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Im Schulfach Mathe erfolgreich sein

Problemlösekompetenz Mathematik – eine Crux für Verwöhnte?

Mathematik ist für viele Kinder ein Problemfach. Jedem vierten Kind droht hierzulande die Gefahr, beim Wechsel in die Sekundarstufe den Anschluss zu verlieren. Das hat einmal mehr die Studie TIMSS 2019 gezeigt. In Deutschland erreichten 25,4 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler nur die unteren zwei von insgesamt fünf Kompetenzstufen. Warum scheitern so viele Kinder am Fach Mathe? Weil sie es nicht gewohnt sind, Probleme hartnäckig zu lösen, wenn sich Erfolge nicht im Handumdrehen einstellen, meint Gastautor Michael Felten.

Deutsches Schulportal, 01.02.2021, Michael Felten

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten war 35 Jahre Gymnasiallehrer in Köln. Heute berät er Schulen in punkto evidenzbasierte Unterrichtsqualität, veröffentlicht pädagogische Sachbücher (siehe Bücherliste und unter LINKS) und schreibt u.a. für ZEIT-online und SPIEGEL-online.

Die Debatte über Qual und Qualität des Matheunterrichtes bleibt oft bei den Rahmenbedingungen und Unterrichtsmodalitäten hängen. Zwar sind volle Klassen, verkürzte Schulzeiten oder unübersichtlich gewordene Schulbücher für das Mathelernen nicht gerade förderlich. Wenn dann die Lehrkraft noch unnötig abstrakt erklärt, wenn sie zu wenig Wert darauf legt, Muster und Strukturen deutlich werden zu lassen, wenn das Unterrichtsklima weder anregend noch fehlerfreundlich ist …

Kaum thematisiert wird hingegen, dass das Fach Mathe auch eine ganz spezifische Tücke hat. Zyniker könnten ja sagen: In Englischstunden redet man nur miteinander, Deutschtexte werden oft zerredet, in Philosophie redet man mehr oder weniger gescheit im Kreis – in Mathematik aber gilt es, zu denken. Tatsächlich geht es in diesem Fach vorrangig um Logik. Richtig oder falsch sind eindeutige Kategorien und damit nicht verhandelbar. Deshalb wäre mit einer „Pädagogik der Ermäßigung“ (Fulbert Steffensky) – die Stoffmenge reduzieren, das Erarbeiten spielerischer gestalten, die Klassenarbeiten leichter machen – in Mathe auch nichts gewonnen.

Das Problem erfassen, einen Lösungsplan entwickeln und das Ergebnis beurteilen

Worin besteht eigentlich der Kern des Mathematiklernens? Der Mathematiker George Pólya charakterisierte die Stufen mathematischen Problemlösens, ob in Grundschule oder Gymnasium, so: Man muss das Problem zunächst erfassen, dann einen Lösungsplan entwickeln, diesen auch durchführen und das Ergebnis abschließend beurteilen. Für die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern gilt deshalb: „Im Mathematikunterricht ist die geistige Aktivität des Verstehens entscheidend.“ Verstehen sieht sie dabei wesentlich als „Ergebnis eines aktiven Konstruktionsprozesses auf Seiten des Lernenden“ – und nicht als eine simple „Übertragung von Wissen vom Lehrenden auf den Lernenden“.

Aktiver Konstruktionsprozess: Das hört sich gut an, ist aber genau die Crux. Schon vor 100 Jahren beobachtete Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie: „Rechnen ist für verzärtelte Kinder immer ein gefährliches Fach.“ Unter Verzärtelung verstand Adler das, was wir mittlerweile seelische Verwöhnung nennen – also nicht ein Übermaß an Bonbons, Klamotten oder Taschengeld, sondern die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.

Irrwege verkraften und nicht vorschnell aufgeben

Das ist verständlich, wirkt aber auf Kinder leider nicht förderlich, sondern eher entmutigend, schwächend. An Stolpersteinen wachsen sie nämlich, reift ihr Selbstwirksamkeitsgefühl. So aber können sie sich daran gewöhnen, bei aufkommenden Problemen die Hände in den Schoß zu legen und auf Hilfe zu warten, entweder sofort oder jedenfalls zu früh. Und das ist in der Mathematik ein Problem, weil die Inhalte ab einem gewissen Level nicht mehr intuitiv zugänglich sind.

Je verwöhnter ein Kind ist, desto schwerer wird es sich deshalb damit tun, die für das Mathelernen geistige Aktivität aufzubringen: etwas ausprobieren, sich Vorstellungen von Situationen oder Rechenhandlungen machen, die Enttäuschung von Irrwegen verkraften, nicht vorschnell aufgeben. Ganz zu schweigen von den Grundtugenden effektiven Lernens: sich konzentrieren, auch wenn man nicht im Mittelpunkt steht; gründlich genug üben, hartnäckig bleiben, auch wenn Erfolge sich nicht im Handumdrehen einstellen. Verwöhnte Kinder aber gibt es heute viele, quer durch alle Schichten. Albert Wunsch sprach von der „Verwöhnungsfalle“ in der modernen Erziehung.

Kinder brauchen im Unterricht Anregungen, um nach Lösungswegen zu suchen

Wenn Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten mit Mathe haben, dann kann das zwar an der Lehrkraft liegen. Häufige Ursache ist aber auch das Kind selbst: seine Motivation und seine Arbeitshaltung, bisweilen auch entmutigende Vorerfahrungen in diesem Fach – oder auch nur Stofflücken oder, präziser gesagt, „nicht bewältigte fachliche Hürden“ (Wolfram Meyerhöfer). Dazu gehören die Ablösung vom zählenden Rechnen, das Verständnis des Stellenwertsystems oder die Logik der Rechenoperationen. Etwaige Intelligenzunterschiede sind demgegenüber für pädagogisches Handeln nachrangig. Zwar kann nicht jedes Kind ein Mathegenie werden, aber jedes kann jederzeit dazulernen.

