwierigkeitsgrad streng monoton fallend ist“. (…) „Die Leistungskursklausuren waren tendenziell leichter als sonst“, zitiert Martin Meinhart, Mittelstufenkoordinator der Spandauer Martin-Buber-Sekundarschule, seine Mathematik-Kollegen. Die Schüler hätten im Schnitt eine glatte Zwei erreicht. (…)

Die Universitäten konstatieren allerdings seit Jahren eine eher rückläufige Tendenz beim Wissen, das die Schüler mitbringen: „Sie sind nicht dümmer, sie haben nur weniger gelernt“, fasst FU-Mathematik-Professor Günter Ziegler seine Beobachtungen zusammen. (…)

Unabhängig von den aktuelle Aufgaben steht für den Verband der Oberstudiendirektoren fest, „dass es bei den Anforderungen in den nächsten Jahren dringend wieder eine Tendenz nach oben geben muss“, betont der Vorsitzende Ralf Treptow.

Daran ist allerdings nicht zu denken. Im Gegenteil. Nachdem 2015 die Zahl der Berliner Schüler ohne Abschluss bei über zehn Prozent lag, ist die Hoffnung zerstoben, dass schon allein die Abschaffung der Hauptschulen zu besseren Ergebnissen führen würde. [Erstaunlich, dass durch diesen Etikettenwechsel doch viele glauben, es seien nun höhere Bildung und qualifiziertere Schüler unter dem Banner eines neuen Schulnamens und einer neuen Schulart versammelt.]
Insbesondere an der Mathematik scheitern viele. Das sei wohl auch der Grund dafür, dass die diesjährigen Mathematikaufgaben im Mittleren Schulabschluss noch leichter als bisher ausgefallen seien, vermuten mehrere Lehrer.

Gleichzeitig weisen sie aber darauf hin, dass die Mathematikarbeit überhaupt noch die letzte echte Hürde sei: „Die Englischklausur kann man zumindest auf dem Niveau der Berufsbildungsreife bestehen, ohne ein Wort Englisch zu können“, sagt ein Englischlehrer mit Hinweis auf die Aufgaben zum Ankreuzen. Der Verzicht auf das Sitzenbleiben in den Sekundarschulen habe den Niveauverlust noch befördert, bedauert ein anderer Sekundarschulvertreter. (…)

Was die [Lehrer-]Kollegen aus anderen Sekundar- und auch Berufsschulen allerdings viel mehr umtreibt, ist der Niveauverlust in Klasse elf: Seitdem Schüler mit einer Fünf im Hauptfach und einem Durchschnitt von Drei minus in die gymnasiale Oberstufe dürfen, scheitern sie massenhaft. „Wir haben noch nie so viele blaue Briefe geschrieben“, berichten mehrere Schulen. (…) „Man suggeriert den Schülern, dass sie es schaffen können und lockt sie in eine Falle, anstatt dass sie mit einer Berufsausbildung anfangen“, bedauert ein stellvertretender Schulleiter aus Neukölln. Das sei „vertane Lebenszeit“. Der Verzicht auf das Sitzenbleiben in den Sekundarschulen habe die Entwicklung befördert, dass die Schüler beim Mittleren Schulabschluss (MSA) oder spätestens in Klasse elf massenweise scheitern.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr

siehe auch: Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Grübeln überflüssig
Die zentralen Mathematikprüfungen für Zentklässler waren in diesem Jahr auffallend leicht zu bestehen. Lehrer kritisieren den Test als „Pillepalle“. Aus Bayern heißt es, das Niveau entspreche der siebten Klasse.

siehe auch:  Schriftliche Prüfungsarbeit zur erweiterten Berufsbildungsreife und zum mittleren Schulabschluss 2016, 10. Mai 2016, im Fach Mathematik

siehe auch:  Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss

In Berlin und den Bundesländern wie auch im Nachbarland Österreich gilt politisch der OECD-Wille, die Abiturientenzahlen nach oben zu treiben. Das hat seinen Preis!

