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Digitales Geräteturnen in der Schule

„Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen“

Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein

Der Ruf nach der Digitalisierung der Schulen ist so laut, so schrill, so penetrant geworden, dass es an der Zeit ist für eine Pause.

Man möchte sie vom Desktop wischen – all die PDFs des Bundesbildungsministeriums, die Zwischenberichte von Arbeitsgruppen, die Expertisen aus IT und Wirtschaft, die humorigen FDP-Wahlplakate mit der Zeile „Digital first. Bedenken second“. Man möchte stattdessen die Frage beantwortet wissen: Von welcher Digitalisierung ist eigentlich die Rede, wenn es um die Schulen geht?

Mit Schwung gehören auch die Studien vom Tisch gewischt, die deutsche Schulen zu Orten der digitalen Ödnis erklären. Diese Studien schüren die Angst, heutige Schüler könnten den Anschluss an eine immer automatisiertere Arbeits- und Kommunikationswelt verlieren. Hallo, die Schüler sind schon jetzt „digitaler“, als gegenwärtige Eltern und Lehrer es jemals sein werden. Natürlich brauchen sie die Hilfe der Schule, um mündige Mediennutzer zu werden und die Chancen des Digitalen von seinen Gefahren unterscheiden zu können; auch vielen Erwachsenen täte Nachhilfe hier gut. Aber brauchen sie dafür Unterricht an digitalen Geräten? Wenn ja, welchen? In welchem Alter, in welchen Schularten und Fächern? Wie oft, wie lange? Mit welchen Inhalten? Vor allem: Mit welchem pädagogischen Nutzen?

Das Bildungsbarometer 2017 des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik verriet, was erwachsene Bürger von Computern in Schulen halten. 63 Prozent der Befragten finden demnach, dass Schüler ein Drittel der Unterrichtszeit für das selbständige Erarbeiten [des Unterrichtsstoffes] am PC nutzen sollten [siehe Grafik und Text unterhalb der Grafik]. Man nehme das wörtlich: Ein Drittel der Unterrichtszeit sind 25 Augenpaare auf 25 Monitore gerichtet, um mit einer Maschine zu lernen, was man im Leben so braucht. Fragt sich, wozu eine solche Studie gut ist [siehe Anmerkung am Ende des Artikels]. Vielleicht dafür, zu zeigen, dass die Diskussion dringend differenzierter geführt werden muss. Dass es absurd ist, die Schulen für Milliarden zu digitalisieren und die Schüler dann vor die Geräte zu setzen, ohne sich ganz genau zu überlegen, was ihnen das bringt.

Aus dem Bildungsbarometer 2017, S. 21:

Andreas Schleicher, als Pisa-Chef der OECD, sagt: Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führe nicht per se zu besseren Schülerleistungen, das hätten Beobachtungen über ein Jahrzehnt gezeigt. Und die Schülertests Iglu und Timss belegen, dass Grundschüler, die mindestens einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzen, in einigen Fächern niedrigere Kompetenzen zeigen als Grundschulkinder, die seltener vorm PC sitzen.

Gegenbeweise konnte die Forschung bislang nicht liefern, aber das stört die Studienmacher nicht. Diesen Freitag präsentierte die Bertelsmann-Stiftung unverdrossen ihren „Monitor Digitale Bildung“, in dem sie beklagt, die Schule verkenne pädagogische Potenziale der Digitalisierung, hätte weder Strategien noch Konzepte – und schlechtes Wlan sowieso. [Das] klingt so, als müssten Pädagogen ihre Pädagogik von den Geräten her denken. Als sollten sie die pädagogischen Potenziale einer Technik anerkennen (und Konzepte dafür entwickeln), obwohl diese Potenziale bislang nur behauptet sind. Worin sie bestehen, weiß auch Bertelsmann nicht.

Im Tagesspiegel vom 15.09.2017 berichtet Amory Burchard aus der Studie: Bessere Technik erhoffen sich die meisten Lehrkräfte und Schulleitungen aber nicht etwa für den Einsatz im Unterricht. 81 Prozent der Lehrkräfte beziehungsweise 88 Prozent der Schulleiter sehen die Chancen des digitalen Wandels vor allem darin, „administrative Aufgaben besser bewältigen zu können“, heißt es. Und nur acht Prozent der Direktorinnen und Direktoren setzen sich Digitalisierung als strategisches Ziel für die Entwicklung ihrer Schule. Gleichwohl sind etwa 70 Prozent der Pädagogen davon überzeugt, dass digitale Medien die Attraktivität ihrer Schule steigern werden.

Auch an den Haltungen und Kompetenzen der Lehrkräfte müsse noch gearbeitet werden, resümiert die Bertelsmann-Stiftung. Deshalb sollte der Einsatz digitaler Medien zum Pflichtprogramm im Lehramtsstudium und in der Weiterbildung gehören, erklärte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Mit dem „Monitor digitale Bildung“ sondiert die Stiftung auch ein wichtiges Geschäftsfeld des Bertelsmann-Konzerns. Die 2016 gegründete „Bertelsmann Education Group“ etwa hat zahlreiche Bildungsanbieter hinzugekauft, vor allem solche, die auf digitale Bildung spezialisiert sind.  [siehe nachfolgender Beitrag:  Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung – Perfektes Zusammenspiel]

Es ist Zeit, dem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Damit die Schulen nicht zur nächsten Reform verdonnert werden, die eine kurzsichtige Politik irgendwann zurücknehmen muss.