Was täte Kindern also gut, wenn sie im Schulfach Mathematik erfolgreich sein wollen? Zunächst eben Eltern, die sie nicht verwöhnen, sondern ihnen schon als Kleinkind – neben emotionaler Sicherheit – vielfältige Herausforderungen und kalkulierte Belastungen bieten. Sodann Lehrerinnen und Lehrer, die unermüdlich um kognitive Aktivierung ihrer Schülerinnen und Schüler bemüht sind: ihnen Raum für mathematische Erfahrungen geben; sie anregen, eigene Lösungswege zu suchen oder Verständnishürden zu identifizieren; sie Zusammenhänge mitvollziehen lassen, aber auch Entdecktes gründlich sichern und vernetzen. Nicht zuletzt dürfen Kultusbehörden die fachlichen Erwartungen nicht unnötig niedrighängen. Denn die Forschung spricht dafür, dass anspruchsvoller, am Verstehen orientierter Matheunterricht nicht zu Lasten der schwächeren Schülerinnen und Schüler geht.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin. Erstabdruck auf dem „Deutschen Schulportal“.

Mathematikunterricht im internationalen Vergleich.

Ergebnisse aus der TALIS-Videostudie Deutschland.

Grünkorn, Juliane [Hrsg.]; Klieme, Eckhard [Hrsg.]; Praetorius, Anna-Katharina [Hrsg.]; Patrick Schreyer [Hrsg.], Frankfurt am Main: DIPF, Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation 2020 [1]

Zusammenfassung der Forschungsstudie für Schulforum-Berlin [2]


Die TALIS-Videostudie ist die erste internationale Untersuchung, die einen Blick in Klassenzimmer auf drei Kontinenten wirft und zugleich Aussagen zu den Wirkungen des Unterrichts, zu Lernprozessen und Lernergebnissen der beteiligten Schüler*innen gestattet. (TALIS-Studie, S. 36)

Die TALIS-Videostudie Deutschland ist ein Forschungsprojekt der Leibniz-Gemeinschaft, das an die internationale Videostudie „Teaching and Learning International Survey (TALIS-Video)“ der OECD anschließt. Am Beispiel der Unterrichtseinheit zum Thema „quadratische Gleichungen“ hat das verantwortliche Forschungsteam dafür unter anderem Unterrichtsstunden per Video aufgezeichnet und ausgewertet und diese mit Leistungstests und Befragungen der Schüler*innen sowie der Lehrkräfte verknüpft.

Weitere Erhebungen der internationalen Studie fanden in Chile, China, England, Japan, Kolumbien, Mexiko und Spanien statt. In Deutschland nahmen 50 Klassen/Lehrkräfte mit insgesamt 1140 Jugendlichen im Alter von durchschnittlich 15 Jahren teil. Die 38 teilnehmenden Schulen waren über sieben Bundesländer verteilt. An der Studie waren aus den teilnehmenden Staaten insgesamt 700 Lehrkräfte beteiligt. Die Stichprobe ist aufgrund des aufwändigen Designs der Studie und der freiwilligen Teilnahme nicht repräsentativ.

Ziel der Studie war es, aus deutscher wie aus internationaler Perspektive mehr darüber zu lernen, was erfolgreichen Mathematikunterricht ausmacht – erfolgreich aus der Perspektive der beteiligten Lehrkräfte und Schüler*innen, aus Sicht externer, geschulter Beobachter*innen und nach gemessenen Lernergebnissen wie Leistung und Fachinteresse. (S. 3)

Als Ausgangspunkt der Studie stellt das Forschungsteam die Frage: „Was verstehen wir unter Unterrichtsqualität?“ und fassen zusammen:

Die empirische Forschung zur Unterrichtsqualität beschreibt Schulunterricht häufig nach drei grundlegenden Dimensionen. Dies sind:
Klassenführung, konstruktive Unterstützung und kognitive Aktivierung.

Auch die TALIS-Videostudie Deutschland greift diese drei Basisdimensionen des Unterrichts auf, um Unterricht zu beschreiben und seine Wirkungen zu untersuchen.

Gute Klassenführung beinhaltet, klare Regeln für erwünschtes Verhalten von Schüler*innen einzuführen, insbesondere für deren aktive Beteiligung und Aufmerksamkeit, dieses Verhalten durch eine gute Organisation der Lernaktivitäten, durch Routinen und Rituale zu stützen sowie Störungen rechtzeitig zu erkennen und präventiv zu vermeiden. Dadurch wird Unterrichtszeit tatsächlich zu Lehr- und Lernzeit, so dass den Schüler*innen mehr Lerngelegenheiten eröffnet werden bzw. sie diese intensiver nutzen können. Aktive Lernzeit ist einer der stärksten Prädiktoren für Lernzuwächse. (S. 6)

Konstruktive Unterstützung umschließt zum einen sozioemotionale Aspekte wie eine positive Beziehung zwischen Schüler*innen und ihren Lehrkräften sowie einen wertschätzenden Umgang der Schüler*innen und Lehrkräfte miteinander. Damit sollen vor allem die psychosoziale Entwicklung und motivationale Merkmale wie das Interesse gefördert werden. (S. 6)

Die kognitive Aktivierung der Schüler*innen ist als hoch einzuschätzen, wenn der Unterricht auf Verstehen und schlussfolgerndes Denken ausgerichtet ist, wenn die Lernenden mit herausfordernden Inhalten konfrontiert werden, zugleich aber an ihr Vorwissen und ihre Erfahrungswelt angeknüpft wird. Anspruchsvolle Aufgaben und diskursive Auseinandersetzungen können beispielsweise kognitive Konflikte auslösen, die zu einer tiefen kognitiven Verarbeitung, zur Re-Organisation und Erweiterung des Wissens führen. Ein kognitiv aktivierender Mathematikunterricht sollte mathematische Konzepte gut strukturiert und mit geeigneten Repräsentationsformaten einführen, sie systematisch verknüpfen, in verschiedenen Kontexten anwenden und üben und dabei unterschiedliche Lösungswege zulassen. (S. 6)

Die drei Basisdimensionen des Unterrichts:  1. Klassenführung, 2. konstruktive Unterstützung und 3. kognitive Aktivierung werden in der Studie jeweils noch weiter differenziert. Sie werden anhand der aufgezeichneten Unterrichtsvideos durch geschulte Beobachter*innen mithilfe der verschiedenen zuvor festgelegten und beschriebenen Kriterien beurteilt.

