Schlagwort-Archive: Bildungsreformen

Ideologische Schieflage bei der Rechtschreib-Debatte

„Kinder werden systematisch in die Irre geführt“

Kölner Stadt-Anzeiger, 13.7.2019, Karlheinz Wagner und Michael Hesse im Gespräch mit Prof. Una Röhr-Sendlmeier.

Es spricht für die Brisanz des Themas, wenn sich an einem lauen Frühsommerabend 150 oder mehr Menschen – Pädagogen, Gewerkschafter, Eltern – zu einem Vortrag in die Aula des Irmgardis Gymnasiums von Köln-Bayenthal hocken. „Schraim nach Gehöa“ hatten Prof. Una Röhr-Sendlmeier von der Uni Bonn und ihr Doktorand Tobias Kuhl den Abend orthografisch angemessen keck benannt, denn um „Wege und Irrwege im Rechtschreibunterricht“ sollte es ja gehen. Die Wissenschaftler stellten ihre Studie vor; sie hatten untersucht, nach welchen Methoden und mit welchem Erfolg Grundschüler in NRW Schreiben und Lesen lernen. Die Ergebnisse – die Mehrzahl der Kinder lernt Orthografie nicht oder nicht hinreichend gut – hatten die Zuhörer geahnt; dennoch herrschte am Ende im Auditorium eine Form von zorniger Ratlosigkeit: Warum werden Schüler nach Methoden unterrichtet, die im Ergebnis nicht funktionieren?

Frau Röhr-Sendlmeier, eine Frage zum Beginn der Ferien: Was wird sich im nächsten Schuljahr ändern – immerhin hat die NRW-Landesregierung eine Neuausrichtung zum Thema Rechtschreib-Unterricht angeordnet?

Wenn – wie die Ministerin sagt – Fehler von Anfang an korrigiert werden sollen, wenn die Kinder einen verbindlichen Mindestwortschatz erwerben und wenn die Regeln der Schriftsprache vermittelt werden sollen – dann sind das drei wichtige Säulen, die man nur begrüßen kann. Wenn aber gesagt wird, dass der Ansatz „Lesen durch Schreiben“ weiterhin im Anfangsunterricht möglich sein soll, dann ist Vorsicht geboten. Bei systematischem Unterricht kann man Anlauttabellen als Zusatzmaterial anbieten. Man darf die Kinder aber nicht in dem Glauben lassen, sie könnten sich die Rechtschreibung über die Anlauttabelle selbst erschließen. Und es muss freundlich korrigiert werden von Personen, die die Orthografie beherrschen, damit sich die Kinder nichts Falsches einprägen.

Wollen Sie die unterschiedlichen Methoden noch einmal skizzieren?

Wir haben drei didaktische Ansätze untersucht.

1. Fibel-Unterricht: Dabei spielen die Lehrer als Wissensvermittler eine zentrale Rolle, es wird geübt und das Geschriebene korrigiert. Der Unterricht ist strukturiert nach den Prinzipien der Schriftsprache – es geht vom Einfachen zum Schwierigen; vom Häufigen zum Seltenen.

2. Rechtschreib-Werkstatt: Es gibt Arbeitsblätter und Kärtchen für Abschreibübungen, die die Kinder selbst auswählen. Der Lehrer hat eine beratende Rolle, er korrigiert nicht; die Kinder sollen sich selbst korrigieren und mit dem Material selber das Schreiben beibringen. Gelernt wird unter anderem mit der Anlaut-Tabelle.

3. Lesen durch Schreiben (oder: Schreiben nach Gehör): Der Lehrer gibt Anregungen zum Schreiben mit Hilfe der Anlauttabelle. Es soll motiviert, nicht korrigiert werden; die Kinder legen Stoff und Lerntempo selbst fest – sie managen ihren Orthografie-Unterricht selbst.

Zu diesem Themenbereich haben Sie eine Studie veranlasst. Was war der Grund?

Die Rektorin einer Grundschule aus NRW ist auf mich zugekommen mit der Beobachtung, dass ihre Schüler am Ende des 4. Schuljahres nicht korrekt schreiben können. Und sie fragte, welche Didaktik sie an ihrer Schule einsetzen solle. Ohne eine breitangelegte und methodisch sauber durchgeführte Studie konnte ich keine Antwort geben.

Wie sind Sie vorgegangen? 

Begonnen haben wir in der Schule, deren Rektorin mich damals angesprochen hatte. Es sind dann elf weitere Schulen hinzugekommen – insgesamt haben wir über drei Jahre hinweg bei denselben 284 Schülern von Schulbeginn an die Entwicklung der Rechtschreibung nach einem gesicherten Verfahren gemessen: nach der Einschulung und dann jedes schulische Halbjahr – insgesamt also fünfmal. Das ist eine sogenannte Längsschnittstudie. Zusätzlich haben wir von 2800 Kindern der Klassen eins bis vier jeweils zum Ende der Schulhalbjahre die Rechtschreibkenntnisse erfasst.

Wie waren die Ergebnisse?

In beiden Teilstudien waren die Ergebnisse der Kinder mit Fibel-Unterricht signifikant besser als bei den Kindern, die nach Lesen durch Schreiben oder Rechtschreibwerkstatt gelernt hatten. In der Längsschnittstudie konnten wir auch die Vorkenntnisse der Schüler erfassen – denn es ist wichtig, ob Kinder zum Beispiel schon Buchstaben kennen. Diese Vorkenntnisse wurden in der Auswertung berücksichtigt und nur die Lernzuwächse der Schüler verglichen. Das Ergebnis: 1. Kinder, die strukturiert nach einer Fibel lernen, erreichen in ihren Rechtschreibleistungen mindestens ein durchschnittliches bis überdurchschnittliches Niveau; nur wenige Kinder lernen nicht gut schreiben, aber auch das auf einem relativ moderaten Niveau. 2. Kinder, die nach einer der freien Methoden lernen, erreichen vielfach nicht ein mittleres Niveau, sondern schreiben unterdurchschnittlich. Es gibt allerdings auch bei den freien Methoden Kinder, die gute und sehr gute Leistungen zeigen.

Woran liegt das?

Man kann fragen, ob das auch an der Unterstützung liegt, die diese Schüler vom Elternhaus erfahren. Die Kinder, die Schulen mit der „Lesen durch Schreiben“-Methode besuchten, hatten signifikant höhere Vorkenntnisse. Dies ist ein Hinweis auf bildungsnähere Familien. Recht neu ist zudem das Phänomen, dass Schüler in großer Zahl in Nachhilfe-Institute gehen, um die Orthografie zu lernen, damit Rechtschreibdefizite, die durch die freien Methoden entstehen, ausgeglichen werden.

Hat Sie das Ergebnis überrascht?

Nun, das Lernen mit Anlaut-Tabellen suggeriert, man könne sich mit einer solchen Abbildung sämtliche Realisierungen von Wörtern erschließen. Dabei enthalten die Tabellen viel zu starke Vereinfachungen. Der Buchstabe E ist etwa illustriert mit einem Esel – da entspricht der Laut tatsächlich dem Namen des Buchstabens. Aber es ist auch eine Ente abgebildet, und das E von Ente ist ein anderer Laut als das E des Esels. Oder: Für das I wird ein Igel gezeigt. Das lange I wird aber in 72 Prozent der Fälle mit „ie“ geschrieben. Die Kinder werden systematisch in die Irre geführt. Man soll dadurch, dass man viel schreibt, lesen lernen. Das ist Unsinn, denn die Prozesse sind lernpsychologisch sehr verschieden. Es wird den Kindern gesagt: Schreib, wie du sprichst. Und weil kein Kind genau weiß, wie es spricht, wurde das abgewandelt: Schreib auf, was du hörst. Die Kinder sollen die Laute, die sie beim Vorsprechen hören, in der Anlauttabelle suchen und die entsprechenden Buchstaben aufschreiben.

Aber Deutsch wird eigentlich nicht geschrieben, wie man es spricht…

Es gibt nur relativ wenige Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen Lauten und Buchstaben. Wir haben Buchstaben, die unterschiedlichen Lauten zugeordnet werden – wie bei Ente und Esel – und wir haben Laute, die verschiedenen Buchstaben zugeordnet sind. Ein gutes Beispiel ist der Laut K, den wir in folgenden Schreibweisen finden: Krokodil, Computer, Qualle, Stück, Fuchs, Weg, Akku, macchiato… Es ist einfach falsch, wenn man den Kindern suggeriert: Ihr könnt euch die Schriftsprache durch Hören und richtiges Sprechen selbst erschließen.