Hervorhebungen im Fettdruck und eingerückte Elemente durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel:  Süddeutsche Zeitung, 15.09.2017, Susanne Klein, Digitales Geräteturnen in der Schule

siehe auch:  „Digitale Bildung“: Big Brother ist teaching you!
Trojanisches Pferd „Digitale Bildung“. Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer?

Das Steuerungselement – Schaffung eines öffentlichen Meinungsklimas:

[Beim ifo Bildungsbarometer] wird nicht untersucht, wie Bildungspolitik bestmöglich gestaltet werden sollte, um das Bildungssystem zu verbessern. Vielmehr geht es darum aufzuzeigen, welche Meinungen die Deutschen haben und in welchen Bereichen und unter welchen Umständen sich politische Mehrheiten für oder gegen Bildungsreformen finden. (S. 17)

Die Ergebnisse zeigen also Bereiche auf, in denen politische Reformen auf öffentliche Akzeptanz treffen und somit leichter umsetzbar sein dürften. (S. 18)

Insgesamt zeigt das ifo Bildungsbarometer deutlich, dass die Bereitstellung bestimmter Informationen bildungspolitische Meinungen verändern kann. (S. 37)

aus ifo Bildungsbarometer 2017:
https://www.cesifogroup.de/de/ifoHome/research/Departments/Human-Capital-and Innovation/Bildungsbarometer/Bildungsbarometer2017.html
ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München

Ist das Gymnasium noch zu retten?

„Jeder Einzelne kann sich der schleichenden Bildungsverflachung entgegenstemmen“

Wer als Lehrer nur über die da oben schimpft, die das Gymnasium durch sinkende Anforderungen zu Fall bringen, macht es sich zu leicht. Es ist jetzt Stehvermögen gefragt.

Michael Felten

Im Wettkampf der Schulsysteme hat das Gymnasium zwar gesiegt, aber sieht man genauer hin, ist es ein Pyrrhus-Sieg. Dass etwa in Nordrhein-Westfalen mittlerweile mehr als jeder zweite Schüler die ehemals „Höhere Schule“ besucht, müsste kein Manko sein, wenn es sich denn um junge Menschen handelte, die an niveauvollem Fachunterricht interessiert und für solche Ansprüche geeignet sind. Aber schon in den Eingangsklassen fällt auf, ein erheblicher Teil der Fünftklässler liest nur stockend, schreibt fehlerhaft und beherrscht schriftliche Rechenverfahren nur unsicher. Und bei der ersten Klassenarbeit maulen manche Schüler, dazu hätten sie heute keine Lust. Die individualisierende Grundschule, der die Befindlichkeit des Einzelnen mehr gilt als eine systematisierende Lernanforderung, hat deutliche Spuren hinterlassen. Manchen Kindern fehlt schlichtweg Unterrichtsreife.

Aber über ihre Gymnasialzulassung haben ja auch keine professionellen Kriterien entschieden wie Lehrerurteile oder Tests, sondern befangene beste Freunde, nämlich die um Zukunftschancen bangenden Eltern. Vielleicht schaffen diese Kinder dann die Erprobungsstufe noch mit Ach und Krach, aber schon kommt die Pubertät hinzu mit ihrer ohnehin labileren Lernlust. Die Gymnasien an Rhein und Ruhr indes müssen heute auch Ungeeignete bis zur bitteren Neige (mittlere Reife) mitschleifen – durch hochsensible Entwicklungsjahre, als letztes Rad am Wagen. […]

Und was kommt dabei raus? Angesichts der immensen Studienabbrecherraten kann von breiter Befähigung zu allgemeiner Hochschulreife beim besten Willen keine Rede mehr sein. Auch scheint Bestenförderung nicht recht zu gelingen, sonst wäre die Gruppe von Deutschlands Spitzenschülern ausweislich der Pisa-Studien nicht so klein. Bei solcher Bildungsexpansion auf niedrigem Niveau geht aber Kostbares verloren. […]

[Zur] Kindeswohlorientierung und Bildungsexpansion gesellte sich seit den siebziger Jahren ein egalitärer und antipädagogisch gesinnter Zeitgeist. Zunächst geriet das gegliederte Schulsystem als Selektionsinstrument unter Beschuss, Lehrer wurden als „Anpassungsagenten des bürgerlichen Systems“ verächtlich gemacht, Noten und Versetzungsordnungen als „Klassenschranken“ verdammt. Zwar musste die SPD in Nordrhein-Westfalen beim Volksbegehren gegen die „kooperative Schule“ schmerzlich realisieren, dass sich das Gymnasium nicht abschaffen ließ. Gleichwohl hat die Parteispitze nicht davon abgelassen, diese Schulform schleichend aufzuweichen, sie von innen her zu dekonstruieren und zur Quasi-Gesamtschule zu machen. Statt den Schulen viel mehr personelle Ressourcen und pädagogische Expertise bereitzustellen, wurden Stoffpläne ausgedünnt und Anforderungsniveaus gesenkt, später die Lehrer zu Lernbegleitern degradiert und dafür eigenverantwortliches Lernen propagiert.