1. Klassenführung

In der Unterrichtsforschung wird die Qualität der Klassenführung über ein breites Spektrum unterschiedlicher Kriterien erfasst. Die TALIS-Videostudie Deutschland verwendet drei Kriterien die ausführlich beschrieben werden (TALIS-Studie, Abbildung 5, S. 15). Dies sind:

1. Routine, 2. Monitoring und 3. Umgang mit Störungen.

1. Routinen: Sind Routinen erkennbar, die den Unterrichtsfluss unterstützen und die Übergänge zwischen verschiedenen Arbeitsformen oder das Austeilen von Materialien effizient gestalten? Eine hohe Bewertung (4) bedeutet, dass Routinen erkennbar waren, die gut organisiert waren und zeitlich effizient umgesetzt wurden. Niedrig (1) hingegen wurden Routinen eingeschätzt, die wenig organisiert schienen und durch die Unterrichtszeit verloren ging. (S. 15)

2. Monitoring: Nimmt die Lehrkraft kontinuierlich wahr, was im Klassenraum geschieht, um gegebenenfalls schnell reagieren und die Aufmerksamkeit der Schüler*innen auf das Lernen lenken zu können? Das Monitoring wurde daraufhin eingeschätzt, ob die Lehrkraft stets den gesamten Klassenraum im Blick behält, physische Nähe zu den Schüler*innen wahrt, möglichst viele Schüler*innen in das Unterrichtsgeschehen einbindet und Unterschiede im (Lern-) Verhalten der einzelnen Schüler*innen wahrnimmt. (S. 15)

3. Umgang mit Störungen: Treten Störungen in der Klasse auf und falls ja, wie effektiv werden diese von der Lehrkraft unterbunden? Eine hohe Bewertung (4) deutet darauf hin, dass entweder keine Störungen aufkamen oder die Lehrkraft zügig auf diese reagierte, sodass keine Unterrichtszeit verloren ging. Niedrig (1) fiel die Bewertung aus, wenn auftretende Störungen nicht effektiv unterbunden wurden und ein erheblicher Teil der Unterrichtszeit dadurch verloren ging. (S. 15)

TALIS-Studie, Abbildung 5, S.15

Die Abbildung 5 dokumentiert, dass für Deutschland vor allem beim Umgang mit Störungen (3,82), aber auch beim Einsatz von Routinen (3,74) sehr hohe Werte erreicht wurden. Für den Bereich Monitoring ergaben sich leicht niedrigere Werte (3,44).

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Was im Unterricht wirkt

Der stiere Blick auf die Schülerorientierung hat in Berlin zu einem Methoden-Fetischismus geführt

von Rainer Werner

Veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Oktober 2020

In der Medizin werden nur solche Medikamente und Heilmethoden eingesetzt, die ihre Wirksamkeit erwiesen haben. Auf Placebo-Effekte möchte man lieber nicht vertrauen. In der Pädagogik ist es anders. Dort wird auch gerne das praktiziert, was man für wünschenswert hält, weil man glaubt, damit seine gesellschaftspolitischen Ambitionen befördern zu können. Der Bildungsforscher John Hattie hat in  seiner Studie „Lernen sichtbar machen“ (2009) nachdrücklich gefordert, sich an der Wirksamkeit pädagogischer Instrumente zu orientieren: „Der einzig sinnvolle Ansatz für die Auswahl der Unterrichtsmethode ist  ihre Wirkung auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler.“ In allzu vielen Klassenzimmern ist diese Mahnung ungehört verhallt, wie man an den schlechten Schülerleistungen in einigen Bundesländern ablesen kann. Um Berlins Schulen aus der Dauermisere herauszuführen, hat eine Expertenkommission unter Leitung des Kieler Bildungsforschers Olaf Köller Vorschläge unterbreitet. Am 07. 10. 2020 wurden sie öffentlich vorgestellt. Die Wissenschaftler sprechen von der „ausbleibenden Wirksamkeit“ der von der Bildungsverwaltung in den letzten Jahren auf den Weg gebrachten Maßnahmen. Im Kapitel „Unterrichtsqualität“ findet sich die wichtigste Einsicht des ganzen Dokuments: Maßgeblich für die Qualität von Unterricht seien nicht die „Oberflächenstrukturen, z.B. die Frage, ob Stationenlernen oder Klassengespräche den Unterricht bestimmen, sondern die sogenannten Tiefenstrukturen.“ Damit ist das gemeint, was Hattie „kognitive Aktivierung“ nennt. Die Schüler werden mit einem Lerngegenstand konfrontiert, den sie unter Anleitung des Lehrers geistig erschließen. Es geht also um intellektuelles Verstehen und um die Speicherung des Gelernten im Gedächtnis. Der Vorrang der Unterrichtsmethode, der „Oberfläche“, lenkt laut Bericht von der entscheidenden Frage ab, die man an  jeden  Unterricht stellen muss: Gelingt es dem Lehrer,  den Stoff so anschaulich und spannend zu vermitteln, dass die Schüler am Ende der Stunde einen messbaren Wissenszuwachs, vielleicht sogar ein kleines Bildungserlebnis erfahren?

Seit Jahren wird in Berlin den Referendaren nahegelegt, „schülerzentrierte Unterrichtsmethoden“ zu bevorzugen. Die Schulinspektion belohnt Schulen mit guten Bewertungen, wenn im Unterricht die Selbstaktivität der Schüler dominiert. Diese seit Jahren praktizierte Weichenstellung für den Unterrichtsprozess lässt die didaktische Erkenntnis außer Acht, dass die Lerngegenstände selbst die angemessene Vermittlungsmethode nahelegen. Wenn ein Deutschlehrer das Gedicht „Abendphantasie“ von Friedrich Hölderlin behandelt, wären schülerzentrierte Lernformen wie Stationenlernen oder individuelles Lernen fehl am Platze. Der komplexe Gehalt des Gedichts und seine formale Gestaltung können nur im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch sinnvoll erschlossen werden. Im zweiten Schritt können die Schüler dann selbst tätig werden, indem sie, z.B. in Partnerarbeit, das vom Dichter verwendete Wortfeld oder die rhetorischen Figuren analysieren. Kein vernünftiger Pädagoge redet heute noch dem monologisierenden Frontalunterricht alter Schule das Wort. Falsch wäre es aber, auch das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch als zu lehrerdominant zu verdammen. Mit dem fragend-entwickelnden Verfahren erzielt man hervorragende Ergebnisse. Es ist vor allem dann unverzichtbar, wenn es gilt, komplexe Sachverhalte und Sinnzusammenhänge zu erarbeiten. Auch bei der Einführung in einen neuen Lerngegenstand ist es sehr effektiv. Wenn in Geschichte die Reformation Martin Luthers behandelt wird, umreißt der Lehrer den historischen Kontext und formuliert die Leitfragen, die es im Unterricht zu beantworten gilt. In der anschließenden Erarbeitungsphase analysieren die Schüler in Partner- oder Gruppenarbeit die historischen Quellen, mit deren Hilfe man die Leitfragen beantworten kann. Die Ergebnissicherung gehört wieder in die Hand des Lehrers. Die Lernformen gehorchen also der Logik des Stundenverlaufs. 