Die Berliner Bildungspolitik kann das Problem nicht weiterhin ignorieren oder schönreden.  Es ist im Sinne einer fundierten Bildung unserer Schülerinnen und Schüler zu lösen und nicht auf deren Kosten!

siehe auch:  FAZ, 18.05.2016, Hans-Jürgen Bandelt, Hans- Jürgen Matschull, Denken darf hier nur der Taschenrechner

Das Mathematikabitur 2016 in Niedersachsen, das nun nach massiven Beschwerden weniger streng bewertet wird, muss für viele Betroffene, schwache wie starke Schüler, das Grauen gewesen sein. Kultusministerin Frauke Heiligenstadt ließ gleich nach den ersten heftigen Protesten höchstpersönlich verlauten, dass die Aufgaben anspruchsvoll, aber vom Schwierigkeitsgrad leistbar gewesen seien und den Vorgaben entsprochen hätten. Das ist erstaunlich. Denn in fachlicher Hinsicht ist die zugrundeliegende Mathematik als einfach bis banal zu bezeichnen. Die Aufgabensteller scheuten jedoch keine Mühe, die simplen und rein schematisch lösbaren Aufgaben mit einem Textwust zu versehen, der Realitätsbezug und Anspruch vorspiegeln soll. Schwammige Formulierungen und Gedankensprünge taten ein Übriges. (…)

Hans-Jürgen Bandelt ist Professor für Mathematik an der Universität Hamburg, Hans-Jürgen Matschull lehrt Mathematik und Physik am Lichtenberg-Gymnasium in Cuxhaven.

Gymnasiale Bildung – heute und morgen

Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’.

aus PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann – Universität Wien, Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

(…) Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiastin bundesweit für Aufregung, sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: »Ich bin fast achtzehn und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.« Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben alles so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht eher darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie diese Wendung und ihre Geschichte noch) Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, dann denkt nämlich ohnehin fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einst assoziiert waren: Bildung als proportionierliche Entfaltung der Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen, Bildung als souveräne Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken, Bildung als Fähigkeit, sich elaboriert auszudrücken, Bildung als Aneignung von und Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Religion, Bildung als wissensbasierte Reflexions- und Kritikfähigkeit, Bildung als Schulung der ästhetischen Urteilskraft und der moralischen Sensibilität, Bildung als letzte Aufgabe unseres Daseins.

Im gegenwärtigen Diskurs fungiert ‘Bildung’ in der Regel als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Schulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’. (…)

Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses. (…)

[Kinder und Jugendliche] werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substantielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die vielgerühmte ‘Selbstkompetenz’ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der Selbsterkenntnis sabotiert. Ähnlich verhängnisvoll ist die Vorgabe, dass alles und jedes, was gelernt wird, seine Anwendung finden muss. Denn dies bedeutet, dass die Kunst und die Wissenschaften, die großen Dokumente der eigenen und von fremden Kulturen, Gedanken- und Glaubenssysteme, die Natur und ihre Gesetze ausschließlich unter der Perspektive, ob Kinder und Jugendliche sie in ihrer Lebenswelt irgendwie nützen können, angesprochen und vermittelt werden dürfen. Die damit verbundene geistige und seelische Verarmung ist mit Händen zu greifen. (…)

Gleichzeitig verstehen sich aber vor allem primäre und sekundäre Bildungseinrichtungen zunehmend als Orte, an denen es weniger um Kompetenzen und Qualifikation, sondern um soziale Integration und die Herstellung gerechter Verhältnisse gehen soll. Schule soll dann die Defizite der Gesellschaft ausgleichen und für Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten und niemand darf zurückbleiben. Individualisierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben. Wer gegen Individualisierung und gegen Inklusion argumentieren wollte, machte sich sofort verdächtig, ungerechte Verhältnisse fortschreiben und die Chancen von Menschen beschneiden zu wollen. Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich niemand aussetzen. (…)

Wenn Bildung auch bedeutet, jungen Menschen jene Kulturtechniken und jene Kenntnisse zu vermitteln, die als notwenige Voraussetzung gelten, um die Gesellschaft, ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Wissensformen zu verstehen und deshalb daran partizipieren zu können, dann kann zur Einlösung dieses Anspruches der Maßstab nicht nur im Individuum liegen. Bildung heißt auch, sich an den Errungenschaften einer Kultur abzuarbeiten, die nicht beliebig disponierbar sind. (…)

Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass nichts so sehr in der Wissensgesellschaft verachtet wird, wie der Erwerb von Wissen. ‘Faktenwissen’ ist zu einem Unwort geworden, diese Form des Wissens muss aus den Schulen verbannt werden, niemand soll mit Dingen belastet werden, die man entweder überall nachschlagen kann oder die ohnehin rasch veralten. Die flächendeckende Umstellung der Lehr- und Studienpläne an Schulen und Universitäten von definierten Kenntnissen und Inhalten auf ‘Kompetenzen’, ‘Workloads’ und ‘Soft Skills’ ist nur das sichtbarste Zeichen einer generellen Entwertung des Wissens. (…)

Nun wäre es Unsinn zu leugnen, dass Ausbildungsprozesse und eine breite Palette von Ausbildungsmöglichkeiten für eine moderne Gesellschaft von allergrößter Bedeutung sind. Fraglich aber bleibt, ob Bildung tatsächlich auf Lebensnähe, Schülerzentriertheit, Praxisrelevanz und eine am Kriterium des ökonomischen Nutzens orientierte Ausbildung reduziert werden kann. Das Problem beginnt schon damit, dass der Begriff des ‘Nutzens’ selbst höchst vage ist und oft nicht mehr als divergierende gesellschaftliche Interessen beschreibt, die sich zudem rasch ändern. (…) Ein Kunstwerk verstehen und interpretieren zu können, hat deshalb sehr wohl mit Bildung zu tun, die Fähigkeit, eine Steuererklärung ausfüllen zu können, mag lebensdienlich sein, stellt aber keine Bildungsperspektive dar. (…)

Zwar weiß niemand mehr, was unter Bildung zu verstehen ist, aber alle sind sich einig, dass Bildung die wichtigste Ressource in einer wettbewerbsorientierten Wissensgesellschaft darstellt. Der Schluss, den viele daraus ziehen, ist allerdings merkwürdig: In immer kürzerer Zeit sollen immer mehr junge Menschen aus immer unterschiedlicheren Milieus immer kostengünstiger immer besser ausgebildet werden. Das kann nicht gut gehen. Die Absolventen eines klassischen Gymnasiums hätten noch gewusst, dass im deutschen Wort Schule das griechische scholé steckt: Es bedeutet so viel wie Muße. Wer in Bildungsfragen Hektik verbreitet – und dies macht fast jeder – ist schon auf dem falschen Weg.

Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann am 12. Januar 2016 am Edith-Stein-Gymnasium in Bretten, Baden-Württemberg, auf Initiative des PhV-Bezirksverbandes Nordbaden. Der gesamte Vortrag ist nachzulesen in PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes

Lieblingslösung: „Weniger Bildung“

Das Gymnasium und die Bildungsreformer

von Harald Martenstein in der Zeitschrift PROFIL des Deutschen Philologenverbandes

Ich verdanke dem Gymnasium fast alles, zumindest  im geistigen Bereich. Als Kind hatte ich keine idealen Startbedingungen. Dass ich heute vom Schreiben leben kann, verdanke ich vor allem meiner Schule und meinen Lehrern. Zum Glück haben sie mich gezwungen, an meine Grenzen zu gehen und meine Grenzen zu erweitern. Deshalb verteidige  ich das Gymnasium, mit jeder Faser meines Herzens. Was die Bildungspolitik betrifft, wird es für mich allerdings  immer schwieriger, mich zu äußern, ohne satirisch zu werden.