Diesen „Gang der Dinge“ nur zu beklagen wäre indes ein wenig scheinheilig. Denn haben nicht allzu große Teile des Bildungspersonals an diesem Niedergang nach Kräften mitgewirkt? Und was ist mit dem Schulleiter, der auch offensichtlich ungeeignete Fünftklässler aufnahm – um sein Kollegium nicht abbauen, sich nicht in Widerspruch zur Schulaufsicht setzen, seine Parteiräson nicht konterkarieren zu müssen? Und dann ist da der Lehrer, der in seinen Klassenarbeiten immer geringere Ansprüche stellte, seine Noten immer öfter liftete – um überforderte, aber fleißige Schüler nicht zu kränken, um es sich mit der Klasse nicht zu verderben, um seine Quote an Fünfen nicht vor dem Direktor begründen zu müssen, um sich die Mühen eines ausführlichen „Lern- und Förderplans“ zu ersparen? Es ist eine Art Bermuda-Dreieck – aus administrativen Vorgaben, pädagogischen Illusionen und beruflicher Bequemlichkeit. […]

Mir scheint, die Lehrerschaft ist keineswegs machtlos, ist „denen da oben“ nicht einfach ausgeliefert. Jeder Einzelne kann sich der schleichenden Bildungsverflachung entgegenstemmen, kann dieser angeblich „gesellschaftlichen Entwicklung“ Sand ins Getriebe streuen. Das sollte doch zumindest für Verbeamtete nicht allzu riskant sein. Und überhaupt: Haben die Schüler nicht ein Recht auf Niveau- und Urteilsehrlichkeit? Man mag einwenden, das sei doch nichts als Sisyphos-Arbeit. Nun, der Einzelne ist zwar nur ein Glühwürmchen, aber in der Masse könnte es doch ganz schön hell werden. Stell dir vor, alle sagen zu mangelhaften Leistungen nicht mehr „drei“ oder „vier“!

Ehrlichkeit im pädagogischen Alltagshandeln ist natürlich nicht alles – man muss auch Forderungen nach oben stellen. Dringend muss der Zugang zum Gymnasium neu reguliert werden. Machen wir uns frei vom gefühlten Druck der hohen Abiturraten anderer Länder! Daraus lassen sich keinerlei seriöse wirtschaftliche Schlüsse ziehen, erst recht keine pädagogischen. Die Schweiz kommt bestens damit zurecht, dass nur jedes fünfte Kind die höhere Schule besucht (auch laut Kognitionspsychologin Elsbeth Stern eine sinnvolle Quote), folglich ist dort eine berufliche Ausbildung auch kein Makel. […]

Für die aber, die in den gymnasialen Bildungsgang aufgenommen wurden, muss wieder die Parole gelten: Ohne Fleiß kein Preis. In Nordrhein-Westfalen – einem der Pisa-Schlusslichter – hatte die rot-grüne Landesregierung den Ganztagsgymnasien 2015 untersagt, Hausaufgaben aufzugeben – auch nicht an Kurztagen, wenn der Unterricht schon mittags endet! Stattdessen könnten die Schüler in fiktiven „Lernzeiten“ innerhalb des Unterrichts üben. Wer nüchtern nachrechnete, entdeckte Skandalöses. Pro Woche verbrachten Ganztagsgymnasiasten seitdem bis zu 5,5 Stunden weniger mit Lernen als zu Zeiten des alten neunjährigen Gymnasiums halbtags. Den leistungsstarken Schülern schadete das mal wieder weniger als den Schwachen – die mittlerweile schon übliche Logik des Misslingens liberaler Bildungsreformen. Genau das Gegenteil war beim Schulexperiment von Malmö so erfolgreich: dass Lehrer viel von ihren Schülern verlangten – und diese breit unterstützten. […]

zum Artikel:  FAZ, 07. 09. 2017, BILDUNGSWELTEN, Michael Felten, Ist das Gymnasium noch zu retten?

Der Autor hat 35 Jahre an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er ist als freier Schulentwicklungsberater und Buchautor tätig (siehe Bücherliste und Seitenleiste).

„Lieblingsprojekt Gemeinschaftsschule“

Integrationskonzept Gemeinschaftsschule – erfolglos

WitschaftsWoche, Bildungspolitik, 31.08.2017, Ferdinand Knauß

Martin Schulz entdeckt Bildung als Thema für seinen Gerechtigkeitswahlkampf. Dabei haben gerade SPD-geführte Bundesländer, Berlin voran, bei der Schulpolitik zuletzt alles andere als überzeugt. […]

Vor allem das von Schulz und dem Berliner regierenden Bürgermeister Michael Müller ausdrücklich mit der „Nationalen Bildungsallianz“ verknüpfte Ziel, für Chancengleichheit und Integration zu sorgen, wird von den Ergebnissen der lange Zeit SPD-regierten Bundesländer besonders deutlich verfehlt. Denn laut Bildungsmonitor belegen Bremen, Berlin und Hamburg, aber auch Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen hier Schlussplätze. 21,9 Prozent der ausländischen Schulabgänger in der Hauptstadt haben keinen Schulabschluss – und damit kaum Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. […] Kurz gesagt: Ausgerechnet in den Hochburgen der Gerechtigkeitspartei SPD sind der Lernerfolg und damit die späteren beruflichen Aussichten besonders stark von der Herkunft abhängig.