Ich habe in der Ausbildung von Referendaren erlebt, wie sehr sie bestrebt waren, die in  Berlin besonders beliebte didaktische Mode des „methodengeleiteten Unterrichts“ anzuwenden. Um der Erwartungshaltung der Fachseminarleiter gerecht zu werden, wählten sie vor allem die Methoden, die „selbstgesteuertes Lernen“ ermöglichen. Kaum eine Unterrichtsstunde kam ohne Stationenlernen, Fishbowl und Lerntheke aus. „Methodenvielfalt“ im Unterricht ist bis heute ein unhinterfragtes Axiom. Gerade in heterogenen Lerngruppen glaubt man, die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler am besten mit methodischer Vielfalt bewältigen zu können. Anscheinend traut man Schülern mit Migrationsgeschichte nicht zu, dass auch sie vom Lernstoff gefesselt sein können. Meine Beobachtung solcher Stunden hat gezeigt, dass das Bestreben, in einer Stunde mehrere Lernmethoden unterzubringen, häufig dazu führt, dass sich die Methoden von den zu lernenden Inhalten entkoppeln. Der gekonnte Umgang mit den Methoden wird dann unter der Hand zum eigentlichen Ziel des Unterrichts. Viel zielführender wäre es, vom geistigen Anspruch des Lerngegenstands auszugehen. An einer Schule, die die kollegiale Hospitation der Lehrkräfte pflegt, habe ich die Biologiestunde eines älteren Kollegen erlebt. Fachlich hoch qualifiziert erzählte er im Gestus des dozierenden Professors, warum bei den Bonobo-Affen die Weibchen das Sagen haben. Die Schüler hingen an seinen Lippen. Dieser Lehrer konnte durch sein immenses Fachwissen und durch die Begeisterung, die er für „sein“ Fach ausstrahlte, die Schüler mitreißen. Die Kognitionsforschung hat herausgefunden, dass man sich Sachverhalte besonders gut merkt, wenn sie mit einem emotionalen Reiz verbunden sind. Deshalb lieben Schüler einen fesselnden Unterricht, der sie in die aufregende Welt des Wissens mitnimmt. Wenn es den Lehrern gelänge, in ihren Fächern das spannende Potential freizulegen, das in den Lerngegenständen schlummert, wäre für die Unterrichtsqualität mehr gewonnen, als wenn sie im 15-Minutentakt Lernmethode und Medium wechseln.

Laut Expertenkommission weisen Berlins Schulen die meisten Unterrichtsstörungen aller Bundesländer auf. Dieser Befund lässt auf handwerkliche Defizite in der Unterrichtsführung schließen. Eine ruhige Arbeitsatmosphäre ist die Grundvoraussetzung jeden Unterrichts. Mitunter muss man mit einer Lerngruppe die Ruhe im Unterricht wochenlang üben. Vielleicht scheuen manche Lehrer diese anstrengende Tätigkeit und nehmen dafür in Kauf, dass der geistige Prozess des Unterrichts ständig unterbrochen wird.

Nach der Erkenntnis von John Hattie hat der Lehrer den größten Einfluss auf die Lernleistung. Nur wenn er sein Handwerk optimal beherrscht, werden die Schüler erfolgreich lernen. Hattie hat herausgefunden, dass eine „Lehrperson mit großem Effekt“ bei ihren Schülern einen Lernvorsprung von bis zu einem Jahr gegenüber Gleichaltrigen erzielt, die von einem schwächeren Lehrer unterrichtet werden. Deshalb muss Berlin alles tun, um den Unterricht der Lehrer zu verbessern. Die im Rhythmus von drei Jahren vorgeschriebene Interne Evaluation ist dafür ein gutes Instrument. Wenn die Schulleitungen den Unterricht der Lehrer begutachten, sollten sie anders als bei der Schulinspektion üblich die ganze Stunde beobachten. Nur so kann man erkennen, ob es dem Pädagogen gelingt, den Unterricht als geistigen Prozess anzulegen und ihn zu einem lehrreichen Ende zu führen. Die Schulinspektion selbst muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Statt die Anwendung wünschenswerter Unterrichtsmethoden zu kontrollieren, sollte sie künftig die Qualität des Unterrichts überprüfen. Sie kann man daran festmachen, dass die Schüler aus dem geistigen Prozess, den der Lehrer organisiert, einen Mehrwert an Wissen schöpfen. Das alleine zählt.

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Grenzen „digitalen Lernens“

Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache

Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 22.05.2020, von Michael Felten

Michael Felten hat 35 Jahre als Gymnasiallehrer gearbeitet und ist weiterhin in der Lehrerweiterbildung tätig. Soeben erschien von ihm: „Unterricht ist Beziehungssache“ (reclam 2020, siehe auch Bücherliste auf dieser Website).

Auch wenn vieles nicht oder schlecht funktioniert: Durch Corona erleben die Schulen gerade einen Digitalisierungsschub. Was sich dabei bewährt hat und was man zukünftig besser lassen sollte, beschäftigt den Pädagogen Michael Felten. 

Jetzt mussten es aber auch Skeptiker zugeben: Gut, dass es das Digitale gibt – damit ließ sich der Unterrichtsausfall wegen Corona doch prima auffangen. Schüler bekamen weiterhin ihre Aufgaben, oft mit persönlichem Ferncoaching – und die letzten Lehrer entdeckten die Möglichkeiten elektronischer Hilfsmittel.