In Ihrem Vortrag haben Sie erläutert, dass sich eine Alphabetschrift nicht von alleine entwickelt; Schriftsprache sei eine kulturelle Errungenschaft, nicht Ergebnis eines biologischen Prozesses… 

Das gilt für die Schriftsprache, ja. Die mündliche Sprachfähigkeit ist uns angeboren und biologisch verankert – Kinder können schon vor der Geburt die sprachlichen Laute ihrer natürlichen Umgebung unterscheiden von anderen Geräuschen – bald nach der Geburt versucht das Kind, die sprachlichen Laute seiner Umgebung zu imitieren. Aber die Schriftsprache ist ein ganz anderer Fall; sie ist eine besondere kulturelle Errungenschaft; es gibt viele Kulturen, die gar keine Schrift entwickelt haben, oder Bilderschriften, die keine Hinweise auf die Lautung enthalten. Die Idee, die enorme Abstraktionsleistung, Einzellaute mit Symbolen in Beziehung zu setzen, ist gar nicht sehr alt; erste Zeugnisse deuten auf eine Entstehung etwa 2000 v. Chr. hin; sie entstanden zunächst parallel zu den ägyptischen Hieroglyphen.

Wie konnten sich diese freien Didaktik-Modelle denn gegen den strukturierten Unterricht so flächendeckend durchsetzen?

Nun, der Zugang über eine Anlaut-Tabelle wurde als neue Idee in den 80er Jahren propagiert – von dem Schweizer Jürgen Reichen. Er wollte alles Bürgerliche abschaffen und eine völlig freie Entfaltung auch für Kinder verwirklichen. Systematische Vermittlung von Strukturen und Korrekturen – das sei nicht gut, befand er. Wörtlich: „Je weniger ein Kind belehrt wird, umso mehr lernt es.“ Das war eine ideologische Vorgabe, die in den damaligen Zeitgeist passte.

Wie Reichen dachte, mag auch folgender Ausspruch illustrieren: „Dieser gesamte Rechtschreibwahnsinn führt doch zu nichts anderem, als die Schule mit Quark zu beschäftigen. Dadurch halten wir die Kinder davon ab, wirklich denken zu lernen und uns mit der Welt und dem Leben auseinanderzusetzen“. Auch er hing der Ideologie an, dass Rechtschreibregeln einzig und allein als Herrschaftsinstrument anzusehen seien. „Varat“-Fahren – Rechtschreibung in der Grundschule, von Heike Schmoll, Sendung: SWR 2, Aula, Sonntag, 28.08.2016, Redaktion: Ralf Caspary

Wenn Sie den gesellschaftlichen Zeitgeist ansprechen – ist die Debatte auch eine politische Auseinandersetzung zwischen einer eher konservativen Auffassung – die Fibel ist ja ein klassisches Bildungswerkzeug – und einer eher linken Methodik?

Ich bin Wissenschaftlerin und möchte Fragen objektiv beantworten. Die nüchterne Frage nach einer hilfreichen Didaktik ist zu einer ideologischen Debatte auf gesellschaftlicher Ebene geworden, leider. Es wird dabei ausgeblendet, dass der moderne Fibel-Unterricht nur wenig zu tun hat mit den traditionellen Fibeln, wo es häufig um langweilige Dinge ging und es keine Differenzierungsmöglichkeiten gab zwischen denen, die etwas langsamer lernen, und denen, die schneller vorankommen. Die Debatte selbst beinhaltet somit eine Schieflage. Es sollte ausschließlich um das Wohl der Kinder gehen und nicht um politische Glaubenssätze.

Wie geht die Politik mit Ihren Erkenntnissen um?

NRW hat ja offensichtlich reagiert… Als wir die Ergebnisse hatten – vor etwa einem Jahr – haben wir sie auf einer Tagung in Dortmund vorgestellt und sie Frau Ministerin Gebauer in Kurzform regelrecht in die Hand gedrückt. In der Folge gab es weitere Fachkonferenzen, und es gab Presseberichte. Danach erreichte uns die Aufforderung, dass man sich im Ministerium doch mal treffen solle. Herr Kuhl hat die Studie vorgestellt, ich habe den Hintergrund dargelegt – es wurde sehr engagiert diskutiert. Eine Woche später hat die Ministerin die veränderten Vorgaben ausgegeben: Mindestwortschatz, Korrekturen und Einführung in die Struktur der deutschen Orthografie.

Gab es weitere Reaktionen?

Wir haben viele Einladungen erhalten, unsere Studie vorzustellen. Und in Brandenburg, Schleswig-Holstein und zwei Schweizer Kantonen darf Lesen durch Schreiben künftig nicht mehr als eigene Didaktik verwendet werden. In Hamburg und Baden-Württemberg gibt es schon länger solche Verbote. Insgesamt haben wir durchaus Gehör gefunden bei der Politik.

Jedoch der Berliner Tagesspiegel vom 31.05.2018, hat folgende Überschrift: Scheeres will „Schreiben nach Gehör“ beibehalten. Für ihr Festhalten an „Schreiben nach Gehör“ nimmt die Bildungssenatorin Prof. i. R. Dr. Jörg Ramseger zu Hilfe. Er schreibt im Geleit des Fachbriefes: „Viele der [im Fachbrief Grundschule Nr.11, Mai 2018] ausgeführten Beispiele und Erläuterungen möchte man auch der Presse und manchen ängstlichen Eltern ans Herz legen, die, aufgescheucht durch manche dramatisch präsentierte Schulleistungsstudie, den Untergang des Abendlandes befürchten, wenn ein Kind auf der ersten Stufe eigener Schreibversuche in Skelettschreibung „Hnt“ statt „Hund“ schreibt, und auch noch befürchten, das arme Kind würde sich diese Fehlschreibung für immer einprägen, wenn sie nicht sofort wegradiert würde. Alles Unsinn, wenn man sich etwas in der Materie auskennt!“ [Berliner Schülerinnen und Schüler sind in den letzten Jahren bei den Schulleistungsstudien (Lesen, Schreiben, Rechnen) kontinuierlich auf den letzten Plätzen.]
Der Vorstand des Grundschulverbandes, darunter die Professoren Jörg Ramseger, Erika Brinkmann und Hans Brügelmann, wehrt sich gegen „populäre Vorurteile“ gegen die Grundschulen – und eine darauf bauende reaktionäre Bildungspolitik. Von „fragwürdigem Dilettantismus und Schaufensterpolitik“ ist in der soeben erschienenen Broschüre „Faktencheck“ die Rede.

Geht es hier „ausschließlich um das Wohl der Kinder“ oder „um politische Glaubenssätze“?

Die Zahl der Einladungen und Anfragen nimmt nicht ab – die Unzufriedenheit ist offenbar groß mit dem Lese-Rechtschreib-Unterricht unserer Kinder.

Der Deutschlehrer, Rainer Werner, schreibt in der Tageszeitung Die Welt am 28.08.2019, dass beim Erlernen der Orthografie durch „Schreiben nach Gehör“ viel Schaden angerichtet wird. Die Schüler werden verwirrt, „weil sie nach zwei Jahren anarchischen Schreibens plötzlich gezwungen waren, sich an die Rechtschreibregeln zu halten. Rechtschreibung ist eine Schlüsselqualifikation für das Lernen in allen Fächern und zudem eine wichtige Denkschulung. Die Schüler einer fragwürdigen Lernmethode auszuliefern, war ein pädagogischer Sündenfall.“ Website des Autors

Agi Schründer-Lenzen, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam: Wenn also nach der „Lesen durch Schreiben“-Methode [umgangssprachlich „Schreiben nach Gehör“] mit der Anlauttabelle unterrichtet wird, „dann ist es so, dass die Kinder einen Weg in die Schriftsprache gewiesen bekommen, der grundsätzlich einseitig und auch fehlerhaft ist. Man sollte ihnen vom ersten Tag an das anbieten, was richtig ist“. Damit scheint sie dem 8-jährigen Jan aus der Seele zu sprechen. „Also ich würde sagen, dass man schon anfängt, die Fehler zu korrigieren in der Ersten, weil sonst hat man sich da dran gewöhnt zum Beispiel Blatt hinten nur mit einem t zu schreiben. Da kommt auf einmal jemand in der Zwei und sagt, das ist falsch, und das ist falsch. Da kriegt man irgendwie so ein ganz trauriges Gefühl.“ Aus: Deutschlandfunk, 28.08.2014, Aus Kultur- und Sozialwissenschaften, Streit um die richtige Methode.

Grau unterlegte Einschübe, [Anmerkungen] und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Mehr dazu siehe: Fachbrief Grundschule – Grundlagen des Schriftspracherwerbs – Das „Experimentieren“ geht weiter! Das A und O beim Lesen- und Schreibenlernen – „Schreiben nach Gehör“?

Link zu den bisherigen Veröffentlichungen der Studie Kuhl/Röhr-Sendlmeier

Parallelwelt Schulpolitik

Ob Einheitsschule oder Inklusion: Was viele Landesregierungen fördern, kommt in der Bevölkerung schlecht an.