Ein Lieblingsprojekt sozialdemokratischer Bildungspolitik ist die Gemeinschaftsschule. Erwartet wird von ihr nämlich genau das, was sich Martin Schulz und die SPD als Ziel auf die Wahlkampffahnen geschrieben haben: Mehr Gerechtigkeit. „Sie hat“, so heißt es beim Berliner Senat, „das Ziel, mehr Chancengleichheit und -gerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen und eine optimale Förderung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Schülerinnen und Schüler zu schaffen“.

Im Rahmen einer Gemeinschaftsschule sollen die verschiedenen Schularten flexibler als in Gesamtschulen miteinander kombiniert werden bis hin zur vollständigen Zusammenführung. Die einzelnen Schulen sollen sich – abgestimmt auf die jeweilige lokale Situation – selbstbestimmt verändern können. Es gibt keine nach Leistungsniveaus bestimmten festen A-, B- oder C-Kurse. Im gemeinsamen und „offenen“ Unterricht – in „Lerngemeinschaften“ – soll die Heterogenität der Schüler zum Vorteil werden.

Durch Unterstützung „individueller Lernwege“  und „selbstständigen Lernens“ der Schüler sollen maximale „Lernzuwächse“ erreicht und die „Trennung von Lernerfolg und sozialer Herkunft“ überwunden werden, wie es auf der Website des Senats heißt. Neben der Integration von Migrantenkindern soll das nicht zuletzt auch die Inklusion Benachteiligter erleichtern.

Klingt alles sehr gut – vor allem im Rahmen eines Gerechtigkeitswahlkampfes. Aber erfüllen die Gemeinschaftsschulen – in Berlin gibt es seit 2008 mittlerweile 25 – auch die sozialdemokratischen Hoffnungen?

Die Berliner Senatsverwaltung gibt sich zufrieden: „Die Ergebnisse zeigen, dass die Entwicklung der Gemeinschaftsschulen hin zu einer Schule für alle Schülerinnen und Schüler von Fortschritten und der Verfestigung des Erreichten gekennzeichnet ist“, fasst sie den in ihrem Auftrag erstellten „Abschlussbericht“ der „Wissenschaftlichen Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule“ zusammen.

Der „Arbeitskreis Gute Schule Berlin“, ein Zusammenschluss von Lehrern und Eltern, kommt zu einem anderen Ergebnis: Die mit hohen Investitionen (bis 2012 bereits 22 Mio. Euro) und großem Engagement der Lehrkräfte eingeführte Gemeinschaftsschule und ihre Konzeption zeitigen die von der Schulsenatorin vorgegebenen Erfolge nicht.“

Denn was die Senatsverwaltung nicht erwähnt, sind die im Abschlussbericht genannten ernüchternden Aussagen von Lehrern der Berliner Gemeinschaftsschulen: Mehr als die Hälfte von ihnen bewerten den Unterricht in heterogen zusammengesetzten Klassen mit Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – in Bezug auf Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Hören, Sehen, geistige oder körperliche Behinderung – als Unterrichtsbeeinträchtigung. Fast zwei Drittel nennen „Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten“ als weitere Beeinträchtigung im Unterricht.

Nach Befragung von zwei Lehrerteams heißt es im Bericht: „Die Schülerinnen und Schüler liegen nach Aussagen der Lehrkräfte sowohl hinsichtlich ihres fachlichen Kenntnisstandes als auch ihrer methodischen und motivationalen Voraussetzungen weit hinter den Anforderungen. Es ist die Rede von enormen Wissenslücken, sprachliche Fähigkeiten und grundlegendes Abstraktionsvermögen seien kaum ausgeprägt.“ In einigen Interviews sei, so der Bericht, deutlich geworden, „dass die Lehrkräfte den Eindruck haben, das schulische Konzept [der Gemeinschaftsschule] habe Vorrang vor dem, was aus ihrer fachlichen Einschätzung die Schülerinnen und Schüler können und brauchen.

zum Artikel:  http://www.wiwo.de/politik/deutschland/gemeinschaftsschule-und-co-schulz-und-das-scheitern-der-spd-bildungspolitik/20258110-all.html

zur Analyse des „Arbeitskreises Gute Schule Berlin“ zur „Berliner Gemeinschaftsschule – Des Kaisers neue Kleider?“ Zum Abschlussbericht der Pilotphase der Berliner Gemeinschaftsschulen.