Zudem gab’s zuhause wenigstens saubere Toiletten mit genug Klopapier, und das häusliche Arbeitszimmer lässt sich nun vollständig bei der Steuer absetzen. Not gebiert bekanntlich auch Rettendes.

IT macht sich das Pädagogische untertan

Aber – Virenwarnung – es könnte sich auch ein Trojaner eingenistet haben. Denn bequem wie der Mensch nun mal ist: Er wird sich ein Stück weit ans Distanzlernen gewöhnen, an Unterricht ohne Blicke, Mimik und Gestik. Deshalb werden sich clevere IT-Firmen, die ihre Plattformen bis zum Sommer erst mal kostenfrei anbieten, über Folgeabos garantiert nicht beklagen müssen.

Und schon bald könnten Kultusminister sich damit brüsten, endlich den Schlüssel zur Lösung des Dauerproblems Lehrermangel gefunden zu haben: einfach weniger Präsenzunterricht in der Schule, mehr digitalisiertes Üben daheim.

Allerdings stößt ja die Formel „Wer heilt, hat recht“ schon beim Arztbesuch an Grenzen. Eine Gesundung kann ganz andere Ursachen haben als das verordnete Medikament, die Heilung hält vielleicht auch nur kurz an – oder wirkt lediglich im Einzelfall. Auch beim homelearning mit Monitor muss deshalb die Frage sein, ob’s überhaupt funktioniert – ob es also zumindest annähernd so gut wirkt wie der bisherige Präsenz- und Dialogunterricht.

Aber vielleicht wollen die Verantwortlichen das gar nicht so genau wissen – zu schön der Anschein für die Behörde, alles im Griff zu haben, zu verlockend die Chance für IT-Business und Big Data, sich im Coronaschock auch das Pädagogische untertan zu machen.

Es fehlt das menschliche Gegenüber

Das Echo der Schüler auf den Fernunterricht ist bekannt: Zuerst fanden sie Freiheit und neue Medien cool, dann wurden die Aufgabenlisten immer langweiliger, letzten Endes gerieten vor allem Schwächere ins Hintertreffen. Beim Distanzlernen mit Apparaten fehlt einfach das menschliche Gegenüber – Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache.

Wie ein Lehrer diesen Schüler anschaut und dann jenen, wie er mit der ganzen Klasse Fragen diskutiert, wie er Schwächere einfühlsam zu weiterem Bemühen ermuntert, wie er von einem Thema begeistert ist – das vermag kein Recherchetool, das ist durch keine Videokonferenz ersetzbar. Deshalb lautet ja das einhellige Urteil der als Ersatzpädagogen missbrauchten Eltern: „Jetzt ahne ich, was Lehrer täglich leisten.“

Überdies weiß die empirische Unterrichtsforschung einiges über die Wirkung von digital gestütztem Lehren und Lernen. Wegen ihrer riesigen Datenbasis besonders beachtenswert: Die XXL-Metastudie „visible learning“ des Neuseeländers John Hattie, 2017 aktualisiert und um die Sparte „technology“ erweitert. Demnach wirkt IT im Bildungsbereich auf die Schülerleistung: höchstens durchschnittlich.

Auch die Rehabilitierung der Lehrperson wird übrigens durch Hatties Befunde gestützt. Alle Einflussgrößen, in denen sich die personale Ebene des Unterrichts widerspiegelt – das Emotionale, das Beziehungsmäßige, das Dialogische -, erzielen überdurchschnittliche Wirkung auf die Lernleistung – etwa geführte Klassendiskussionen (0,82) [d = Effektstärke, d = 0,2 bis 0,4 Schulbesuchseffekt, d > 0,4 erwünschte Effekte], besondere Unterstützung für Lernschwache (0,77), Lehrer-Schüler-Beziehung oder Klassenführung (0,52). Das macht auch verständlich, warum die mancherorts beliebte ‚Freiarbeit‘ sich als so erschütternd ineffektiv erwies. Und warum zu viel und zu frühe Selbststeuerung leider gerade die schwächeren Schüler benachteiligt. In der Debatte über Bildungsgerechtigkeit wird das gerne unterschätzt – komischerweise gerade von vorgeblichen Anwälten der Benachteiligten. Aus: FAZ, 14.05.2020, Michael Felten, „Startbeschleunigung mit Tücken“.

Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung

So bringt es kaum etwas, Klassen nur mit Laptops auszustatten, interaktive Lernvideos hingegen können hilfreich sein. Wenn ein Fach oder eine Altersstufe viel geistige Auseinandersetzung erfordert, fällt der IT-Nutzen gering aus. Bei reinem Training zeigen sich aber auch überdurchschnittliche Effekte. Hattie selbst bilanziert, IT verbessere den Unterricht nur, wenn es sich nicht um Ersatz, sondern Ergänzung des pädagogischen Settings handele – und wenn die Vielfalt der Lernarten und die Häufigkeit von Feedback steige.

Beinahe klingt es dialektisch: Digitales Handwerkszeug muss für Schulen selbstverständlich werden. Gleichzeitig erstrahlt die Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung. Versäumen wir also nicht, nach der Coronakrise zu fragen, was wir von ihren Notlösungen wirklich behalten wollen. Die Antwort sollte datenbasiert sein – und nicht nur das Bauchgefühl widerspiegeln „Hat doch irgendwie ganz gut hingehauen“. Die CEOs im Silicon Valley jedenfalls bevorzugen für ihre Kinder analoges Lernen.

zum Beitrag: Deutschlandfunkkultur.de, https://www.deutschlandfunkkultur.de/grenzen-digitalen-lernens-unterricht-ist-in-hohem-masse.1005.de.html?dram:article_id=477083

Textauswahl in grau unterlegtem Einschub durch Schulforum-Berlin.

Wo „hart arbeiten und freundlich sein“ Teil des Lehrplans sind.

