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Kultusministerium argumentiert nicht in der Sache zur Gemeinschaftssschule

Kultusminister Andreas Stoch verklagt die FAZ

02. 09. 2015,  Andreas Müller

Kultusminister Stoch zieht gegen die „Frankfurter Allgemeine“ vor Gericht. Deren Behauptung, sein Haus halte ein „vernichtendes Gutachten“ zur Gemeinschaftsschule unter Verschluss, will er sich nicht gefallen lassen. Die Zeitung sieht keinen Grund für einen Widerruf.  (…)

Unter der Überschrift „Schwäbisches Himmelfahrtskommando“ berichtete Heike Schmoll (FAZ)  [siehe Artikel weiter unten] über ein angeblich „vernichtendes Gutachten“ zur Gemeinschaftsschule. Einer der Vorzeigeschulen, der Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen, hätten mit der Begleitforschung beauftragte Wissenschaftler denkbar schlechte Noten ausgestellt. Ob selbstständiges Lernen, Inklusion von Behinderten oder Bewertung der Schüler – an allen Ecken und Enden hapere es. Das grün-rote Lieblingsprojekt, so Schmolls Fazit, sei ziemlich unausgegoren.  (…)

Nicht an dieser – von Stoch und den Wissenschaftlern prompt relativierten – Bewertung entzündet sich nun der Streit, sondern an einem anderen Satz. Das Gutachten, behauptete die Autorin, werde „vom Kultusministerium bisher unter Verschluss gehalten.“ (…)

Laut FAZ fordert Kultusminister Stoch zudem eine Unterlassungserklärung, wonach die Behauptung nicht wiederholt werden dürfe.
Die Antwort aus Frankfurt war eindeutig. „Wir haben sämtliche geltend gemachte Ansprüche zurückgewiesen, da diese aus unserer Sicht nicht bestehen“  (…)

zum Artikel:  Stuttgarter-Zeitung, 02.09.2015, Andreas Müller, Kultusminister Andreas Stoch verklagt die FAZ


„Der Skandal besteht nicht darin, dass das Gutachten herausgekommen ist, sondern was herausgekommen ist“.

siehe Artikel:  Gemeinschaftsschule: “…den Beleg für die politischen Verheißungen bisher schuldig geblieben”

Gemeinschaftsschule: „…den Beleg für die politischen Verheißungen bisher schuldig geblieben“

Gemeinschaftsschule „Damit werden die Schüler betrogen“

Die Diskussion um Sinn oder Unsinn der Gemeinschaftsschule verschärft sich: Der Kölner Bildungsforscher und Pisa-Kritiker Matthias Burchardt wirft der Landesregierung massive Fehler vor.
27.08.2015, Frank Krause

Herr Burchardt, es hat zuletzt viel Wirbel um die Gemeinschaftsschule Tübingen gegeben, von der ein Gutachten besagt, dass sie längst nicht das bringt, was sich Grün-Rot von ihr erhofft. Wie schätzen Sie das ein?
Das Gutachten ist für erfahrene Lehrer und nachdenkliche Wissenschaftler keine besonders große Überraschung. Aber es ist hilfreich, dass mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung, also mit der Beobachtung durch Wissenschaftler vor Ort, nachgewiesen wird, dass bestimmte pädagogische Maßnahmen nicht so funktionieren, wie es der Öffentlichkeit versprochen wurde. (…)

Der Schulleiter hat die Kritik an dem Projekt Gemeinschaftsschule vehement zurückgewiesen, auch Kultusminister Stoch verwahrt sich gegen Vorwürfe. Wie ist Ihre Einschätzung?
Man muss genau schauen, was von den Erkenntnissen des Gutachtens nur die Situation in Tübingen betrifft, da sage ich ganz klar: Wer etwas Neues probiert, darf Fehler machen. Man kann aber auch sehen, welche grundsätzlichen Probleme es in dieser neuen Unterrichtsform gibt, was also zwangsläufig auch an anderen Gemeinschaftsschulen zu Problemen führen muss. Insofern halte ich aktuell die Strategie der Kultuspolitiker für fahrlässig, die Kritiker anzugreifen. Der Skandal besteht nicht darin, dass das Gutachten herausgekommen ist, sondern was herausgekommen ist.