Der „Arbeitskreis Gute Schule Berlin“ ist eine Gruppe von Lehrerinnen, Lehrern und Eltern. Die Lehrkräfte sind an allgemeinbildenden Schulen im Primar- und Sekundarbereich sowie an berufs­bildenden Schulen tätig. Über ihre praktische Unterrichtstätigkeit hinaus sind sie, wie viele andere Lehrkräfte auch, an pädagogischen, didaktischen und bildungspolitischen Fragen interessiert. Im stän­digen Austausch miteinander entschlossen sie sich, Beobachtungen und Entwicklungen im Berliner Schulwesen über das Erleben und Wahrnehmen hinaus zu analysieren, zu kommentieren und darüber zu informieren. Ihr Wunsch ist, eine breite Diskussion für alle daran Interessierten anzustoßen.

email-Adresse:  gute-schule-berlin@online.de


Aus der McDonald´s Ausbildungsstudie 2017, Institut für Demoskopie Allensbach (IfD):

Ein wichtiges Thema der Bildungspolitik ist die Grundstruktur des Schulsystems. In der jungen Generation gibt es einen breiten Rückhalt für das mehrgliedrige Schulsystem: 63 Prozent der unter 25-Jährigen favorisieren nach der Grundschulzeit ein mehrgliedriges Schulsystem mit der Beibehaltung des klassischen Gymnasiums und einer Mischform aus Haupt- und Realschule [Integrierte Sekundarschule (ISS), Gesamtschule, Stadtteilschule, u.a.].

Lediglich 23 Prozent der unter 25-Jährigen sprechen sich für die Gemeinschaftsschule aus, die alle Schüler besuchen und in der sie unabhängig von ihrem Leistungsniveau gemeinsam unterrichtet werden. Die Befürworter der Gemeinschaftsschule rekrutieren sich überdurchschnittlich aus jungen Erwachsenen mit einfachem Schulabschluss. (S. 40)

zur Studie:  https://karriere.mcdonalds.de/docroot/jobboerse-mcd-career-blossom/assets/documents/McD_Ausbildungsstudie_2017.pdf

Kein Jugendschutz auf dem Pausenhof

Smartphonenutzung an Schulen zwischen Privatsphäre und Jugendschutz

von Antje Pommerening, Lehrerin am Helmholtz-Gymnasium Karlsruhe

Fast alle Bundesländer überlassen es den einzelnen Schulen, wie sie die Smartphone-Nutzung an Schulen regeln. Einzig Bayern zeigt eine klare Linie: dort müssen Smartphones auf dem Schulgelände ausgeschaltet sein, in Ausnahmefällen kann der Lehrer z.B. zur Information der Eltern die Nutzung erlauben.

In Baden-Württemberg beispielsweise muss jede Schule selber die Smartphone-Nutzung regeln. Manche Schulen erlassen strenge Regeln, die die Nutzung verbieten oder einschränken, andere Schulen geben die Handynutzung in den Pausen komplett frei. In diesem Fall können Schüler in den Pausen nach Belieben ihren Handy-Spielen frönen, Nachrichten verschicken oder einander Video-Clips jeglichen Inhalts zeigen. Eine typische Beschäftigung von Sechstklässlern in den Pausen sieht dann so aus, dass einer das Handy in der Hand hält und vier weitere wie von Zauberhand festgenagelt mit gebeugtem Nacken verfolgen, was ihr Freund spielt. Der pädagogische Unwert einer solchen Pausenbeschäftigung liegt auf der Hand.

Neben harmlosen Spielen ermöglicht die freie Handyregelung aber auch, dass die Schüler einander Inhalte zeigen können, vor denen sie das Bundesjugendschutzgesetz schützen soll. Dieses verbietet es, Minderjährigen beispielsweise Bilder von sterbenden Menschen, Terrorpropaganda oder Pornographisches zu zeigen. All dies ist im Internet frei verfügbar, auf dem Pausenhof kann es gezeigt werden, während der Aufsicht führende Lehrer daneben steht.

Da das Smartphone zum Privatbereich des Schülers zählt, darf der Lehrer keinen Blick darauf werfen oder gar Inhalte abrufen. Ebenso wenig dürfte er ja einem Schüler über die Schulter schauen, wenn dieser in seinem Tagebuch liest. Der Schutz der Privatsphäre ist in unserer Rechtsordnung zu Recht ein sehr hohes Gut und verständlich. Nicht verständlich und absolut inakzeptabel ist es jedoch, wenn die Aufsicht führende Lehrkraft es daher bei freier Handynutzung hinnehmen muss, dass die Schüler einander jugendgefährdende Inhalte zeigen können. Nur wenn andere Schüler davon erzählen würden, dürfte der Lehrer einschreiten und das Handy einkassieren. Dann könnte die Polizei gerufen werden, die wiederum nur mit einem richterlichen Durchsuchungsbefehl autorisiert wäre, die Inhalte anzuschauen.

Der Jugendschutz, der im Internet kaum mehr existiert, ist auf dem Pausenhof der Schulen, die eine freie Handynutzung erlauben, im Ergebnis aufgehoben. Uns Lehrern sind die Kinder zwar anvertraut, wir haben aber keinerlei Möglichkeit, sie vor jugendgefährdenden Inhalten zu schützen.

Es ist, als hätten wir an der Schule einen Raum eingerichtet, den nur Schüler betreten dürfen, vor dessen Eingang ein Lehrer steht und sieht, dass die Schüler ihn gerne betreten und viele ihn glücklich verlassen, einige jedoch verstört herauskommen, ohne dass der Lehrer den Kopf in den Raum stecken könnte, um mal nach dem Rechten zu schauen. Niemand würde einen solchen aufsichtsfreien Raum in einer Schule dulden. Sobald es sich aber um einen virtuellen Raum handelt, werden alle Bedenken beiseitegeschoben.