Bericht über eine „Brennpunktschule“ im Norden Londons.
Der Schulalltag „ist darauf ausgerichtet, das Lernen zu maximieren und Ablenkung zu minimieren.“

Bericht von Andreas Schleicher, Statistiker und Bildungsforscher. Er ist bei der OECD Direktor des Direktorats für Bildung. [siehe Anmerkung am Schluss des Berichts]

[…] Ein Ort, der seinen Erfolg auf lehrergeleiteten Unterricht aufgebaut hat, ist die Michaela Community School im Wembley Park, einem benachteiligten Viertel im Norden Londons. In jedem Klassenzimmer, das ich beobachtete, machten die Lehrer die Lernziele deutlich, strukturierten ihren Unterricht klar und stellten interessante Fragen, die das Denken höherer Ordnung anregten. Es wurde keine Zeit verschwendet, da die Schüler genau wussten, was sie zu erwarten hatten. Es gab kein Auswendiglernen, das Menschen oft mit lehrergesteuertem Unterricht in Verbindung bringen. Alle Schüler wurden in jedem Moment aufgefordert, alternative Wege zu finden, um Probleme zu lösen und ihre Denkprozesse und Ergebnisse kurz und bündig zu kommunizieren. Und weil die Schüler von Michaela vom ersten Tag an lernen, wie man lernt und hart arbeitet, müssen sie am Ende nicht mehr für die Prüfung üben und verlieren wertvolle Zeit bei der Prüfungsvorbereitung. Es überrascht nicht, dass die GCSE-Prüfungsergebnisse [1] bei Michaela sehr gut sind und Ofsted [2], das Büro für Bildungsstandards der britischen Regierung, die Qualität der Bildung als herausragend anerkennt, was man in dieser Nachbarschaft nicht oft sieht. […]

Die Schulbildung bei Michaela baut auf dem Verständnis auf, dass das Lernen sequentiell ist und dass die Beherrschung früherer Aufgaben die Grundlage für die Kompetenz in nachfolgenden Aufgaben ist. Für Lehrer bedeutet dies, dass sie nicht die Lernziele variieren, die für die gesamte Klasse gelten, sondern dass sie alles tun, um sicherzustellen, dass jeder Schüler die Möglichkeit hat, das Material auf eine für ihn oder sie angemessene Weise zu lernen. In einer der von mir beobachteten Mathematikstunden bot eine Lehrerin einem der Kinder drei Möglichkeiten an, ihr Verständnis von Brüchen zu festigen. Und indem sie sie bat, ihre Denkprozesse zu erklären, machten nicht nur der Schüler, sondern die ganze Klasse Fortschritte. Da es allen Schülern gelingt, jede aufeinanderfolgende Aufgabe zu erledigen, ist das Ergebnis weniger Variation und ein schwächerer Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds auf die Lernergebnisse. […]

Während der lehrergesteuerte Unterricht ein wichtiger Bestandteil der Unterrichtspraxis in der Michaela Community School ist, geht es nicht nur darum, Fakten und Zahlen zu reproduzieren, sondern basiert auf dem Verständnis, dass eine breite und vielfältige Wissensbasis die Grundlage für die Entwicklung einer informierten und differenzierten Meinung ist. Ich habe das während des Schulessens gesehen, als ich mit einer Gruppe von Sechstklässlern an einem „Familientisch“ gegessen habe. Die Kinder waren wach, neugierig und fürsorglich. Sie kamen aus sehr unterschiedlichen ethnischen und sozialen Verhältnissen, teilten eine Identität über das Lernen und waren sehr stolz auf ihre Schule. Sie diskutierten beim Mittagessen das Thema des Tages – was es braucht, um einen Marathon zu laufen – mit dem gleichen Interesse und der gleichen Energie, mit der sie mich mit Fragen über mein Leben und meine Ausbildung überhäuften. Die hohen Anforderungen, die die Schule an sie stellt, haben sie nicht ängstlich, sondern ehrgeiziger gemacht. Sie zielen auf Oxford und Cambridge. Sie hörten mir und einander aufmerksam zu und kümmerten sich darum, dass wir alle genug zu essen hatten. Nachdem die Teller abgeräumt waren, drückten die Kinder von jedem Tisch ihren Klassenkameraden, Lehrern und Eltern ihre „Wertschätzung“ aus und dankten demjenigen, der ihnen besonders geholfen hat.

Als ich Katharine Birbalsingh, die Direktorin und Gründerin von Michaela, nach dem Mittagessen traf, fasste sie die Fähigkeiten, die sie unter diesen Kindern entwickeln möchte, als „hart arbeiten und freundlich sein“ zusammen, ein Streben, das ebenso mächtig wie einfach ist. Die Schüler müssen verstehen, dass Erfolg harte Arbeit erfordert, aber Michaela sorgt auch dafür, dass Schüler, die Probleme haben, die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. Disziplin ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Jedes Detail des Schultages ist darauf ausgerichtet, das Lernen zu maximieren und Ablenkung zu minimieren. […]

Disziplin [wird] durch Struktur, Vorhersehbarkeit und Eigenverantwortung erreicht. Die Kinder, die ich traf, wirkten glücklich und selbstbewusst. Und das stimmt wiederum mit einer der wichtigsten Lehren aus PISA überein: Ein positives Disziplinarklima ist eine der besten Prognosen für bessere Bildung und soziale Ergebnisse. Kinder schätzen ein schulisches Umfeld, in dem Mobbing ungewöhnlich ist, in dem sie sich nicht unbehaglich oder fehl am Platz fühlen und in dem der Aufbau echter und respektvoller Beziehungen zu Lehrern die Norm ist. […]

Die Schulleiterin Birbalsingh hörte sich die Forschungsergebnisse von PISA mit großem Interesse an, gründete ihre Schule jedoch auf etwas Einfacherem: dem gesunden Menschenverstand.