Was ist aus Ihrer Sicht das zentrale Ergebnis?
Das Scheitern der neuen Lernkultur.

Im Klartext?
Lehrer und Schüler sind vielfach mit den neuen Lernformen überfordert. In dem Gutachten wird zum Beispiel geschildert, wie die Schüler weitgehend damit beschäftigt sind, Lernpakete abzuarbeiten. Das sind also kopierte Zettel oder Aufgaben, die man selbstständig und ohne Lehrer oder einen Mitschüler erledigt, das Ganze idealerweise in hohem Tempo. Die uns allen aus der eigenen Schulzeit vertraute Klassensituation, bei der ein Lehrer vorne steht und den Schülern etwas erklärt oder mit ihnen diskutiertet, so dass eine Gemeinschaftssituation entsteht, bildet nicht mehr den Kern des pädagogischen Handelns. Stattdessen ist jeder Schüler im Lernen isoliert. Der Lehrer kontrolliert nur, wie viele Aufgabenpakete erledigt wurden, aber nicht, was tatsächlich gelernt worden ist. Das Gutachten zeigt, dass die Lehrer es nicht mal geschafft haben, die inhaltlichen Fehler in den Lernpaketen zu korrigieren. Der Schüler weiß also nicht, ob er es richtig oder falsch gemacht hat.

Was ist die Konsequenz?
Aus meiner Sicht müsste dieser Irrweg unverzüglich aufgegeben werden. Das Gutachten schlägt dagegen vor, den Einsatz der neuen Lernkultur noch mehr zu verstärken. Aber es darf doch nicht darum gehen, mit allen Mitteln eine neue Methode zum Erfolg zu bringen, sondern den Kindern muss zum Erfolg verholfen werden. Das schafft man auf den bewährten Wegen des Schulsystems mit Sicherheit besser als auf diesen Pfaden in einer Gemeinschaftsschule. Die Politik müsste eingestehen, dass dieses System gescheitert ist und man zur traditionellen Form der Pädagogik zurückkehren muss. (…)

Was würden Sie als Eltern tun?
Ich wäre skeptisch gegenüber dem politischen Versprechen, dass die Gemeinschaftsschule das allein selig Machende ist. Allein die Tristesse des isolierten Arbeitens halte ich nicht für ein glückliches Schulklima. Ich würde mir deshalb als Eltern zweimal überlegen, ob ich mein Kind einem solch kalten System anvertraue, das den Beleg für seine politischen Verheißungen bislang schuldig geblieben ist.

zum Artikel:  Stuttgarter Nachrichten, 27.08.2015, Frank Krause, Gemeinschaftsschule „Damit werden die Schüler betrogen“

„Vernichtendes Gutachten über Gemeinschaftsschule“ in BW

Studie zur Gemeinschaftsschule
Schwäbisches Himmelfahrtskommando

Ein Gutachten stellt dem Vorzeigeprojekt Gemeinschaftsschule ein vernichtendes Urteil aus. Vor allem das individuelle Lernen erweise sich als denkbar ineffektiv.
16.08.2015, Heike Schmoll, Berlin

Die Gemeinschaftsschule ist das Vorzeigeprojekt der grün-roten Landesregierung in Stuttgart schlechthin. Sie soll nicht nur das gemeinsame Lernen ganz unterschiedlich begabter Schüler ermöglichen, sondern dient angesichts der sinkenden Schülerzahlen an vielen Orten des Flächenlandes Baden-Württemberg dazu, den Schulstandort zu sichern. Viele Gemeinschaftsschulen finden sich deshalb im ländlichen Raum, ganz gleich, welche Partei den Gemeinderat gerade regiert.
Nun wurde ein vernichtendes Gutachten über die Gemeinschaftsschule bekannt, das vom Kultusministerium bisher unter Verschluss gehalten wird, den Vermerk „nur intern verwenden“ trägt und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorliegt. Danach gelingt weder die neue Unterrichtsform des selbständigen Lernens mit Lehrern als Lernbegleitern noch die Inklusion oder die besondere Förderung der Schwächsten und Stärksten. Auch die Leistungsbeurteilung ist mehr als fragwürdig. In den Fremdsprachen kommt das Sprechen zu kurz. (…)