Wer löscht die Bilder im Kopf?

Die Schule ist ein Schutzraum. Sowohl medienverwahrloste Kinder, die außerhalb der Schule alles sehen können, als auch behütete Kinder, die nur begrenzt Zugang zum Internet haben, dürfen nicht Gefahr laufen, dass sie auf dem Schulhof Video-Clips sehen von überfahrenen, sterbenden Tieren, von Hinrichtungen oder Terrorpropaganda. Es gibt keine Lösch-Taste für solche Bilder in der kindlichen Seele, sie brennen sich ein und die Kinder können sie sich nicht von der Seele kratzen. Ein blaues Auge sehen die Eltern und fragen nach. Seelische Gewalt hinterlässt keine äußeren Spuren. Schule sollte ein Ort sein, der auch die seelische Unversehrtheit der Kinder im Blick hat. Wir Lehrer sind dafür verantwortlich, solange die Kinder in unserer Obhut sind. Bei freier Handynutzung haben wir Lehrer keine Möglichkeit, unserer Verantwortung den Schülern gegenüber gerecht zu werden. Die Eltern geben ihre Kinder voller Vertrauen in die Obhut der Schule. Diese müsste präventiv alles in ihrer Macht Stehende tun, die Kinder vor körperlichen und ebenso vor seelischen Verletzungen zu schützen.

Bei Diskussionen über ein Handynutzungsverbot darf das Zauberwort „Medienkompetenz“ nicht fehlen. Medienkompetenz ist wichtig, aber kein Allheilmittel. Wenn Schüler einander Gewaltvideos oder Terrorpropaganda zeigen, so liegt das nicht an fehlender Medienkompetenz.

Das Kultusministeriums entzieht sich der Verantwortung

Nach langer Korrespondenz mit der Schulverwaltung, ob das Bundesjugendschutzgesetz überhaupt gelte an der Schule und wer die Verantwortung dafür trage, wurde mir vom baden-württembergischen Kultusministerium kryptisch geantwortet, das Jugendschutzgesetz gelte zwar, komme aber in den von mir „beschriebenen Fällen allerdings nicht unmittelbar zur Anwendung“, ferner hieß es, die Lehrkraft solle von einem verantwortungsvollen Gebrauch der Smartphones ausgehen, sofern sie nichts Gegenteiliges erführe.

Eine solche Haltung zeigt, dass man sich von Seiten des Kultusministeriums der Verantwortung nicht stellen will, sondern durch aktives Wegschauen das Problem klein halten möchte. Jegliche Schutzmaßnahmen in allen anderen schulischen Bereichen müssen präventiv sein. Wenn man eine Gefahr sieht, muss man sich im Vorfeld um ihre Vermeidung kümmern und kann nicht erst dann einschreiten, wenn die Gefahr sich verwirklicht hat. Ein Sportlehrer muss für Schwimmhilfen sorgen, bevor ein Nichtschwimmer ins Becken gefallen ist. Bei der Verhinderung seelischer Verletzungen scheint der Präventionsgedanke den Schulverwaltungen, die eine freie Handynutzung zulassen, fremd zu sein.

Jugendgefährdende Inhalte haben auf dem Pausenhof nichts zu suchen. Da die Privatsphäre des Schülers zu Recht dem Lehrer jeden Zugriff auf die Inhalte eines Schülerhandys verwehrt, ist die einzige Lösung ein Handynutzungsverbot in den Pausen. Wann endlich wird das Bundesjugendschutzgesetz auf den Pausenhöfen bundesweit durchgesetzt und nicht nur in Bayern?

Veröffentlichung des Beitrags auf www. Schulforum-Berlin.de mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin.

siehe auch:  „Fragen zur Medienkompetenz unserer Jugend“, Interview mit Uwe Buermann, Berlin

In Berlin lässt das Schulgesetz ein Handyverbot an Schulen ausdrücklich zu. Allerdings gibt es keine allgemeine Regel, die für das ganze Bundesland gilt. Wenn ein Schüler bzw. eine Schülerin den Unterricht stört und somit die Lehrkraft Ihren Bildungsauftrag nicht erfüllen kann, ist es laut Schulgesetz erlaubt, den Schülern Gegenstände und somit auch Smartphones wegzunehmen.

„Entqualifizierung des Lehrerberufs auf hohem Niveau“

„Berliner Pädagogenmangel“ oder „Das letzte Aufgebot“

Jetzt lernen Nachwuchslehrer bei Anfängern

TSP, 17.07.2017, Susanne Vieth-Entus
Eine neue Facette des Lehrermangels in Berlin: Die ersten Seminare für Referendare werden jetzt von Berufseinsteigern geleitet. „In wenigen Ausnahmefällen wurden auch Lehrkräfte [als Fachseminarleiter] beauftragt, die aufgrund ihrer fachlichen Eignung weniger als zwei Jahre im Schuldienst tätig sind“, erläuterte Beate Stoffers, die Sprecherin von Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD). Dies betreffe allerdings nur etwa zehn von derzeit über 700 Fachseminarleitungen.