[1] GCSE = General Certificate of Secondary Education entsprechen in England, Wales und Nordirland etwa dem deutschen mittleren Schulabschluss (MSA). Das GCSE gilt im britischen Schulsystem als die wichtigste Abschlussprüfung für die Sekundarstufe I.
[2] Ofsted, Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills

Übersetzt aus: OECD Education, Where “working hard and being kind” are part of the curriculum, 20.11.2019, Bericht von Andreas Schleicher, Statistiker und Bildungsforscher. Er ist bei der OECD Direktor des Direktorats für Bildung


Anmerkung durch Schulforum-Berlin:

Die Verfasser der von Schleicher erwähnten Pisa-Studie [1] führen weiter aus: „Eine bessere Ausstattung in der Schule hilft, aber nur, wenn sie den Lernprozess effektiv verbessert und das Gemeinschaftsgefühl stärkt.“ Außerdem wird festgestellt, dass eine bessere Ausstattung mit Computern gerade bei sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern nicht mit besseren Leistungen einhergeht. (S.8)

Natürlich kennt Schleicher auch dieses Ergebnis der Studie, das er jedoch in einem aktuellen Interview [2] bewusst verschweigt, denn er sagt: „Die deutschen Schulen sind beim digitalen Lernen [3] weit zurück, das rächt sich jetzt.“ Er führt weiter aus, wie die „Möglichkeiten der Digitalisierung“ genutzt werden sollen. So sind „durch Technik nicht nur herkömmliche Bildungsprozesse effizienter zu gestalten, sondern völlig neue Lernumgebungen zu entwickeln“, und er gibt als Lösung vor, dass diese „das Lernen spannender, relevanter, interaktiver und individueller machen.“ Sein Credo lautet: „Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen.“

Wie weit ist doch seine Argumentation von den Ergebnissen der genannten Pisa-Studie sowie den überragenden Ergebnissen der Schulpraxis der von Schleicher geschilderten Michaela Community School entfernt.

Nicht erst seit der Initiierung der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ [4] durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2015 wird deutlich, dass internationale IT- und Medienkonzerne – mit kompletter Verwertungskette für IT-Geräte und digitale Lern-Produkte – die Rolle als Richtungsgeber bei den Akteuren der Digitalisierung von Bildung eingenommen haben. [5] Anzumerken ist auch, dass die OECD keine Bildungsvereinigung ist sondern die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. Der Bildungsmarkt hat weltweit ein Volumen von 5 Billionen US-Dollar. [6] Es geht also um ein riesiges Geschäft!

Unter diesen ökonomischen Vorgaben ist wenig Hoffnung, dass Schleicher mit dem Finger auf das „Zentrale Ergebnis der Studie“ hinweist: „Ein positives Schul- und Unterrichtsklima ist ein Schlüsselfaktor für Resilienz.“ (S. 9)

Viele Schülerinnen und Schüler haben seit Jahren besorgniserregende schlechte Leistungsergebnisse in den Basiskompetenzen Rechnen, Schreiben und Lesen. Auch ist ein zunehmender Verlust von Sozialkompetenzen, sprachlichem Ausdrucksvermögen und vernetztem Denken festzustellen. All das lässt sich durch die „Digitalisierung“ nicht verbessern – denn Lernen braucht Beziehung. [7]

[1] Erfolgsfaktor RESILIENZ – Warum manche Jugendliche trotz schwieriger Startbedingungen in der Schule erfolgreich sind – und wie Schulerfolg auch bei allen anderen Schülerinnen und Schülern gefördert werden kann. Eine PISA-Sonderauswertung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Kooperation mit der Vodafone Stiftung Deutschland.
[2] Interview im Redaktionsnetzwerk Deutschland, 25.02.2020
[3] Kritisch ist anzumerken, dass die Bezeichnung „digitales Lernen“ irreführend ist und eher als positiv konnotiertes, euphemistisches Synonym für die Einführung digitaler Lehr- und Lernmittel im Diskurs genutzt wird [vgl. Förschler, Annina], so auch von Schleicher.
[4] BMBF, Digitale Chancen nutzen. Die Zukunft gestalten. Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“
[5] Förschler, Annina (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52. (siehe Bücherliste)
„[D]er Diskurs [wird] über das Veröffentlichen von Strategie- und Positionspapieren, Handlungsempfehlungen, öffentlichwirksamen Studien und Online-Auftritten wirkmächtig beeinflusst und (mit)gestaltet und (auch) darüber Einfluss auf bildungspolitische Entscheidungen und Agenden-Ausrichtungen genommen.“ (ebd. S. 46)
[6] Handelsblatt, 21.10.2014, Relias Learning – Bertelsmann erweitert Bildungsgeschäft mit USA-Zukauf
[7] Krautz, Jochen (2020): Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht, Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.


Die Ergebnisse der Michaela Community School zählen zu den besten des Landes.

Die GCSE-Ergebnisse der Michaela Community School, die viermal besser waren als der nationale Durchschnitt, waren die ersten, über die seit ihrer Eröffnung vor fünf Jahren im Rahmen des Programms für freie Schulen berichtet wurden. Gavin Williamson, der Bildungssekretär, sagte, dass „erstaunliche Ergebnisse“ von den freien Schulen erzielt wurden und fügte hinzu: „Wir haben echte Erneuerungen gesehen, echte Veränderungen, und das führt tatsächlich zu besseren Ergebnissen in einigen der am stärksten benachteiligten Teile des Landes.“ (übersetzt aus: Telegraph, 17.10.2019, Camilla Turner, More than half of state school pupils failing to achieve ’strong pass‘ in English and maths GCSEs.)


siehe auch:
Auf dieser Berliner Schule herrschen klare Regeln
„Die Schüler wissen, dass wir sehr konsequent handeln würden“
Schulleiter Michael Rudolph legt bei seinen Schülern Wert auf Disziplin. Und hat damit offenbar Erfolg.

Die Glaubwürdigkeit der Lehrperson

„Karl, das kannst du!“

Von Carl Bossard

Erwartung ist ein wirkungsstarkes Wort. Nicht als flinke Phrase formuliert, sondern als echtes Feedback artikuliert und mit Lernhilfen intensiviert. Eine pädagogische Grundhaltung ist die Basis.

Sechste Klasse, strenge Zeit! Der Übertritt steht bevor. Doch die Welt hält noch anderes bereit als nur Unterricht. Da ist beispielsweise das Mädchen in der Parallelklasse. Schule wird zur Nebensache; Kraft und Konzentration kanalisieren sich neu. Ich weiss noch, wie ich in dieser Zeit einen schluderig formulierten Text abgegeben habe. Unser Lehrer hat jeden Aufsatz eigenhändig korrigiert – elf in der fünften, elf in der sechsten Klasse – und ihn mit jedem Einzelnen besprochen. Kurz. Klar. Konzentriert. Ich stand vor ihm am Pult. Hinter seiner Strenge leuchtete etwas. Er zeigte mir die Korrektur und sagte lediglich den einen Satz: „Karl, das kannst du!“ Mehr nicht.