Selbst einer der entschiedensten Befürworter aus der Bildungsforschung, der Tübinger Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl, kritisiert inzwischen, dass die Gemeinschaftsschule nicht gut aufgestellt sei. Es gebe überhaupt noch keine Forschungen zum individuellen Lernen und nicht einmal einheitliches Unterrichtsmaterial. Die Gemeinschaftsschule gehört also zu den bildungspolitischen Himmelfahrtskommandos, die überstürzt eingeführt wurden. (…)

Mitarbeiter des Lehrstuhls Bohl haben im Rahmen einer alltagsnahen Begleitforschung (in einer zweiten Tranche soll eine Längsschnittbefragung folgen) jetzt die Arbeit der Tübinger Vorzeigeschule unter die Lupe genommen. Sie haben eine Inklusionsklasse mit 19 Schülern und eine weitere Lerngruppe mit 26 Schülern untersucht. Ausgerechnet das individuelle Lernen, das in der Gemeinschaftsschule bei den Kernfächern in zwei der vier Wochenstunden praktiziert werden soll, aber auch im Wahlpflichtbereich viel Raum einnimmt, hat sich als denkbar ineffektiv erwiesen. In Englisch, Deutsch und Mathematik arbeiten die Schüler an der Geschwister-Scholl-Schule ausschließlich ihre sogenannten Lernpakete ab, das sind Wochenarbeitspläne mit einem konkreten Pensum, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt sein muss. Offenbar werden dafür auch Unterrichtsstunden genutzt, die eigentlich gar nicht für das individuelle Arbeiten vorgesehen waren. Sie machen sich weder Gedanken über ihre Arbeitsstrategie, noch nehmen sie sich ein konkretes Pensum vor. Auch die Lehrer unterstützen in den Arbeitsphasen wenig. (…)

Während leistungsstärkere Schüler mit der Selbständigkeit gut umgehen können und auch Lernstrategien beherrschen, geraten die schwächeren noch mehr ins Hintertreffen als ohnehin schon. Den Lehrern fehlt der Überblick, welcher Schüler woran arbeitet, welche Fortschritte er macht und die Kontrolle der Ergebnisse kommt zu kurz. Wenn überhaupt, schauen die Lehrer nach Vollständigkeit, Orthographie, Grammatik und Seitenzahl, während „die inhaltliche Qualität der Schülerarbeiten hintangestellt wurde“. Und das an einer Schule, die derlei Lernmodelle schon seit langem praktiziert?

Fragwürdig ist in den Augen der Forscher auch die in Tübingen praktizierte Leistungsmessung. Schüler, deren Gesamtergebnis in der Klassenarbeit unter 40 Prozent liegt, können die Klassenarbeit in neu konzipierter Form wiederholen und das Ergebnis der schlechten Arbeit ersetzen. Doch eigentlich verbietet die Notenbildungsverordnung, dass bereits benotete Leistungsergebnisse gestrichen oder ersetzt werden. So müssten also beide Noten in die Gesamtbewertung einfließen. Hinzu kommt, dass die Benotung in unterschiedlichen Niveaustufen nach Angaben der Forscher zu wenig individuell ist und sich mit den Anforderungen der Bildungsstandards für die drei Schularten Gymnasium, Realschule, Hauptschule nicht deckt. Es wird auf diese Weise zwar annähernd ein Leistungsstand in einem Fach in der Bewertung abgebildet, aber keine Lernentwicklung. (…)

Positiv wird notiert, dass die Eltern einbezogen werden und das Kollegium motiviert und kritikfähig sei.

zum Artikel:  FAZ, 16.08.2015, Heike Schmoll, Studie zur Gemeinschaftsschule, Schwäbisches Himmelfahrtskommando

siehe auch:   Stuttgarter Zeitung, 17. 08. 2015, Renate Allgöwer, Gutachten für Tübinger Gemeinschaftsschule – Schlechte Noten für Gemeinschaftsschule


Die Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen ist eine von insgesamt zehn Gemeinschaftsschulen, die von der Universität Tübingen und den Pädagogischen Hochschulen Freiburg, Heidelberg und Weingarten seit dem Jahr 2013 begleitet werden. Der Abschlussbericht mit Grundsatzaussagen zu der neuen Schulart wird im Januar 2016 erwartet. Jede der zehn Starterschulen hat im November einen schulspezifischen Zwischenbericht erhalten. Bekannt wurde jetzt der Bericht der Geschwister-Scholl-Schule. Im Schulamt gilt sie als Vorzeigeeinrichtung. Es gibt im gesamten Bundesland z.Z. 271 Gemeinschaftsschulen.