FAZ, 21.08.2019, Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach

In der öffentlichen Diskussion ist die Klage über eine angeblich abgehobene politische Klasse verbreitet. Die Politiker, heißt es dann, lebten in einer Parallelwelt, hätten kaum noch Kontakt zu ihren Wählern, ihre Diskussionen, Forderungen und Pläne gingen an der Lebenswirklichkeit der Bürger vorbei. Oft, wenn nicht meistens, sind solche Vorwürfe ungerechtfertigt. Wie Bevölkerungsumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen, ist der Kontakt zwischen den Bürgern und ihren Abgeordneten in den letzten Jahrzehnten nicht etwa schwächer, sondern eher stärker geworden. Politikwissenschaftler konnten mit Langzeitanalysen belegen, dass die Abgeordneten mit ihren Gesetzesvorlagen und Entscheidungen durchaus auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren. Und wenn man die Bürger nach ihren politischen Prioritäten fragt, lesen sich die Antworten nicht selten wie ein Echo der Berichterstattung über die Diskussionen in Berlin.

Doch es gibt auch Themen, bei denen eine Lücke klafft zwischen der über die Medien geführten politischen Diskussion und der Perspektive der Mehrheit in der Bevölkerung, nämlich dort, wo die Berichterstattung durch intensive eigene Alltagserfahrungen ergänzt und gegebenenfalls kontrastiert wird. Das ist beispielsweise bei Teilen der Diskussion um die Verkehrspolitik der Fall, noch deutlicher aber auf dem Gebiet der Schulpolitik.

Wahrscheinlich gibt es kaum ein anderes Thema, das für die meisten Bürger so wichtig ist und bei dem sie so unmittelbar aus eigener Erfahrung schöpfen können. Schließlich ist jeder einmal zur Schule gegangen, und die meisten Menschen werden früher oder später Eltern von Schulkindern und bleiben es viele Jahre lang. Sie können täglich in der Familie beobachten, wie sich in der Öffentlichkeit propagierte Schulsysteme und pädagogische Konzepte auf die Leistungsfähigkeit und das Verhalten der eigenen Kinder auswirken. Unter solchen Bedingungen bleibt der Einfluss der Massenmedien auf die Meinungsbildung geringer als bei anderen gesellschaftspolitischen Fragen.

Das wohl anschaulichste Beispiel hierfür bietet die ablehnende Haltung der Bürger gegenüber Einheitsschulen. Sie ist trotz jahrzehntelanger Bemühungen verschiedener Landesregierungen, solche Schulkonzepte zu fördern und zu propagieren, nicht etwa schwächer, sondern eher entschlossener geworden. Im Jahr 2013 fragte das Institut für Demoskopie Allensbach in einer großen Untersuchung zur Schulpolitik, ob die Bürger eine Gemeinschaftsschule oder ein gegliedertes Schulsystem bevorzugen würden. Nur 34 Prozent sprachen sich damals für die Gemeinschaftsschule aus, 52 Prozent für das gegliederte Schulsystem. Eltern von Kindern an weiterführenden Schulen zogen sogar zu 61 Prozent, Lehrer zu 59 Prozent das gegliederte Schulsystem vor.

In der aktuellen Bevölkerungsumfrage des Allensbacher Instituts im Auftrag dieser Zeitung [FAZ] wurde nun eine sehr ähnliche Frage gestellt. Sie lautete:

„Was finden Sie grundsätzlich besser: Wenn es nach der Grundschule eine Gemeinschaftsschule für alle Schüler gibt, in der die Schüler unabhängig von ihrem Leistungsniveau gemeinsam unterrichtet werden, oder wenn es nach der Grundschule ein mehrgliedriges Schulsystem gibt, zum Beispiel mit Gymnasium einerseits und einer Mischform aus Haupt- und Realschule andererseits?“

65 Prozent der Befragten sprachen sich hier für das mehrgliedrige Schulsystem aus, Befragte mit Kindern im schulpflichtigen Alter sogar zu 73 Prozent.

Dabei gibt es bemerkenswert geringe Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Anders als oft angenommen wird, geht die Ablehnung der Gemeinschaftsschule durch fast alle sozialen Schichten: Alle Altersgruppen, Frauen wie Männer, West- und Ostdeutsche, Menschen mit unterschiedlicher Schulbildung und verschiedenen Einkommen, sie alle sprachen sich mit großen Mehrheiten zugunsten des gegliederten Schulsystems aus.

Auch bei einem anderen schulpolitischen Diskussionsthema, der Inklusion, fallen die Urteile der Bürger eindeutig aus. Um diesem schwierigen Gegenstand im Rahmen einer Umfrage einigermaßen gerecht werden zu können, wurden den Befragten zwei etwas umfangreicher ausformulierte Argumente mit einem Dialogbildblatt schriftlich zur Auswahl vorgelegt. Das Bildblatt zeigte zwei Personen im Schattenriss, denen Sprechblasen mit den Argumenten zugeordnet waren. Das erste lautete:

„Ich bin dafür, dass Kinder mit geistiger Behinderung in regulären Schulen unterrichtet werden. Denn davon profitieren alle Schüler: Schüler mit und ohne geistige Behinderung lernen, tolerant und normal miteinander umzugehen, und beim gemeinsamen Lernen profitieren die behinderten Schüler von den anderen.“

Die Gegenposition lautete:

„Schüler mit geistiger Behinderung benötigen in der Regel eine spezielle Förderung und können nicht einfach zusammen mit anderen Schülern an regulären Schulen unterrichtet werden. Wenn Schüler mit geistiger Behinderung spezielle Förderschulen besuchen, entstehen für alle Schüler bessere Lernerfolge.“

Lediglich 21 Prozent der Befragten schlossen sich dem ersten, 63 Prozent dagegen dem zweiten Argument an, und auch hier urteilten Eltern von schulpflichtigen Kindern nicht anders als die übrige Bevölkerung. […]

Offenbar geht auch manche Detaildiskussion in der Schulpolitik an den Bedürfnissen der Bürger vorbei. So stimmte eine relative Mehrheit von 44 Prozent der Befragten der Aussage zu:

„Heute wird viel zu viel darauf geachtet, die Schulen mit Computern, Whiteboards und sonstiger moderner Technik auszustatten, und zu wenig darauf, was guten Unterricht eigentlich ausmacht.“

29 Prozent widersprechen. Auch hier antworteten die Eltern schulpflichtiger Kinder nicht wesentlich anders als die Befragten insgesamt. Ein Mangel an Laptops ist aus Sicht der Eltern offensichtlich nicht das Hauptproblem der Schulen. […]

Grau unterlegte Einschübe, [Anmerkungen] und Tabellen durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: FAZ, 21.08.2019, Parallelwelt Schulpolitik, Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach

In Berlin werden jedes Jahr hunderte Erstklässler ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult

Diskussion um Vorschulpflicht – Fast 1200 Kinder besuchen vor Schulbeginn keine Kita

Tagesspiegel, 08.08.2019, Susanne Vieth-Entus

Jetzt werden alte Wunden aufgerissen: Die neu entbrannte Diskussion um eine Vorschulpflicht zur frühen Sprachförderung führt Berlin an einen Punkt zurück, an dem das Land schon mal war – bevor hier 2006 die Vorklassen abgeschafft wurden. Dieser Einrichtung trauern viele Schulkenner bis heute nach. Denn der versprochene Ersatz wurde nicht so geschaffen, wie er seinerzeit versprochen worden war.[…]

Berlin hatte sich aber 2006 von seinen Vorklassen getrennt, weil im Rahmen der Grundschulreform unter Klaus Böger (SPD) das zweigleisige System – Vorschulgruppen in Kitas, Vorklassen in Schulen – nicht mehr gewollt war. Argumentiert wurde im übrigen damit, dass – quasi ersatzweise – die Schulpflicht von sechs auf fünfeinhalb Jahre herabgesetzt wurde. Damit schienen die Vorklassen überflüssig, zumal die Zurückstellungen von der Schulpflicht abgeschafft wurden.

Die Reform von 2006 wurde zum Teil wieder einkassiert: Zurückstellungen sind wieder möglich. Zudem wurde die Schulpflicht wieder etwas nach hinten verschoben. Mit anderen Worten: Die Kinder sind länger in der Kita – wenn sie denn hingehen. Dies aber ist nicht flächendeckend der Fall: Wer einen Kitavertrag hat, hat keine Anwesenheitspflicht.

Die Deutschlernpflicht wird nicht umgesetzt

Noch größer ist aber das Problem, dass knapp 1200 Kinder, die 2020 schulpflichtig werden, überhaupt keine Kita besuchen: Bei der letzten Testung eineinhalb Jahre vor der Einschulung kam heraus, dass fast 900 von ihnen so schlecht Deutsch sprachen, dass sie per Gesetz zu einer 18-monatigen Deutschförderung verpflichtet wären. Am Mittwoch [07.08.2019] aber teilte die Bildungsverwaltung auf Anfrage mit, dass 690 von ihnen im Mai 2019, also gut ein Jahr vor Schulpflichtbeginn, noch immer keine Kita besuchten.