2014 haben etliche Bildungspolitiker einen gemeinsamen  Aufruf zur ‚Zukunft des Gymnasiums‘ veröffentlicht. Das hat mich sehr gewundert, weil ‚Gymnasium‘ doch für viele Bildungsreformer beinahe ein Hasswort ist. Warum? Gymnasium, das hießt immer: umfassende Bildung. Und je umfassender ein Mensch gebildet  ist, desto skeptischer steht er natürlich in der Regel Bildungsreformen gegenüber. Wenn Bildungsreformer sich zur ‚Zukunft  des Gymnasiums‘ äußern, dann ist das ungefähr so, als ob Nordkorea einen Aufruf zur ‚Zukunft der Meinungsfreiheit‘ veröffentlicht. (…)

Das Turboabitur nach acht statt neun Jahren ist eine typische deutsche Bildungsreform. Das heißt, sie wird relativ unvorbereitet gegen den Widerstand vieler Eltern und nicht weniger Lehrer in hohem Tempo durchgesetzt, dann gibt es Probleme, und nach einigen Jahren wird der Menschenversuch unter heftigen Rückzugsgefechten abgebrochen. (…)

Die Autoren des Aufrufs schlugen vor, einfach die Stundenzahl und damit die Bildungsstandards  zu senken. Weniger Bildung, das ist immer ihre Lieblingslösung. (…)

Seit Jahren werden auch die Schulnoten in Deutschland immer besser. Wenn man sich die Noten anschaut, dann ertrinkt das Land fast in einer Flut von Universalgenies. An der Spitze steht Berlin. ln den wenigen Jahren von 2006 bis 2012 hat sich in Berlin die Zahl der Abiturienten mit dem Notendurchschnitt 1,0 vervierfacht. (…) Das Abitur wird immer einfacher, damit es soziale Gerechtigkeit gibt. Das Abitur soll kein Privileg von Besserlernenden oder Besserwissenden mehr sein, fast alle Schüler sollen es bekommen. Weil aber nun einmal nicht alle Menschen so intelligent, ehrgeizig oder fleißig sind, dass sie ein schwieriges Abitur ablegen können, muss es einfach sein. (…)

Ein anderes Reformprojekt ist die Abschaffung der Schulnoten. Die frühere  Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud  Wende, begründete diese Maßnahme in einem Artikel  für die ZEIT damit, dass Noten unfair  sind. (…) Statt Noten soll es in Zukunft ‚Kompetenzbeschreibungen‘ geben. Die Lehrer müssen ausführlich Kompetenzen und Defizite jedes Schülers beschreiben. (…) Im Fach Deutsch zum Beispiel soll auch ‚Zuhören‘ bewertet  werden. Ein Schüler, der weder lesen noch schreiben kann, immer  Kaugummi kaut und niemals ein Wort sagt, findet  in seinem Abiturzeugnis  dann den Satz: „Ben kann gut zuhören und versteht auch manches.“ Offenbar werden, um seelische Verwundungen  zu vermeiden, Schulzeugnisse den Arbeitszeugnissen angeglichen. (…)

Das Gymnasium, das ich mir als Ideal vorstelle, ist offen für alle Begabten, es schaut auf die Intelligenz  und nicht auf die Abstammung. Aber es fordert  auch Leistung. Jeder soll eine Chance auf Bildung bekommen, aber er muss sie auch nutzen. Eine Abiturientenquote von sechzig Prozent eines Jahrgangs, die durch Absenkung des Niveaus erreicht wird, ist in Wirklichkeit nur ein fauler Trick, eine Manipulation der Statistik, davon hat weder der Arbeitsmarkt noch der Abiturient etwas. (…)

Ich dachte immer, bei ‚Bildung‘ gehe es darum, den Horizont der Schüler zu erweitern, nicht darum, ihren Horizont  widerzuspiegeln. (…)

Statt die vorhandenen guten Schulen endlich zu stärken, mehr Schüler, mehr Lehrer, mehr Förderung, machen die Reformer den guten Schulen, zum Beispiel den Gymnasien, das Leben schwer und erfinden  ständig etwas Neues. (…)

zum Beitrag:  PROFIL, Deutscher Philologenverband, April 2016, Seite 21-26, Harald Martenstein, Das Gymnasium und die Bildungsreformer

Harald Martenstein ist Kolumnist der ZEIT und des Berliner Tagesspiegels

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Der Bildungsputsch

Seit Jahren löst eine Bildungsreform die nächste ab.