Bildungsforscher John Hattie hält Vortrag an Uni Kiel

Öffentlicher Vortrag des Neuseeländers am 23. August 2015 an der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel

Der weltweit bekannteste Bildungsforscher John Hattie hat in seinem viel beachteten Buch „Lernen sichtbar machen“ (Visible Learning, siehe Bücherliste) aufgezeigt, welche Faktoren den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern beeinflussen, und damit lebhafte Diskussionen im Bildungsbereich angestoßen. Neue Impulse dürfen nun vom öffentlichen Vortrag des Neuseeländers am 23. August 2015 an der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel erwartet werden. Professor Hattie gehört zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt, die im Rahmen der Eighth SELF Biennial International Conference in Kiel zusammen kommen, um aktuelle Forschungsergebnisse unter dem Thema “SELF – Driving Positive Psychology and Well-being” zu präsentieren und zu diskutieren.

Zu der Tagung kommen diejenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt nach Kiel, die sich im Zusammenhang mit schulischem Lernen mit Fragen des Selbstvertrauens, der Lernmotivation und des Selbstbewusstseins auseinandersetzen. Die SELF-Konferenz ist international die größte Tagung, die sich diesen Themen widmet. Ein Fokus der diesjährigen Konferenz wird dabei auf gelingenden Lernprozessen und Wohlbefinden liegen.

Alle Informationen unter:
www.ipn.uni-kiel.de/de/das-ipn/nachrichten/vortrag-von-john-hattie

Erfolgreicher Unterricht: „Leidenschaft“ und „hoher Einfluss“ nötig

Datum:  04.07.2015
Was guten Unterricht ausmacht
Im Interview mit FreieWelt.net erläutert Prof. John Hattie, was guten Unterricht ausmacht.

FreieWelt.net:  (…)  Was also macht einen erfolgreichen Unterricht aus?
John Hattie:  (…) Dazu gehört etwa, dass eine Gruppe von Lehrern von einer Person geleitet wird, die ein Klima des Vertrauens erzeugt, damit die Lehrer debattieren, kritisieren und Unterrichtsreihen planen können, die a) herausfordernd sind, b) auf dem Vorwissen der Schüler aufbauen, c) die Balance zwischen allgemeiner und tiefgründiger Stoffbehandlung halten und am wichtigsten, d) dass sich alle einig sind, wie der Erfolg sich am Ende darstellen wird und die Erfolgskriterien klar benennen können, BEVOR sie mit dem Unterrichten beginnen.
Die Aussicht auf Erfolg erhöht sich, wenn der Lehrkörper sehr frühzeitig die Zielsetzung des Unterrichtes kommuniziert und sich ständig um Feedback in Bezug auf den Fortschritt der einzelnen Schüler bemüht sowie die Lehrmethoden im Lichte dieser Rückmeldungen anpasst. Die Aussicht auf Erfolg erhöht sich, wenn Schüler, die mit den Herausforderungen des Lernens kämpfen, das Lernen selbst beigebracht bekommen (sich zu konzentrieren, mit Bewusstsein zu arbeiten, Fehler und Fehlschläge zu tolerieren, gemeinsam an Problemlösungen zu arbeiten und verschiedene Lernstrategien auszuprobieren) und mit regelmäßigem Feedback über die nächsten Schritte versorgt werden.
Angemessene Herausforderungen, Klärung des Erfolgsbegriffes und Lehrer, die sich und ihren Unterricht immer weiter entwickeln – das sind Schlüsselkategorien für Unterrichtserfolg. Lehrer müssen darin unterstützt werden, ihren eigenen Einfluss auf den Lernerfolg in einem vertrauensvollen Umfeld ständig zu überprüfen und die Anforderungen der Lehrpläne gemeinsam festzulegen. Lehrer müssen eine Leidenschaft dafür entwickeln, alle Schüler zum Erfolg zu führen.