Damit stehen die Grundschulen im kommenden Jahr wieder vor dem Dilemma, dass Hunderte Erstklässler keine Deutschförderung haben werden und an keine Bildungseinrichtung herangeführt wurden. Inwieweit inzwischen initiierte „Sprachfördergruppen“ die Lücken füllen können, ist unklar.

Die Einrichtung von Sprachfördergruppen hängt mit der Bilanz von 2018 zusammen: Damals war durch eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrinck bekannt geworden, dass nur ein Bruchteil der Kinder mit nachgewiesenem Sprachförderbedarf eine Kita besuchten. Tagesspiegel-Anfragen ergaben dann, dass die Bezirke auch deshalb auf die eigentlich fälligen Bußgelder gegen die Eltern verzichtet hatten, weil es keine Kitaplätze gab, die man diesen Kindern hätte anbieten können.

Die Einschulungsuntersuchungen Berliner Kinder aus dem Jahr 2017 ergaben, dass 6,9 Prozent aller Kinder kaum oder kein Deutsch können. 10,5 Prozent sprechen fehlerhaft, 82,6 Prozent gut oder sehr gut. Bei den Erstklässlern nicht-deutscher Herkunft können 14 Prozent kaum Deutsch. Klar ist: Ein Besuch der Kita hilft, und zwar massiv. Die Deutschkenntnisse von Kindern nicht-deutscher Herkunft unterschieden sich den Einschulungsuntersuchungen zufolge je nach Länge des Kita-Besuchs erheblich. Von denjenigen, die mindestens zwei Jahre in einer Kita waren, konnten nur 4,5 Prozent kaum oder gar nicht Deutsch – bei denen ohne Kita-Besuch waren es 74,3 Prozent. TSP, 06.08.2019

Langenbrinck: Scheitern ohne Sprachvermittlung

„Ein Staat, der auf die Durchsetzung seiner Regeln verzichtet, verspielt den Respekt und die Glaubwürdigkeit“, geißelte Langenbrinck damals den Befund. Und er warnte: „Eine Gesellschaft scheitert, die es nicht schafft, Sprachvermittlung durchzusetzen“. Seither hat sich kaum etwas getan, wie man den aktuellen Zahlen entnehmen kann.

Dass es auch ganz anders gehen kann, zeigt das Beispiel Hamburg. Die Hansestadt hatte bereits 2006 durchgesetzt, dass alle Kinder mit viereinhalb Jahren durch speziell ausgebildete Sprachlernberater getestet werden. Auf dieser Basis kann für das letzte vorschulische Jahr eine verpflichtende Sprachförderung ausgesprochen werden.

In den letzten Jahren galt das für 13 bis 15 Prozent eines Jahrgangs, wie Peter Albrecht, der Sprecher der Hamburger Schulbehörde, auf Anfrage mitteilte. Diese Sprachförderung findet dann in den Vorschulklassen an den Grundschulen statt oder – in deutlich geringerem Maße – an den Kitas.

In Hamburg sind die Vorklassen beliebt

„Aktuell nehmen 60 Prozent eines Jahrgangs am vorschulischen Jahr in der Grundschule teil, davon 15 Prozent verpflichtend aufgrund der Sprachförderung, 85 Prozent freiwillig“, berichtet Albrecht. Anders gesagt: Die Kinder werden in Hamburg nicht nur getestet, sondern die Hamburger Schulbehörde stellt auch sicher, dass die Kinder tatsächlich in der Förderung landen.

Da es die Vorklassen in Hamburg seit 50 Jahren gibt und sie in der Bevölkerung einen guten Ruf haben, drängen auch Familien hinein, deren Kinder nicht zum Besuch verpflichtet sind: „Wir haben eine Flut von Anmeldungen, obwohl wir keine Werbung machen“, berichtet Albrecht.

Iris Brennberger, Sprecherin der Berliner Jugendverwaltung, betonte am Mittwoch, dass es in den Berliner Kitas „eine große Expertise“ für die Sprachförderung und das Sprachlerntagebuch gebe. Allerdings belegen die Sprachtests in Berlin stets, dass tausende Kinder trotz Kitabesuchs schlecht Deutsch sprechen.

Ein Brief plus Merkblatt der Berliner Bildungsbehörde an die Eltern von Vorschulkindern soll  darüber informieren, wie wichtig es ist, Deutsch zu lernen. Beide Papiere enthielten sprachliche und grammatikalische Fehler sowie Auslassungen.
Es ist zu lesen:
„Ihr Kind hat in der Kindertageseinrichtung sein Sprachlerntagebuch erhalten, mit dem vor allem die Beobachtung seiner sprachlichen Entwicklung dokumentiert und mit Ihnen regelmäßig über die Fortschritte Ihres Kindes gesprochen (!) wird. Wenn Sie es wünschen, erhalten (!) selbstverständlich eine Kopie. Mit dem Erhebungsbogen der ,Quasta‘ auf der Grundlage des Sprachlerntagebuches wird im Sinne des Gesetzes zu dem vorgegebenen Zeitpunkt der Sprachstand für Kinder (von Kindern !) ab einem Alter von vier Jahren festgestellt. Es ist zu (!) dringend zu empfehlen, die weitere Förderung zu sichern.“
Die Bildungsverwaltung scheint wenig Interesse daran zu haben, ob die Eltern verstehen können, was ihnen mitgeteilt wird. Das Schreiben sei „unseres Erachtens durchaus verständlich, sowohl im Inhalt als auch in der Gliederung“ teilte die Sprecherin von Bildungssenatorin Sandra Scheeres, Beate Stoffers, mit.
Glosse von Harald Martenstein im Tagesspiegel vom 03.05.2015.

Fachleute begründen das damit, dass diese Kinder nicht regelmäßig genug in die Kita kämen oder dass die Erzieherinnen vor Ort nicht genug Zeit oder Expertise hätten. In Hamburg hingegen haben Kitas nur dann das Recht, Vorschulgruppen einzurichten, wenn es diese Expertise gibt. Auch dies teilte Hamburgs Behördensprecher Albrecht mit. […]

Die Ergänzungsausbildung für Erzieherinnen zur Vorklassenleiterin an der Pädagogischen Hochschule Berlin in den 70er Jahren beinhaltete: Psychologische Probleme der Eingangsstufe und des Elementarbereichs (Enwicklung, Lernen, Denken), Allgemeine Didaktik, Hören und Sprechen in der Vorklasse, Lese-Schreiblehrgang in der Eingangsstufe, Mathematik in der Eingangsstufe, Sachunterricht in der Eingangsstufe. Die Absolventinnen wurden eingesetzt in Kitas und Grundschulen. Ausbildung wie Vorschulgruppen wurden in Berlin abgeschafft – sie waren politisch nicht mehr gewollt.

Grau unterlegte Einschübe und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: Disskussion um Vorschulpflicht

Die Bildungspolitik in der Hauptstadt gefährdet den sozialen Frieden

Berlin hat eine Bildungs-Leerstelle

Die rot-rot-grüne Bildungspolitik ist eine Aneinanderreihung politischen Versagens. Es wird Zeit für einen personellen Neuanfang.

Tagesspiegel, 06.08.2019, Kommentar von Sabine Beikler

Bildungspolitik in Berlin muss man sich so vorstellen: Man dreht an einer Stellschraube im System und wundert sich dann, dass das Gesamtgefüge ins Wanken gerät. Reformen und Reförmchen [siehe Kasten] aus 23 Jahren sozialdemokratisch geprägter Bildungspolitik in der Hauptstadt [siehe Kasten] gefährden allmählich den sozialen Frieden [siehe auch TSP vom 25.06.2018.]

„Schulreformen“: Jahrgangsübergreifendes Lernen (JüL), Schreiben nach Gehör, Inklusion/Abschaffung der Förderschulen, Einschulung mit 5, Grundschulreform, Abschaffung der Vorschulgruppen in Kitas/Vorklassen in Schulen, Hortbetreuung an die Grundschule angegliedert, Offener Unterricht/Selbstorganisiertes Lernen, Kompetenzorientierung der Lehrpläne, Einführung der Schulinspektion, Schulstrukturreform (vom mehrgliedrigen zum zweigliedrigen Schulsystem), Minimierung von Leistungsanforderungen, Abschaffung der Versetzung, Ganztagsunterricht, Zusammenfassung von Fächern (Geschichte, Politische Bildung, Geographie), Reduzierung der Unterrichtszeit der Leistungskurse in der Oberstufe (von 6 U-Std. auf 5 U-Std.), Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium (G9 auf G8), Verkürzung des Referendariats, Quer- und Seiteneinsteiger als Lehrkräfte, usw.

