Eine systematische Überprüfung und Metaanalyse der Evidenz zum Lernen während der COVID-19-Pandemie

Kinder verloren etwa ein Drittel des Lernwertes eines normalen Schuljahres. Die Studie wurde Ende Januar 2023 im Online-Fachjournal „Nature Human Behaviour“[1] veröffentlicht.

Um das Ausmaß der Lerndefizite während der Pandemie zu bewerten, sammelte das Forschungsteam Daten aus 42 früheren Studien aus 15 Ländern, die im Zeitraum März 2020 bis August 2022 veröffentlicht wurden.

Die primäre Forschungsfrage des Teams lautete: „Wie wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf den Lernfortschritt von Kindern im Schulalter aus?“ Das zweite Forschungsziel war „Zu untersuchen, ob sich die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Lernen in verschiedenen sozialen Hintergrundgruppen, Altersgruppen, Jungen und Mädchen, Lernbereichen oder –fächern und nationalen Kontexten unterscheiden“.[2]

Die Pandemie der Coronavirus-Krankheit hat zu einer der größten Unterbrechungen des Lernens in der Geschichte geführt. Dies ist zu einem großen Teil auf Schulschließungen zurückzuführen, von denen schätzungsweise „95 % der weltweiten Schülerschaft“[3] betroffen waren.

Auswirkungen

Die Metaanalyse legt nahe, dass sich der Lernfortschritt während der COVID-19-Pandemie erheblich verlangsamt hat und dass die Schüler etwa „35 % des Lernwertes eines normalen Schuljahres“[4] verloren haben. Diese Defizite blieben über den untersuchten Zeitraum von etwa 2,5 Jahren konstant.

Die Forschergruppe verwendet den Begriff „Lerndefizit“, um sowohl eine Verzögerung des erwarteten Lernfortschritts als auch den Verlust bereits erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse zu umfassen. Das in der Pandemie entstandene Lerndefizit wird wahrscheinlich die Lebenschancen von Kindern durch ihre Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten beeinträchtigen. Auf gesellschaftlicher Ebene kann sie wichtige Auswirkungen auf Wachstum, Wohlstand und sozialen Zusammenhalt haben.

Die Auswirkungen des eingeschränkten Präsenzunterrichts, so das Forscherteam, wurden durch die Folgen der Pandemie für das außerschulische Lernumfeld von Kindern sowie ihre geistige und körperliche Gesundheit verstärkt. Lockdowns haben die Bewegungsfreiheit von Kindern und ihre Fähigkeit, zu spielen, andere Kinder zu treffen und sich an außerschulischen Aktivitäten zu beteiligen, eingeschränkt. Das Wohlergehen der Kinder und die familiären Beziehungen haben auch unter wirtschaftlichen Unsicherheiten und widersprüchlichen Anforderungen an Arbeit, Betreuung und Lernen gelitten. Es ist zu erwarten, dass diese negativen Folgen in schwachen sozioökonomischen Familienverhältnissen am ausgeprägtesten sind und bereits bestehende Bildungsungleichheiten verschärfen.

Die meisten Studien, die das Team untersuchten, stellen fest, dass die Lerndefizite bei Kindern aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen am größten waren. Dies gilt über verschiedene Zeitpunkte während der Pandemie, Länder, Klassenstufen und Lernfächer hinweg und unabhängig davon, wie der sozioökonomische Hintergrund gemessen wird. Es deutet darauf hin, dass die Pandemie Bildungsungleichheiten zwischen Kindern mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund verschärft hat.

Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, bestätigt die Ergebnisse der Metaanalyse: „Je geringer also das Leistungsniveau der Lernenden ist, je jünger die Lernenden sind und je bildungsferner das Milieu der Lernenden sich zeigt, desto negativer sind die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Bildungsprozesse.“[5]

Er wird zu den geschilderten Auswirkungen noch deutlicher und führt zur „Demokratiefähigkeit“ der Gesellschaft weiter aus: „Ein geringes Bildungsniveau in Kombination mit einer vergrößerten Bildungsschere ist der Nährboden für demokratiedestabilisierende Entwicklungen.“[6]

Die Forschergruppe macht darauf aufmerksam, dass weitere Nachweise erforderlich sind, um die Wirksamkeit der verschiedenen bisherigen Interventionen zur Begrenzung oder Behebung von Lerndefiziten, bewerten zu können.

Was also tun?

Zierer schreibt in seinem Beitrag weiter: „Weder die Digitalisierung ist der Heilsbringer in der Krise noch das Schließen von Schulen. Zu sehr greift beides in die Grundeinsicht ein: Bildung ist ein sozialer Prozess. Der Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt und er braucht ihn analog“[7] […]. Er fasst zusammen: „Das Miteinander und das Gemeinschaftliche sind sinnstiftend und die Grundlage für Bildungsprozesse.“[8]

Ralf Lankau, Professor für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie an der HS Offenburg, ergänzt und formuliert zu den Auswirkungen der eklatanten Lernrückständen eine These: „Wenn die Bereitschaft bestünde, ergebnisoffen über die Auswirkungen und Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu sprechen, wäre die erste Konsequenz die Forderung nach einer pädagogischen Wende. Statt Ausrichtung der Schulen an den Forderungen der IT-Wirtschaft und den Parametern der empirischen Bildungsforschung muss wieder das Individuum und seine persönliche Entwicklung in Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen: Persönlichkeitsentwicklung statt Leistungsvermessung.“[9]

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Im Januar 2023 erschien das Buch mit dem Titel: „Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie“, Ralf Lankau (Hrsg.). Die zusammengestellten Beiträge von 16 Vertretern aus Wissenschaft, Schulpraxis und Kinderheilkunde ergeben ein faktenbasiertes und praxistaugliches Fundament für die Frage, was die zentralen Parameter für Schule und gelingenden Unterricht sind.


[1] A systematic review and meta-analysis of the evidence on learning during the COVID-19 pandemic, Betthäuser, B. A., Bach-Mortensen, A. M. & Engzell, P. Nature Hum. Behav., https://doi.org/10.1038/s41562-022-01506-4
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Zierer, Klaus (2023): Die pädagogische Klimakrise bewältigen. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 225
[6] ebd. S. 225
[7] ebd. S. 225f 
[8] ebd. S. 226
[9] Lankau, Ralf (2023): Lehren aus der Pandemie – Pädagogische Alternativen zur Digitalisierung als De-Humanisierung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 209