Was ist Ihre Vorstellung von einem „guten Lehrer“?
John Hattie:  Hervorragendes Unterrichten lässt sich – nach all meinen Schriften, meinen Beobachtungen in Schulen und meiner Beschäftigung mit Bildung allgemein – auf zwei Hauptnenner bringen – der eine davon ist Leidenschaft. Dabei meine ich eine bestimmte Form von Leidenschaft – die Leidenschaft, wirksamen Einfluss auf den Lernerfolg zu haben. Ich rede nicht über eine bloße „Liebe zum Lehren“, sondern über eine Leidenschaft für wertvolles und bewertbares Unterrichten, eine Leidenschaft dafür, seine Zeit und Energie dem Unterrichten zu widmen und dies zu einem zentralen Aspekt der eigenen Identität und des eigenen Lebens zu machen.
Kinder gehen nicht immer nur zur Schule, um nachzudenken. Unser Kopf ist gar nicht fürs Denken eingerichtet, wie wir in unserem neuen Buch argumentieren (Hattie & Yates, 2013). Denken und Lernen erfordern bewusstes Handeln, bewusste Praxis und bewusste Aufmerksamkeit dem gegenüber, was wir nicht wissen. Man muss Energie und Anstrengung aufbringen und dazu noch die Möglichkeit akzeptieren, daneben zu liegen, vor den anderen bloßgestellt zu werden, weil man es nicht kann! Manchmal erfordert es nachhaltige Bemühungen, bedroht das Selbstvertrauen, bringt ein hohes Maß von Unsicherheit mit sich. Es gibt keine Garantie für Erfolg. Und daher ist es riskant, weil wir es vielleicht nicht schaffen. Es könnte sehr peinlich sein, vor den Augen der Gleichaltrigen zu versagen. Es kostet viel, weil die gleiche Mühe in dem Moment nicht in andere, angenehmere Aktivitäten gesteckt werden kann, die nichts mit Nachdenken zu tun haben. Es ist einfacher, sich nicht mit dem Lernen zu beschäftigen, als es zu riskieren, trotz all der notwendigen Anstrengungen zu versagen. Das ist keine Faulheit. Wir Menschen (besonders die Kinder) verfügen eben nur über begrenzte Ressourcen, mit denen zu haushalten umsichtig, sogar weise ist. Lehrer mit einer ebenmäßigen (nicht obsessiven) Leidenschaft zum Unterrichten wissen das. Daher rührt auch ihr demonstratives Veranschaulichen der Freude, die man daraus ziehen kann, wenn man ihre Leidenschaft für das Lernen von Englisch, Mathematik, Physik und Sport teilt.
Diejenigen Lehrer, die diese Leidenschaft nicht haben, sehen die Quelle der Probleme vor allem in den Schülern. Sie sehen, dass manche klug sind und manche kämpfen müssen, dass manche es können und andere nicht. Sie sehen, dass einige sich bemühen und sagen, der Rest tut das nicht. Sie erklären einige für „leicht zu unterrichten“ und andere für „weniger leicht zu unterrichten“. (…)

Der zweite Hauptnenner, auf den man hervorragendes Unterrichten bringen kann, ist hoher Einfluss. Ich habe bei meiner Arbeit an „Visible Learning“ entdeckt, dass der Unterschied zwischen hervorragenden und nicht so großartigen Lehrern mehr als nur Leidenschaft ist. Die Antwort liegt nicht darin, wer der Lehrer ist – auch nicht notwendigerweise darin, was er genau tut. Es hängt vielmehr damit zusammen, welche Menge an Einfluss er auf die Schüler hat. Das hervorstechendste Ergebnis der Synthese von (derzeit) über 1000 Meta-Analysen (ca. 55.000 Einzelstudien, die ca. 250 Mio. Schüler umfassen) ist, dass fast „alles funktioniert“. Das erklärt nun, warum wir jeden Lehrer die Türe schließen und dann tun lassen, was er für das beste hält – solange es Beweise gibt, dass es das Lernen verbessert. Das erklärt auch, warum die allermeisten politischen Maßnahmen offenbar das Lernen fördern – weil beinahe alles das Lernen fördern kann. Aber wenn wir einmal von den durchschnittlichen Effekten absehen, ergibt sich eine ganz andere Geschichte. Ich bin fasziniert von den Merkmalen derjenigen Lehrer und Lehrarten, die zu überdurchschnittlichen Ergebnissen führen – und das sind die Botschaften in Visible Learning (2008) und Visible Teaching (2011). Ich möchte folgende normative These über hervorragende Lehrer aufstellen: Sie haben nicht nur einen gewaltigen und beständigen Einfluss, sondern sie können dafür auch qualitative Beweise anführen.
Ich habe mich in meiner Karriere auf das Studium von Erfolg konzentriert, und dieser ist in Schulen allgegenwärtig. Meine Schätzung gemäß meiner VL – Arbeit ist, dass um die 40 % der Lehrer stark einflussnehmende, leidenschaftliche Lehrer sind. Sie sind überall – wir müssen sie nur wertschätzen, verlässlich identifizieren, und dann alle anderen so fördern, dass sie zu dieser Gruppe von Lehrern aufschließen. (…)