Verantwortliche Bildungspolitiker: Ingrid Stahmer, SPD: 25. Januar 1996 bis 9. Dezember 1999, Senatorin für Schule, Jugend und Sport;  Klaus Böger, SPD: 9. Dezember 1999 bis 23. November 2006, Senator für Schule, Jugend und Sport, ab 17. Januar 2002: Bildung, Jugend und Sport; Jürgen Zöllner, SPD: 23. November 2006 bis 30. November 2011, Senator für  Bildung, Wissenschaft und Forschung; Sandra Scheeres, SPD: 30. November 2011, noch im Amt, Senatorin für Bildung, Jugend und Familie

Zwei Drittel der Neueinstellungen sind Quer- und Seiteneinsteiger statt ausgebildeter Lehrkräfte. Immer wieder schneiden die Drittklässler bei Vergleichsarbeiten [VERA ] in Mathematik und Deutsch besonders schlecht ab. Bundesweit richtig Spitze ist Berlin nur bei der Schulabbrecherquote mit 11,7 Prozent [siehe Kasten].

In Berlin verlassen deutschlandweit die meisten Jugendlichen die Schule ohne einen Abschluss. Das hat eine am 29.07.2019 veröffentlichte Studie der Caritas ergeben. Laut dieser hatten 2017 11,7 Prozent der Schulabgänger keinen Hauptschulabschluss. 2015 waren es noch 9,3 Prozent [siehe nachfolgender Kasten]. Der Bundesdurchschnitt lag im Jahr 2017 bei 6,9 Prozent. Sie war damit einen Prozentpunkt höher als 2015 und lag auf demselben Niveau wie vor zehn Jahren. Bundesweit waren laut Caritas über 52.000 Jugendliche betroffen – 5000 mehr als noch zwei Jahre zuvor.

Das hehre Ziel des Dresdner Bildungsgipfels aus dem Jahr 2008, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss bis zum Jahr 2015 auf vier Prozent zu senken, ist in fast allen Ländern verfehlt worden. Oft ist das Gegenteil der Fall: Die Schulabbrecherquoten sind in die Höhe geschnellt. Im Schulabbruch zeigt sich ein Systemversagen, für das es bisher keine Lösung gibt. […] Derzeit legt jedes Land andere Kriterien zugrunde, um sich die eigenen Zahlen schönzurechnen. In den Kultusministerien will man nämlich nicht so genau wissen, wie viele Schulabbrecher es tatsächlich gibt, weil sich schulpolitisches Scheitern nirgendwo deutlicher zeigt. FAZ, 25.08.2019, Heike Schmoll, Im Schulabbruch liegt Systemversagen

Dabei muss man wissen:

Der Senat hat die Hürden für Schulabschlüsse gesenkt [TSP, 08.05.2014]. Sowohl die Berufsbildungsreife – der frühere Hauptschulabschluss – als auch der Mittlere Schulabschluss (MSA) sind ab dem Schuljahr [2014/15] leichter zu erreichen als es bisher an den Gesamtschulen möglich war. Zudem kann man mit schlechteren Noten in die gymnasiale Oberstufe aufsteigen. Dies soll nach Einschätzung von Schulleitern die mit Spannung erwartete Bilanz des ersten Sekundarschuljahrgangs verbessern. Die Neuerungen betreffen vor allem die Mindestanforderungen für die Jahrgangsnoten, die zusammen mit den Prüfungen den Mittleren Schulabschluss ausmachen. Als Durchschnittsnote auf dem Zeugnis reicht für den MSA jetzt eine „Vier“. An den früheren Gesamtschulen wurden befriedigende Leistungen verlangt. Zudem ist eine „Sechs“ erlaubt, was früher an den Hauptschulen ausgeschlossen war, wenn man den MSA anstrebte. Zusätzlich werden den Schülern etliche Nachprüfungen angeboten, damit sie die Berufsbildungsreife schaffen. „Das Ziel ist: Jeder kommt durch“.

Und dass kostenlose Hort-, Kita- und Essensangebote kein Mehr an Bildung bringen, dürfte jedem Sozialdemokraten, Grünen und Linken in der Koalition klar sein. Die nächste Hiobsbotschaft, dass im Jahr 2021 rund 26.000 Schulplätze fehlen, komplettiert die Liste politischen Versagens.

In Berlin fehlen demnächst 26.000 Schulplätze. Irgendwie scheint die Geburtenrate, wie sie vor einigen Jahren war, von der Schulsenatorin nicht bemerkt worden zu sein. Auch der Zuzug, wie er sich ebenfalls Jahr für Jahr ermitteln und für die Zukunft grob hochrechnen lässt, scheint der Regierung unbekannt gewesen zu sein. Allerdings muss man, um den Bedarf zu ermitteln, jede Menge addieren, womöglich sogar Prozentrechnung anwenden. […] Man muss gerecht sein. Seit Jahren werden die Anforderungen an die Berliner Schüler gesenkt und gesenkt. Da wäre es wirklich eine Riesenungerechtigkeit, wenn nicht auch irgendwann die Anforderungen an die Berliner Schulsenatorinnen gesenkt würden. Tagesspiegel, 10.08.2019, eine Glosse von Harald Martenstein

Die Verantwortung wird beim Schwarzer-Peter-Spiel von der Bildungsverwaltung auf andere Verwaltungen und die Bezirke geschoben. Kann die Koalition tatsächlich tatenlos zusehen, wenn die Elternvertretung jetzt droht, die Zusammenarbeit mit Bildungssenatorin Scheeres einzustellen? Die Bildungspolitik braucht dringend eine inhaltliche und personelle Zäsur. Das kann auch ein Rücktritt sein.

Dazu Scheeres in der Bildungsdebatte am 15.08.2019 im Abgeordnetenhaus: „Die Eltern müssen sich keine Sorgen machen“.

Eigentlich müssten die Eltern geschlossen auf die Barrikaden gehen.

Grau unterlegte Einschübe und Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

Das Entscheidende für den Hirnreifungsprozess ist die Bindung, die Orientierung des Kindes am Gegenüber.

„Lehrer haben einen großen Teil von Schülern da sitzen, die Kleinkinder geblieben sind“

Kindern fehle ein Gegenüber, eine menschliche Person, mit der sie sich auseinandersetzen. Das Bildungswesen habe sich in die falsche Richtung entwickelt: autonomes Lernen (Kinder erarbeiten sich alles alleine), individuelles Lernen (Kinder entscheiden, auf welchem Niveau sie lernen) und Lehrer und Erzieher, die ihrem eigentlichen Beruf gar nicht mehr nachgehen, sondern nur noch sogenannte Lernbegleiter sind. Winterhoff hat seine Beobachtungen nun in dem Buch „Deutschland verdummt – Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut“ herausgebracht [siehe nebenstehende Bücherliste].

Michael Winterhoff, geboren 1955, ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Er studierte von 1977 bis 1983 Humanmedizin an der Universität Bonn. Seit 1988 ist er als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn niedergelassen. Als Sozialpsychiater ist der anerkannte Facharzt auch im Bereich der Jugendhilfe tätig. Er befasst sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter aus tiefenpsychologischer Sicht.

stern, 29. Mai 2019, Michael Winterhoff im Interview mit Susanne Baller

Susanne Baller: Sie sagen, Kinder brauchen ein Gegenüber. Was meinen Sie damit?

Michael Winterhoff: Nehmen wir einen Kindergarten, zum Beispiel einen, der gerade mit dem Deutschen Kita-Preis prämiert wurde. Dort herrscht die Vorstellung vor, dass wir Angebote machen, Themenräume, Toberaum, Bastelraum, Café, vielleicht Theaterraum, Matschraum und die Kinder sich in diesen Räumen bewegen und sich das aussuchen, was sie interessiert. Es gibt Kindergärten, da müssen sich die Kinder einloggen, in welchen Raum sie gehen, umloggen, wenn sie in einen anderen gehen. Es ist gewollt, dass die Kinder auf sich gestellt sind. Ich bin Tiefenpsychologe, Analytiker, die Persönlichkeitsentwicklung ist ja eine Wissenschaft. Die emotionale, soziale Psyche ist ein Teil unseres Gehirns, da gibt es einen Hirnreifungsprozess. Und das Entscheidende dafür ist die Bindung, die Orientierung des Kindes am Gegenüber. Wenn die fehlt, kann sich diese Psyche nicht bilden.

Können Sie das beschreiben?