Lehrererwartungen wirken

Die Aussage traf mich; die wenigen Worte wirkten: Der Lehrer traute mir Besseres zu; er erwartete mehr, als ich im Moment lieferte. Unbewusst nahm ich wahr: Er wollte den Brotkorb hoch hängen, damit sich mein geistiger Hals recke. Und er traute es mir zu; er vertraute mir.

Vertrauen ist der Anfang von allem. Auch in der Pädagogik – in diesem subtilen intersubjektiven Geschehen zwischen Lehrpersonen und ihren Kindern und Jugendlichen. Vertrauen, dieses kleine Wort mit neun Buchstaben, ist gebunden an Glaubwürdigkeit. Es bedarf kaum vieler empirischer Daten, um zu erkennen, welchen Einfluss das Vertrauen und die damit verknüpfte Glaubwürdigkeit im menschlichen Miteinander haben.

Glaubwürdigkeit als Kern einer intakten Lehrer-Schüler-Beziehung

Ohne Glaubwürdigkeit sind Kooperation und Kommunikation nur erschwert möglich. Das haben viele schon erfahren. Darum überrascht es nicht, dass John Hatties wegweisende Studie dem Faktor „Glaubwürdigkeit“ der Lehrperson eine der höchsten Effektstärken zuordnet. [1] Ihre Glaubwürdigkeit beeinflusst den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler positiv. Viele Daten zeigen es.

Glaubwürdigkeit basiert auf ehrlichem, intensivem Feedback und klarer, konkreter Sprache. Beiden Aspekten kommt – nicht überraschend – ebenfalls ein großer Wirkwert zu. Klarheit braucht pädagogischen Mut. Fehler beschönigen oder sie gar verschweigen versperrt Lernwege und schwächt das Vertrauen. Die Lernenden wissen meist um ihre Schwächen; sie können sie aber nicht präzis benennen. Oberflächliches Feedback kratzt darum an der Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Eine differenzierte, sachlich unerbittliche Rückmeldung, menschlich wohlwollend und zuversichtlich formuliert, stärkt die Lehrer-Schüler-Beziehung.

Lernen braucht intakte Beziehungen

Mein Text aus der sechsten Klasse war schlampig verfasst; irgendwie wusste ich es. Doch der Lehrer sagte nicht: „Das ist unbrauchbar! Das kannst du nicht!“ Er verwies mich lautlos auf die Korrektur und meinte nur: „Karl, das kannst du!“

Wie Rückkoppelungen formuliert werden und wirken, ist wissenschaftlich gut untersucht. [2] Entscheidend im Feedback-Verhalten sind Sprache und Ausdruck. Spürt die Schülerin die Zuversicht der Lehrperson? Erfährt der Schüler eine wertschätzende Haltung des Vertrauens und Zutrauens? Erkennt der junge Mensch die Differenz zwischen Sein und Sollen? Und weiss er, was der Lehrer von ihm erwartet?

Unterricht ist im Kern Beziehungsarbeit

Lernen braucht eine intakte Lehrer-Schüler-Beziehung und eine angstfreie, lernförderliche Atmosphäre der Zuversicht. Der Schlüssel dazu ist die Glaubwürdigkeit der Lehrperson. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse.

Neu ist die viel höhere Effektgrösse, die John Hattie heute dem Faktor „Lehrererwartung“ zuordnet, dies im Vergleich zu seiner Ursprungspublikation von 2009. [3] Zahlreiche zusätzliche Studien bestätigten in der Zwischenzeit, wie wichtig dieser Aspekt ist. Sie verstärkten den Wirkwert der Lehrererwartung. Das lässt aufhorchen.

Pygmalion-Effekt mit Langzeitwirkung

Bekannt geworden ist dieser Effekt durch die berühmte Studie „Pygmalion im Unterricht“ von Robert Rosenthal und Leonore F. Jacobson. [4] Die beiden Forscher wiesen 1968 nach: Wenn Lehrpersonen ein positives Bild von Lernenden haben und viel von ihnen erwarten, fördern sie diese Jugendlichen stärker als deren Mitschülerinnen und Mitschüler. Das zeigt sich beispielsweise an der Intensität der Zuwendung oder an der Geduld bei Lernprozessen. Winfried Kronig, Professor für Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Freiburg, konnte nachweisen, dass die Erwartungshaltung der Lehrperson aus der zweiten Klasse die Leistung in der 6. Klasse noch immer beeinflusst – dies über eine Zeitachse von vier Schuljahren.

Der Pygmalion-Effekt zählt zu den bestuntersuchten pädagogischen Wirkfaktoren. Prototypisches Beispiel ist der Phonetiker Higgins im Musical „My Fair Lady“, verfilmt mit Audrey Hepburn und Rex Harrison. Higgins glaubt an das Blumenmädchen Eliza Doolittle und traut ihr das blütenreine Oberklassen-Englisch zu. Eliza schafft es und besteht beim Ball des Botschafters als angebliche Herzogin.

Sich der Erwartungen an die Schüler bewusst sein

Umgekehrt lässt der Pygmalion-Effekt auch den Schluss zu, dass gleichgültige oder gar negative Lehrererwartungen zu schwächeren Lernleistungen führen können. Darum müssen sich Lehrinnen und Lehrer ihrer Erwartungshaltung bewusst werden. Die „self-fulfilling prophecy“, die selbsterfüllende Prophezeiung, gilt für positive wie für negative Erwartungen.

Ob unser 5./6.-Klasslehrer den Phonetikprofessor Higgins gekannt hat, weiss ich nicht. Der Film erschien jedenfalls erst nach meiner Primarschulzeit. Ich weiss nur: Er erwartete eine bessere Lernleistung und traute sie mir zu. Mein Primarlehrer wirkte – im positiven Sinne. Noch heute höre ich seinen Satz: „Karl, das kannst du!“

Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans (Schweiz), Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen.

Zum Artikel und den Literaturhinweisen: https://www.journal21.ch/karl-das-kannst-du

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.