Eine solide Ausbildung fehlt

Schulen und Pädagogen sind über diese abermalige Absenkung der Ansprüche entsetzt. Denn die besagten Seminare sind eigentlich dazu da, bei den frischen Absolventen des Lehramtsstudiums die große Lücke zwischen Studium und Schulpraxis zu schließen. Zudem sitzen dort hunderte von beruflichen Quereinsteigern, die von Pädagogik, Lernprozessen und Didaktik noch nie etwas gehört haben. Die Folge ist, dass sich in den Seminaren immer mehr Teilnehmer einfinden, die von Schule und Unterricht nur wenig Ahnung haben. (…)

Bei den Neueinstellungen hatte jeder dritte Lehrer im Grundschulbereich kein Lehrerexamen[!].

Der Lehrer und Fachseminarleiter für Geschichte, Robert Rauh, zur Herabsetzung der bisherigen Berufspraxis von Fachseminarleitern: „Wenn diese Voraussetzung [mindestens fünf Jahre Berufspraxis] aufgrund von Personalnot Makulatur wird, dann setzt sich die seit Jahren um sich greifende Entqualifizierung des Lehrerberufes in Berlin fort – jetzt nur auf höherem Niveau. (…)

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

zum Artikel: TSP, 17.07.2017, Susanne Vieth-Entus, Das letzte Aufgebot – Jetzt lernen Nachwuchslehrer bei Anfängern

„Inklusion stellt die Systemfrage!“

Wie man sich von aller schulpolitischen Vernunft verabschieden kann

Von der Realität der Inklusion: Michael Felten zieht in seinem Buch eine schonungslose Bilanz des gemeinsamen Unterrichts an deutschen Schulen.

FAZ, 15. JULI 2017, von Heike Schmoll
LITERATUR UND SACHBUCH

[Das Buch, „Die Inklusionsfalle“,] ist eine schonungslose Abrechnung mit der Praxis des gemeinsamen Unterrichts. Felten, seit fünfunddreißig Jahren Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst und zugleich Lehrbeauftragter in der Lehrerbildung, dürfte dabei vielen seiner Kollegen aus der Seele sprechen. Denn sie sehen täglich, wie weit der Schulalltag mit seinen Aporien des gemeinsamen Unterrichts von den Wohlfühlparolen der ministeriellen Hochglanzbroschüren entfernt ist und das gesamte Bildungssystem „langfristig in eine grandiose Schieflage zu geraten“ droht.

Felten hat die Entwicklung der Inklusion in seinem Heimatland Nordrhein-Westfalen aus der Nähe beobachtet und gesehen, wie Inklusion mit der Brechstange durchgesetzt wird, Lehrer und Schulleiter gemaßregelt wurden, die auf Missstände hinwiesen; Grundschulkollegen, die, versehen mit Bisswunden ihrer Schüler, von der Parallelwelt ihres Schulalltags berichteten, von der niemand ahnt, der es nicht selbst erlebt hat.

Der Autor glaubt nach seinen umfangreichen Recherchen nicht mehr, dass es sich nur um Kinderkrankheiten eines noch nicht etablierten Systems, um Unterfinanzierung oder einen Mangel an geeigneten Lehrern handelt, sondern „um einen Systemfehler“, um „konzeptionelle Irrtümer, womöglich um ideologische Irreführung“. Warum das so ist, deckt Felten Schritt für Schritt in einem der stärksten Kapitel des Buches mit dem Titel „Blick hinter die Kulissen“ auf.

Dort zeigt er nicht nur, dass von einer Schließung der Förderschulen in der UN-Behindertenrechtskonvention nie die Rede war, sondern erinnert auch an die peinliche Abstimmung während einer Nachtsitzung des Deutschen Bundestags am 13.Dezember 2006, als nicht einmal fünfzig Abgeordnete im Saal waren, die das „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ nur noch übermüdet abnickten und Vorbehalte der Bundesregierung und der Kultusminister zu den notwendigen sachlichen und räumlichen Voraussetzungen zugunsten einer Verabsolutierung der Inklusion abtaten.

Bayern, das die schulpolitische Vernunft auch nicht für sich gepachtet hat, ließ sich von all dem nicht aus der Ruhe bringen und hielt konsequent an seinem Förderschulsystem fest. Dort steht das Wohl der Beteiligten an erster Stelle. Es gab allenfalls Lernen in einer sonderpädagogischen Partnerklasse an der Regelschule mit einem auf wenige Stunden beschränkten gemeinsamen Unterricht mit der Regelklasse. (…)

Nordrhein-Westfalen, dessen rot-grüne Landesregierung während der Abfassung des Buchmanuskripts noch im Amt war, berechnete kurzerhand die gebrauchten Förderlehrer nicht mehr anhand der Anzahl der Förderschüler, sondern nach der Schulgröße oder nach der Zügigkeit. Auf diese Weise wurden behinderte Kinder lange gar nicht gefördert, sondern nahmen als „U-Boote“ meist weniger erfolgreich am Regelunterricht teil. Während die FDP die Missstände laut und deutlich beim Namen nannte, schwieg die CDU im Düsseldorfer Landtag weitgehend und forderte erst Ende 2016 ein Moratorium für die Inklusion. Nun wird sie selbst dafür sorgen müssen, dass es auch dazu kommt.