Das Wichtigste, das wir im Leben brauchen, ist nicht lesen, schreiben, rechnen zu können, sondern dass wir über diese Psyche verfügen [Winterhoff geht in seinem Buch „Deutschland verdummt“ auf S. 98f genauer darauf ein]. Das heißt, wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, muss ich mich auf Sie konzentrieren. Es kostet mich überhaupt keine Kraft, alle Impulse in mir zur Seite zu drängen, egal ob ich müde bin oder Hunger habe, damit ich mich auf Sie fokussieren kann. Das ist eine von hunderttausend Leistungen, die wir erbringen: umsichtig sein, weitsichtig sein, vorausdenkend. Wir können Verantwortung für uns übernehmen und für andere und, und, und. Diese Dinge entwickeln sich in den ersten 20 Jahren, wir sprechen von der erworbenen Intelligenz. Wir haben eine Grundintelligenz mitgebracht, die ist unterschiedlich, aber nicht entscheidend, entscheidend ist diese erworbene Intelligenz. Und die kann sich nur bilden, wenn das Kind von klein auf ein Gegenüber hat, an dem es sich orientieren kann. Wenn es jemanden hat, der mit dem Kind auch Dinge einübt und sie abverlangt.

Sind dafür nicht auch die Eltern zuständig?

Die wichtigsten Jahre, die das Kind hat, sind die ersten zehn, im Schwerpunkt die ersten sechs. Wenn Eltern das nicht leisten können – und das können immer mehr nicht –, dann müssen die Systeme außerhalb übernehmen. Wenn die aber in Richtung autonom lenken, sind die Kinder verloren.

Wieso können Eltern das nicht leisten?

Natürlich gibt es Eltern, die die Möglichkeit haben, sich die Zeit für die Kinder zu nehmen. Es gibt Eltern, die es als wichtig erachten, die Schulleistung zu begleiten. Es gibt auch Eltern, die es sich finanziell leisten können, besonders für sich und ihr Kind zu sorgen. Aber da reden wir von privilegierten Ausnahmen. Die Gruppe der Eltern, die das nicht leisten können, ist sehr groß geworden. Und wir können und dürfen diese Kinder nicht alleine lassen. Wir brauchen heute, um Kinder entwickeln zu können, viel kleinere Gruppen. Ich fordere die Umstellung, dass wir Lehrer wieder als Lehrer sehen, dass Erzieher wieder Erzieher sind. Die können wir sofort machen, die kostet noch nicht mal Geld. Aber wir müssen, wenn uns die Kinder wichtig sind und wir als Gesellschaft Menschen haben wollen, die so leben können wie wir, investieren. Ich brauche in der Grundschule auf 15 Kinder zwei Lehrer oder einen Lehrer und einen Erzieher. Ich brauche das auch in der Nachmittagsbetreuung in der Offenen Ganztagsschule, da ist der Schlüssel aktuell 1:25 und diese Person ist oft noch nicht mal Erzieherin.

Können Sie erzählen, wie Sie die Veränderung der Kinder in der Praxis erleben?

Auf die Psyche eines Kindes kann man nur durch Beobachtung schließen. Ich bin seit mehr als 30 Jahren tätig, ich habe also noch andere Kinder im Verhalten erlebt. Ich habe Standardsituationen geschaffen und da haben sich die Kinder in ihrem Verhalten gravierend verändert. Die Psychoanalyse hat sich mit der Persönlichkeitsentwicklung befasst und das Verhalten, das ich heute bei Kindern und Jugendlichen sehe, entspricht dem Verhalten eines Kleinkindes. Wenn ich früher einen Fünfjährigen gefragt habe: „Was machst du gern im Kindergarten?“, hat er gestrahlt und erzählt, was er da spielt. Wenn ich gefragt habe mit wem, hatte er die Namen der Kinder präsent. Er hat es mir so erzählen können, dass ich mir etwas darunter vorstellen konnte und er war im Affekt. Das heißt, wenn ich nach Freunden gefragt habe, war das Gefühl, dass er das Kind dabei hatte, im Raum. Wenn man heute einen Fünfjährigen fragt, was er gerne im Kindergarten macht, dann kommt häufig die Antwort: „Weiß ich nicht.“ Wenn ich dann nachfrage, was man dort machen kann, tun manche Kinder so, als müssten sie lange nachdenken oder sie müssen vielleicht auch lange nachdenken. Dann kommt irgendwas wie: mit Autos spielen. Die Antworten sind ohne Affekt. Wenn ich nach den anderen Kindern frage, wissen viele gar nicht die Namen von denen, mit denen sie spielen. Sie nehmen nur sich wahr. Sie stehen auf einer Entwicklungsstufe von 10 bis 16 Lebensmonaten, das ist ein Abschnitt, wo man nur sich sieht und gar nicht erkennt, dass es ein Gegenüber gibt.

Bei Jugendlichen gibt es ähnliche Veränderungen?

Ein Beispiel: Ein 15-Jähriger aus Berlin, top erzogen, ausgezeichneter Schüler am Gymnasium, beschimpft seine Mutter mit den übelsten Schimpfworten, wenn er seinen Willen nicht kriegt. An einem Sonntagmorgen bricht er in einem Baumarkt ein, um eine Kettensäge zu klauen, und nimmt noch seinen elfjährigen Bruder mit. Warum? Weil der Motor seines Carts kaputt war und der einer Kettensäge sich als Ersatz eignet. Er schneidet also den Drahtzaun auf und wundert sich, dass fünf Minuten später die Polizei dasteht. Wobei alles voller Kameras und Alarmanlagen ist. Dass man am helllichten Tag gesehen werden könnte und jemand die Polizei ruft, begreift er nicht. Dass der Aufwand in keinem Verhältnis zum Ergebnis steht und dass er seinen kleinen Bruder da mit hineingezogen hat, auch nicht. Er kann einfachste Zusammenhänge nicht erkennen. Und als er vor mir saß, wusste er nicht, was er hier sollte. Und das erklärt sich nur über den Reifegrad in der emotionalen sozialen Intelligenz eines Kleinkindes. Und das ist das, was die Betriebe heute zu Recht sagen, wenn sie Praktikanten anstellen oder Auszubildende: Sie haben keine Arbeitshaltung, die sehen auch die Arbeit nicht, die haben keinen Sinn für Pünktlichkeit, erkennen Strukturen und Abläufe in der Firma nicht, sie können nicht priorisieren, nicht feststellen, welcher Reiz wichtig ist. Das Handy ist ihnen wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht.

Seit wann ist das so?

Seit Ende des letzten Jahrtausends geht es bergab. Wir haben das Glück, in einer Hochkultur zu leben, die vor 200 Jahren die Kindheit erfunden und sich Gedanken über das Bildungswesen gemacht hat. Diese enorme Psyche, die wir haben, würden wir unseren Kindern automatisch mitgeben, wenn wir in uns ruhen würden, abgegrenzt und klar wären. So war das bis 1995, die Menschen waren viel zufriedener als heute. Hätte man 1990 solche Lernmethoden vorgestellt, mit offen und frei und auf sich gestellt, hätte man die Leute für irre erklärt. Weil man ein Gespür für Kinder hatte und dafür, was für sie gut und wichtig ist. Die Digitalisierung hat die Menschen verändert.

Wie macht sich das bemerkbar?

Als Kinderpsychiater erlebe ich das ständig in meiner Praxis. Wenn Sie mal sehen, wie wenig Kinder heute mit fünf Jahren noch können – eine Schere bedienen oder einen Stift, das wäre eine Ausnahme. Wenn Sie mal sehen, was sie Ende der vierten Klasse können: 1995 konnten die Kinder noch drei- bis viertausend Wörter richtig schreiben, in schöner Schrift und völlig sicher. Wenn Sie sich das heute angucken, ist das einfach traurig und auch fahrlässig. Man könnte das verändern, aber das ist ein dickes Brett. Es kann nur gelingen, wenn die Eltern sagen: Wir wollen mehr Qualität, wir wollen eine Änderung. Aber letztendlich ist auch die Industrie gefragt, damit die Bildungspolitik sich endlich ändert. Bildungspolitik in Deutschland ist Ideologie und die ändert sich mit jedem Regierungswechsel.

Was ist in den Schulen passiert?

Die Schulen wurden in den letzten 20 Jahren kaputtreformiert, die Lehrer können nicht mehr. Auf die wahren Probleme schaut man nicht, dass wir, wie es bis 1995 noch war, nicht mehr darüber verfügen können, dass alle Kinder eine Schulreife mit sich bringen. Damals wollten die Kinder in die Schule, waren lernwillig, wissbegierig und haben auch Dinge gemacht, zu denen sie keine Lust hatten, üben, Hausaufgaben etc. Und heute haben die Lehrer einen großen Teil von Schülern da sitzen, die Kleinkinder geblieben sind und sich nicht haben entwickeln können. Wir haben an den Bedürfnissen der Kinder vorbei ein ganzes Bildungswesen auf den Kopf gestellt.

Und das zieht sich bis ins Berufsleben durch?