Trotz aller hiermit verbundenen Versprechungen ist bisher kaum etwas besser, sondern vieles schlechter geworden. Zeitgleich nehmen immer mehr private Investoren das öffentliche Bildungswesen ins Visier. Zufall? Sicher nicht, meinen einige Forscher in einer aktuellen Publikation, in der sie exemplarisch die Verkürzung der Abiturzeit mittels G8 unter die Lupe nehmen. (…)

Jens Wernicke im Interview mit Matthias Burchardt, Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität Köln.

Herr Burchardt, Sie sind Autor des soeben erschienenen Buches „weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden“. Ist das nicht ein wenig hoch gestapelt: „Kollateralschäden“ durch eine Bildungsreform?
Möglicherweise ist es sogar verharmlosend, denn ein Kollateralschaden ist ja eine Begleiterscheinung bei der Umsetzung eines höheren Zieles, das als gut gilt. Was aber wäre, wenn die versprochenen humanitären Ziele – ähnlich wie in der Kriegspropaganda der letzten Jahre – nur vorgeschoben wären und die Schäden beabsichtigt sind?

Uns wurde versprochen, dass mit westlichen Waffen Humanität und Demokratie herbeigebombt werden sollten und würden. Stattdessen haben wir nun in vielen der von uns „befreiten“ Länder zerstörte Infrastruktur, kulturelle Entwurzelung und zerfallende Staaten, während der Eindruck entsteht, dass dieses Vakuum geostrategischen Interessen und dem Ressourcenhunger der Großmächte durchaus in die Hände spielt.

Was wäre, wenn der Schaden auch bei den Schulreformen der letzten Jahre Teil einer globalen Agenda wäre, die sich einen verwertbaren und politisch unmündigen Menschen wünscht, der leichter zu steuern ist, weil er nicht mehr über die fachlichen Horizonte des Urteilens oder über ethische und emanzipatorische Perspektiven verfügt? Die Programme und Strategien der OECD beispielsweise arbeiten schon seit den 60er Jahren mit langem Atem an der Realisierung eines solchen Projektes.

In meinem Artikel schlage ich ausgehend von einer konkreten Reform – jener der Schulzeitverkürzung mittels G8 – den Bogen zu den Akteuren und Nutznießern im Hintergrund und ihren Modellen der ökonomistischen und antidemokratischen Globalisierung. (…)

Sie sprechen beim Thema G8 ja sogar von einem „Reformputsch gegen die humanistische Bildungskultur“. Inwiefern denn das?
Ein Putsch ist die Veränderung von politischer Wirklichkeit durch Organe, die vom Grundgesetz nicht vorgesehen sind. Auch nach genauer Lektüre habe ich bisher an keiner Stelle entdeckt, dass die OECD oder die Bertelsmann Stiftung einen verfassungsmäßigen Auftrag zum Umbau unseres Bildungswesens hätten.

Vielmehr greifen hier Formen der “Soft Governance“, also des weichen Regierens, die zwar die Kulissen der Demokratie intakt lassen, gleichwohl aber dem Souverän – und in Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es nicht umsonst: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – subtil die Macht entziehen.

Diese Akteure gebärden sich in der Rolle der hilfreichen Berater und verfolgen unter der Hand ihre eigenen Ziele. Die PISA-Studie gibt hier ein gutes Beispiel ab, da sie vor dem Hintergrund einer wissenschaftlich eher peinlichen Konzeption gleichwohl auf dem Wege öffentlicher Propaganda die Semantik und Pragmatik der Bildungsdiskurse umprogrammieren konnte. (…)

zum Artikel:  NachDenkSeiten – Die kritische Website, 14.03.2016, Der Bildungsputsch

zum Buch:  „weniger ist weniger: G8 und die Kollateralschäden, Analysen und Materialien“, siehe Bücherliste

siehe auch:   Wieder Streit über das Turbo-Abitur

Der Streit um das acht- oder neunjährige Gymnasium ist in Nordrhein-Westfalen neu

Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren, Die Welt, 22.10.2015

Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren, Die Welt, 22.10.2015

entbrannt. Doch auch in anderen Ländern wird wieder verstärkt über die Rückkehr zum G9 diskutiert.
zum Artikel:  FAZ, 13.05.2016, Reiner Burger, Wieder Streit über das Turbo-Abitur

siehe auch:  Fachthemen zu „Schule und PISA/OECD“