Inzwischen hat die gescheiterte Inklusion zur Abwahl der rot-grünen nordrhein-westfälischen Landesregierung geführt, was Mecklenburg-Vorpommerns neue SPD-Kultusministerin nicht hinderte, kurz darauf beherzt die landesweite Schließung der Förderschulen zu verkünden und zu behaupten, es sei ganz gleichgültig, wo die Förderlehrer unterrichteten, ob an der Regelschule oder der Förderschule. Ihr von Felten zitierter Vorgänger Mathias Brodkorb (SPD), der angesichts der Inklusion von „Kommunismus für die Schule“ gesprochen hatte, war mit weniger Ignoranz geschlagen.

Eine weitere Mär, die Felten faktenreich entzaubert, ist die angeblich gelungene Inklusion in Südtirol, die behinderten Schülern zwar Kompetenzen bescheinigt, sie aber aus dem regulären Bewertungssystem ausklammert, was zur Folge hat, dass sie auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen haben und die wohlgemeinte Inklusion faktisch zur Exklusion wird. Hinzu kommt, dass den italienischen Schülern gern immer neue Diagnosen attestiert werden (ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Lernschwäche), damit den Schulen mehr Lehrer zugewiesen werden.

In seiner Bilanz meint Felten, dass Inklusion wohl noch am ehesten im Primarbereich gelingen könne, wenn die baulichen und technischen Voraussetzungen an der jeweiligen Schule gegeben seien. Jedoch hänge das Entwicklungswohl weniger vom Fördermodell ab als von der vorherrschenden Unterrichtsqualität, der Professionalität der Förderung und der Kollegialität an einer Schule. „Klasseneffekte sind stärker als Struktureffekte.“ Das ist auch in Studien belegt.

Über die Forschungsdefizite im Sekundarbereich indessen weiß man nichts. Trotzdem werden immer neue Inklusionsversuche gestartet, die eine ganze Schülergeneration in einen schulischen Großversuch mit ungewissem Ausgang schickt. Dabei müsste es schon nachdenklich stimmen, wenn sich etwa in einer österreichischen Längsschnittstudie zeigt, dass Förderschüler drei- bis viermal so häufig wie Regelschüler keine wechselseitigen Freundschaften schließen konnten, also trotz der inklusiven Beschulung so viel einsamer waren als an einer Förderschule.

Ein pädagogisch sinnvoll ausgebautes System schulischer Inklusion kostet allein in Deutschland viermal so viel wie das Förderschulsystem. Doch davon wollen die verantwortlichen Politiker lieber nichts hören, denn sie wissen, dass sie die nötigen Mittel niemals haben werden. Stattdessen wurde getrickst, um weitere Förderschulen zu schließen, etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die Mindestgrößen für die Aufrechterhaltung eines Standorts schlicht verdoppelt wurden, was den Eltern die Freiheit der Schulwahl nahm. Felten ist kein Inklusionsgegner, aber er wagt es auszusprechen, was viele seiner Kollegen täglich erleben.


mehr zum Buch: siehe Bücherliste


siehe auch:   Illusion Inklusion
Wieder sind die Schulen zum Schauplatz einer Ideologie geworden. Das Opfer: die Förderschulen.

Heike Schmoll schreibt in der FAZ vom 23.05.2017:
(…) Zwischen der politischen Propaganda der Länder und der Schulrealität klaffen Welten. Zwar schickt nahezu täglich ein Kultusministerium eine Erfolgsmeldung über neue Zahlen förderbedürftiger Schüler an Regelschulen. (…) Über die Qualität der Förderung ist damit aber noch nichts gesagt, ganz im Gegenteil. Zugleich wächst die Unzufriedenheit der Eltern behinderter Kinder über die Einschränkung des Elternwahlrechts. (…) Die Kultusministerien reden im Pädagogenjargon von zieldifferenter Förderung, mehreren Niveaustufen und meinen, das Dilemma lasse sich durch Aus- und Weiterbildung der Lehrer lösen. Aber das ist ein Trugschluss. Wie so oft delegieren sie die Verantwortung an die Lehrer. (…) Einer zunehmend heterogenen Schülerschaft steht deshalb eine immer stärker entprofessionalisierte Lehrerschaft gegenüber. Der pädagogische Großversuch der Inklusion, der auf wachsende Ernüchterung bei den Praktikern gestoßen ist, kann auf diese Weise nur scheitern. Was wohlgemeint daherkommt, widerspricht viel zu oft dem Kindeswohl. Die fortschreitende Auflösung von Behinderungs- und Förderkategorien führt zu einer fatalen Selbst- und Fremdtäuschung. Denn die fehlende individuelle Diagnose endet genau bei jener Benachteiligung, die sie eigentlich vermeiden will. Deshalb ist es nötig, genügend Förderschulen zu erhalten und nur diejenigen Förderbedürftigen in die Regelschule zu integrieren, die davon profitieren. (…) Die Schulzeit muss sich an ihrem Ertrag für die jeweilige Bildungsbiographie messen lassen und nicht an den Ideologien bestimmter Ministerien oder Inklusionstheoretiker.

zum Artikel:  FAZ, 23.05.2017, POLITIK, Heike Schmoll, Illusion Inklusion