Bei vielen. Ich befasse mich nicht mit den 50 Prozent der Heranwachsenden, die super gelungen sind und bestens ins Leben gehen können. Ich bin als Arzt damit befasst, wenn etwas nicht stimmt. Und bei den anderen 50 Prozent haben wir etwas versäumt und darauf mache ich aufmerksam. Die Veränderung des Bildungswesens kommt ja nicht von Lehrern oder Eltern, sondern ist eine Idee der OECD und von Ideologen gewesen und über die Bildungspolitik von oben nach unten durchgedrückt worden. Heute hat jeder zweite Schulabgänger Probleme in der Berufsfindung. Das betrifft alle Gruppen. Wir haben im Bereich der IHK-Studie ein Drittel der Lehrstellen gar nicht besetzt, ein Viertel Abbrecher, ein Drittel braucht Nachhilfe in Deutsch und Mathe und im Studium ist es dasselbe. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung sagt, dass 50 Prozent gar keine herkömmliche Hochschulreife mit sich bringen, auch hier gibt es große Probleme in Deutsch und Mathe. Auch hier muss Nachhilfe gegeben werden. Ich finde es äußerst bedenklich, wenn nach Studienabschluss mit dem Bachelor oder Master 38 Prozent in der Probezeit in Firmen nicht übernommen werden, weil beklagt wird, dass ihnen soziale Fähigkeiten fehlen. Soft Skills, sich entsprechend auf die Firma einzustellen, teamfähig zu sein oder dass sie sich selbst überschätzen. Wir bilden die Kinder an dem, was man im Leben braucht, vorbei.

Zum Artikel:  https://www.stern.de/familie/kinder/michael-winterhoff–jugendliche-schueler-sind-auf-dem-niveau-von-kleinkindern-8728324.html

„Die wichtigsten Erfolgsfaktoren des schulischen Lernens liegen auf Seiten der Lehrkraft“

Illusionen der Pädagogik

Autorität ist entbehrlich? Wissen ist zweitrangig? Lebensnähe ist alles? Drei Irrtümer. Die wichtigsten Erfolgsfaktoren des schulischen Lernens liegen auf Seiten der Lehrkraft.

F.A.S. – FEUILLETON, 19.05.2019, Jürgen Kaube

Jürgen Kaube ist seit 1. Januar 2015 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Träger des Ludwig-Börne-Preises 2015. Autor der Bücher „Die Anfänge von allem“ (2017) über die Entstehung der menschlichen Kultur und „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“ (2019) mit einem nachfolgenden Auszug (S. 226 – 234). Siehe auch nebenstehende Bücherliste.

„Ganze Klassen“, schrieben die erstaunten Besucher der Schulen des fernen Landes, „folgen Zeile für Zeile dem, was im Schulbuch geschrieben steht, in einer Geschwindigkeit, die der Lehrer vorgibt. Reihen über Reihen von Kindern tun alle dasselbe auf dieselbe Weise, ob es sich um Kunst, Mathematik oder Geographie handelt. Wir sind von Schule zu Schule gegangen und haben fast identische Schulstunden gesehen, man hätte die Lehrer austauschen können, die Kinder hätten keinen Unterschied gemerkt.“

19. Jahrhundert, die Schule als Maschine, Frontalunterricht. Schon das Wort klingt wie eine Verletzung der Menschenrechte. In diesem Begriff kommt alles zusammen, was am Unterricht streng, unerbittlich, autoritär anmutet. Im Frontalunterricht, so befinden heutige Pädagogen, wird die Lerngruppe als „Plenum“ unterrichtet. Einer oder eine redet vor allen, sie hören zu, sind das Publikum.

Woher aber stammt jenes Zitat? Nicht aus dem 19. Jahrhundert. Sondern aus einem Bericht, den eine britische Forschergruppe 1996 schrieb, nachdem sie sich fünfzig finnische Schulen angeschaut hatte, vier Jahre vor der ersten Pisa-Studie, in der jene Klassen besonders erfolgreich waren. Die Schule also, wie sie vielerorts noch vor kurzem war, erscheint den Anhängern der „konstruktivistischen“ Pädagogik, die vom Kind und nicht vom Lehrer aus unterrichten wollen, wie aus einer fernen finsteren Zeit. Obwohl es 1996 in Finnland eben keine Schule war, in der Lehrer ihren Erwartungen mit Stöcken Nachdruck verschafften, keine Schule, die Arme oder Mädchen benachteiligte, und auch keine, die sinnfremde Unterrichtsstoffe paukte. Sondern nur eine, in der Lehrer als Autoritäten auftraten.

Es gibt dabei keinen Grund, Autorität an das Durchsetzen mechanischen Verhaltens zu binden. Aber es gibt auch keinen Grund, sie zu verachten. Autorität ist nicht die Sache mit dem Stock, mit dem endlosen Monolog, dem Rechthaben, dem Chef-im-Ring-Verhalten. Autorität ist die Sache mit dem „Sie weiß mehr als ich“ und dem „Hier weiß ich mehr“, mit dem „Das kann ich wirklich noch nicht“, dem „Es ist interessant genug, dass ich darüber nachdenke“, dem „Ich höre erst einmal zu, bevor ich losrede“.

Seit der Bildungsforscher John Hattie vor zehn Jahren seine Studie „Visible Learning“ [siehe nebenstehende Bücherliste] über die Erfolgsbedingungen des Unterrichts vorgelegt hat, beginnt sich die Diskussion über die Dogmen des schülerzentrierten Unterrichts zu ändern. Denn die wichtigsten Erfolgsfaktoren des schulischen Lernens liegen ihr zufolge auf Seiten der Lehrkraft. Es geht um die Qualität ihrer Instruktion, ihre Glaubwürdigkeit und Klarheit, das ständige Feedback, das zu geben sei. Es geht um die Befähigung der Schüler, sich auszudrücken und das eigene Niveau einzuschätzen, sowie eine strikte Sequenz aus klar kommunizierten Unterrichtszielen und Erfolgskriterien, modellhaftes Vorführen von Lösungen, Überprüfung, ob alle verstanden haben, und anschließendem Üben. Lautes Denken ist hilfreich, Klassendiskussionen sind es, etwas in eigene Worte zu fassen. Die Autorität der Lehrkraft beruht dabei sowohl auf ihrer Beherrschung des Stoffes und der Deutlichkeit, mit der er dargestellt wird, als auch auf der Fähigkeit, auf typische, aber auch überraschende Fragen zu antworten.

Hinter dem pädagogischen Widerstand gegen all das, gegen direkte Instruktion, gegen den Lehrvortrag und gegen ein immer wieder die Lehrkraft ins Spiel bringendes Unterrichtsgeschehen steckt ein altes Dogma. Es geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück und besagt, man lerne nur durch Erfahrung und Selbstreflexion. Sogar das Lesen wollte er seinem fiktiven Zögling, Émile, sich weitgehend selbst beibringen lassen. Auch das später formulierte Prinzip „Learning by doing“ kann so interpretiert werden: als Polemik gegen das Lernen von Tatsachen, Daten, Regeln und ganz allgemein von „Das ist so“-Mitteilungen. Und als Favorisierung von lebensnahen Unterrichtsstoffen, die interdisziplinär und am besten in Form von Projekten angeeignet werden sollen.

Die Kritik des Frontalunterrichts und überhaupt der zentralen Stellung der Lehrkräfte geht insofern stets mit einer Kritik des Wissens und einem Lob der Lebensnähe einher. Kreativität, so eine andere Formulierung derselben Überzeugung, steckt schon im Kind, man muss sie nur entfalten, entwickeln. Die Schule soll aus dem Kind etwas herausholen, nicht etwas in das Kind hineintun.

Aber so sinnlos die Vorstellung ist, am besten befülle man Schüler mit dem Wissenswerten, weil die Welt aus Fakten bestehe, so sinnlos ist die entgegengesetzte Behauptung, alles in der Welt könne gleichzeitig reflektiert, innerlich angeeignet, selbständig und aktiv handelnd erschlossen werden. Und zwar von Schülern jeder Altersstufe. Denn es gibt Sachverhalte ganz unterschiedlicher Erschließbarkeit. Nicht alles kann man sich innerlich aneignen, nicht alles kann gleichermaßen gut verstanden werden, und die Lernpsychologie sagt seit langem schon, dass man manches besser lernt, indem man es erst einmal hinnimmt.

Der Irrtum, dem eine an Fakten desinteressierte Pädagogik unterliegt, besteht darum nicht so sehr darin, dass Fakten als Wissensbestände, als Informationen wichtig wären. Hier haben die Kritiker das Argument auf ihrer Seite, wie viel vergessen wird, wie viel nachschlagbar ist und wie viele Fakten „konstruiert“ sind, also auf komplexen Voraussetzungen beruhen. Doch um die verwegene Behauptung, es sei unterinformiert und womöglich sogar ungebildet, wer nicht wisse, mit welchem Roman der junge Goethe berühmt wurde, geht es gar nicht. Für manche mag es sogar entbehrlich sein zu wissen, wo genau sich Paris befindet.