zum Artikel:  ISSB – Institut für Strategische Studien Berlin, FreieWelt.net, 12.04.2013, Was guten Unterricht ausmacht

Was guten Unterricht ausmacht

Datum:  02.07.2015
„Schlechter Unterricht führt dazu, dass alle gleicher werden“
Es nutzt die schönste Schule nichts, wenn das Personal nichts von seinem Job versteht: Unterrichtsforscher Andreas Gold (Professor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt) über das, was erfolgreiche Pädagogen und guten Unterricht ausmacht. Interview: Jacqueline Vogt, FAZ

Jacqueline Vogt:  (…) Haben Sie Veränderungen (im Unterricht an deutschen Schulen) festgestellt, zum Schlechten womöglich?
Andreas Gold:   Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Unterricht in Deutschland schlechter geworden sei. Im Gegenteil, ich glaube, dass an deutschen Schulen, in deutschen Klassenzimmern, ziemlich guter Unterricht gemacht wird. In der Öffentlichkeit wird meist gesprochen über Strukturfragen: Ganztagsschule, Inklusion, Differenzierung nach der vierten Klasse oder später. Daran arbeiten sich die Bildungspolitiker seit 50 Jahren ab. Bei all diesen Strukturfragen gerät aus dem Blick, dass es letztlich auf die Unterrichtsqualität ankommt, also auf das, was Lehrerinnen und Lehrer im Klassenzimmer wirklich machen. (…)

Was bedeutet Unterrichten heute? Welche Herausforderungen muss ein Lehrer meistern?
Zuvorderst muss er (das Lehrpersonal) Wissen und Fertigkeiten vermitteln. Darüber hinaus aber werden zunehmend Erziehungsaufgaben allgemeiner Art auf die Lehrer übertragen, ob sie das wollen oder auch nicht, und sie müssen sie auch leisten. Auch dann, wenn gleichzeitig eine allgemein nachlassende Kooperationsbereitschaft von Eltern zu beobachten ist. Außerdem sind die Lernvoraussetzungen von Schülern zunehmend ungleicher als früher. Mit dieser Heterogenität umzugehen ist eine erhebliche Herausforderung. (…)

Ist der Beibehalt von Unterschieden also das Ziel von Schule?
Ich formuliere das mal provokant: Am Ende guten Unterrichts steht eine größer gewordene Heterogenität der Schülerschaft. Richtig guter Unterricht fördert jedes Kind, soweit das aufgrund des Potentials, das es mitbringt, möglich ist. Und wenn man jeden optimal fördert, sind, weil schon die Ausgangslagen unterschiedlich waren, am Ende auch die Ergebnisse unterschiedlich. Nur ganz schlechter Unterricht wird dazu führen, dass am Ende alle ein bisschen gleicher sind, auf niedrigem Niveau. (…)

Was ist gute Klassenführung?
Gute Klassenführung zeigt sich darin, dass es im Unterricht selten oder so gut wie gar nicht zu Störungen kommt. (…)

zum Artikel:  FAZ, 22.05.2015, Jacqueline Vogt, „Schlechter Unterricht führt dazu, dass alle gleicher werden“

Die Arbeitsgebiete von Professor Andreas Gold sind die Lehr-Lern-Forschung und die Erforschung der Wirksamkeit pädagogischer Interventionen. Von 2008 bis 2014 war Gold stellvertretender wissenschaftlicher Leiter des Forschungszentrums „Idea“, das untersucht, wie Kinder lernen. Gold hat über Lernschwierigkeiten und frühe Bildung publiziert, sein jüngstes Buch heißt „Guter Unterricht“.