Der Zweck des Unterrichtens von Tatsachen ist aber nicht, Erfolge in Quizshows zu ermöglichen oder, was dasselbe ist, kleine Enzyklopädisten hervorzubringen. Er liegt zunächst vielmehr darin, dass verstanden wird: Es gibt Tatsachen, jene schwer umgehbaren, kurzen und kontextfreien Ergebnisse einer geregelten Untersuchung, wie die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston Tatsachen definiert. Es gibt also Umstände, auf die man sich verlassen kann. Und von denen aus es weitergeht.

Wenn beispielsweise Paris die größte Stadt Frankreichs ist, kann man andere Städte in Bezug auf sie lokalisieren, wovon Franzosen ausgiebigen Gebrauch machen. Wenn es eine Hauptstadt gibt, gibt es dann auch Nebenstädte? Woran kann man eine Hauptstadt erkennen? Wie wirkt es sich aus, wenn sich die Hauptstadt in der Mitte oder an der Grenze des Landes befindet, eine große oder kleine Stadt ist, und weshalb liegen so viele Hauptstädte an großen Flüssen? Wenn man „Paris“ auf einer Karte von Texas findet, kommt man ins Nachdenken. Mit anderen Worten: Wer nicht ungefähr weiß, was es mit Paris auf sich hat, dem bleiben auch hundert andere Weltaspekte verschlossen.

Der rhetorische Trick der reformpädagogischen Polemik gegen das Wissen besteht also darin, eine relativ armselige Information herauszuziehen – eine Jahreszahl, Eigenschaften eines Lebewesens, die Inhaltsangabe des „Faust“, die Formel für Kaliumnitrat – und dann zu fragen, was es bringt, das zu wissen. Ist es nicht viel wichtiger, historische Kompetenz, Kartenlesekompetenz, literarische Urteilskraft, chemische Denkfähigkeit und so weiter zu erlangen? Eine Frage, die nur bejaht werden kann. Aber der Trick, auf dem die Unterscheidung von sinnlosen Fakten und sinnhaftem Lernen beruht, ist billig. Denn eine einzelne Information ist immer sinnlos. Hundert Informationen hingegen ergeben ein Bild.

Das Einmaleins ist auch so eine Tatsache. Man kann erklären, was das heißt, „Plutimikation“ (Pippi Langstrumpf). Man kann sie aus der Addition herleiten oder aus anderen wiederholten Handlungen. Aber irgendwann sollte 7 × 7 = 49 unabhängig davon, wie man dazu kam, als Routinewissen im Langzeitgedächtnis abgelegt sein und nicht mehr berechnet werden müssen. Und auch hier gilt: dass 7 × 7 nicht irgendetwas ergibt, sondern 49, ist als vereinzelter Merkposten von geringem Wert, das große Einmaleins hingegen ist von unschätzbarem Nutzen. Man nennt es Technik: etwas nutzen, das man nicht vollständig durchdrungen hat. Die Schule besteht nicht allein darin, Techniken zu vermitteln, aber sie besteht auch darin. Passive Wiedergabe und Anwendung hat den Vorteil, effizient und akkurat zu sein, aktive Konstruktion ist hilfreich, wenn das Gedächtnis Schwierigkeiten hat. Und da Eigenproduktion schiefgehen kann, ist es manchmal vorteilhaft, das Wissen einfach mitzuteilen, anstatt es von den Schülern selbst hervorbringen zu lassen.

Nehmen wir die Literatur. Im Deutschunterricht der sechsten Klasse kann es vorkommen, dass die Schüler angehalten werden, eine Geschichte mit unheimlichen Aspekten zu schreiben. Dafür werden sie im fragenden Unterrichtsgespräch mit Wissen darüber versorgt, was Spannung in eine solche Geschichte bringen kann. Sie lernen eine Art Gattungspoetik des Unheimlichen. Ihr sollen sie folgen, und der Deutschlehrer prüft, ob die einzelnen Elemente – harmloser Anfang, etwas Rätselhaftes, irgendetwas im Dunkeln, plötzliche Erlebnisse, überraschende Wendung, Auflösung – von den Schülern reproduziert wurden.

Die „spannungskompetente“ Lösung dieser Aufgabe ist in Ordnung. Aber die originellsten Geschichten kann erzählen, wer schon viele Geschichten kennt. Lesen kommt vor Schreiben. Denn jede Geschichte, die uns fasziniert, besteht aus Geschichten, die wir bereits kennen, und aus Abweichungen von ihnen. „Sei kreativ!“ ist also nicht die beste Anweisung, um Kreativität zu begünstigen. Vielmehr geht Kreativität aus Übungen hervor, die selbst eher repetitiv und auf etwas konzentriert sind, das dem erwünschten Ergebnis gar nicht ähnlich sieht. Fußballspieler, so ein Beispiel des schwedischen Psychologen Karl Anders Ericsson, trainieren nicht, indem sie das Match proben und elf gegen elf spielen, sie üben in viel kleineren Einheiten Pässe, Dribblings, Balleroberung – Routinen als Grundlage von einfallsreichem Spiel. Auf den ersten Blick mag Routine wie ein Gegensatz zum Denken wirken, weil sie erlaubt, auf es zu verzichten. Aber genauer betrachtet ist Routine kein Gegensatz zum Denken: Gedanken zu haben setzt voraus, dass wir über Routinen verfügen, die uns für das Denken entlasten.

Der Irrtum der entgegengesetzten Ansicht, die Schüler sollten sich möglichst früh alles selbständig erschließen, beruht auf einer Verwechslung von Ziel und Methode: Man wird nicht unabhängig dadurch, dass man weitgehend alleingelassen wird. Man lernt nicht denken dadurch, dass jemand fragt, was man über eine Sache denkt. So wie man nicht schreiben lernen kann, nur, indem man zuhört oder liest. Es bedarf der Instruktion. So hat es beispielsweise keinen Sinn, Kindern schon „kritisches Hinterfragen“ abzuverlangen, bevor sie sich in etwas auskennen. Sie lernen dann nur die kritischen Fragen samt den dazugehörigen Antworten auswendig und schreiben in Erdkundetests der Grundschule brav hin, dass der Kalibergbau die Flüsse belastet.

Das führt zum dritten reformpädagogischen Lehrdogma, das die Kritik des Frontalunterrichts und der Wissensvermittlung ergänzt: das Dogma, der Unterricht habe lebensnah und deshalb interdisziplinär zu sein. Denn die wirkliche Welt kenne ja gar keine nach Fachgrenzen aufgeteilten Probleme. In ihr hänge stattdessen alles mit allem oder jedenfalls vieles mit vielem zusammen, und in solchen Zusammenhängen denken zu lernen, sei es, was die Schule den Schülern mitgeben solle. Die Kinder werden als kleine Experten behandelt, als Forscher oder als Reporter oder als Leute, die eine Präsentation vorbereiten müssen. Referate, in denen Recherchen dargestellt werden sollen, setzen heute bereits in der Grundschule ein. Die Schüler sollen etwas tun, das so ähnlich aussieht und sich so ähnlich anhört wie das, was Wissenschaftler und andere Wissensexperten tun: einen Vortrag halten über das, was sie herausgefunden haben. Der maximale Effekt ist nicht selten, dass die Schüler etwas Passendes aus dem Internet abschreiben und dann vortragen. Denn natürlich sind sie in fast nichts von dem, wozu sie etwas sagen sollen, Experten und können es auch von einer Woche auf die andere nicht werden. Was immer in Kindern ist, das herausgeholt und entfaltet werden kann, Expertise ist es nicht.

Die gegenteilige Annahme beruht auf einer Verwechslung von Neugier und Denken. Die Freude am Denken liegt in der Lösung von Problemen, was bedeutet, dass sowohl das Scheitern an Problemen als auch der Umgang mit bereits gelösten Problemen freudlos bleiben. Der Projektunterricht mit seinen dem wirklichen Leben entnommenen Fragestellungen kombiniert oft beides: ein hochkomplexes, jeden Schüler überforderndes Weltproblem, verbunden mit einer Menge irgendwo abrufbarer Antworten. Neugier wird aber nicht durch den Grad geweckt, in dem ein Problem mit der Welt verbunden ist, sondern durch das Ausmaß, in dem es den Schülern so vorkommt, als könnten sie es lösen. Man kann ihnen nicht einreden, dass sie die Lösungen auf die Fragen finden, wie der Klimawandel aufgehalten werden kann, was es mit Patchwork-Familien auf sich hat oder mit Konflikten zwischen Religionen, oder wie man verhindert, dass Kalibergwerke nahe Flüsse belasten. Sie spüren, dass ihnen das Hintergrundwissen dazu fehlt, und fühlen sich nur auf die Suche nach schon gegebenen Antworten geschickt, die irgendwo im Internet versteckt sind.