Schlagwort-Archiv: Schulpolitik

Die Wirren der „Bildungs“-Stiftungen

Im Berliner „Tagesspiegel“ vom 17.07.2024[1] kommt der Geschäftsführer der „Wübben Stiftung Bildung“, Markus Warnke, in einem Interview zu maroden Schulen, fehlenden Plätzen, Schülern, die Mindeststandards nicht erfüllen, zu Wort. Im Interview bringt er das Gespräch auf die Einführung einer „Schüler-Identifikationsnummer“ sowie auf eine „datengestützte Unterrichtsentwicklung.“

Bei der Frage: Gibt es Bundesländer, in denen durch gute Bildungspolitik Erfolge erzielt werden? antwortet er: […] „In Hamburg wird [im Gegensatz zu Berlin] alles aus einer Hand gesteuert. Da ist die Schulbehörde nicht nur für die Lehrkräfte und den Unterricht verantwortlich, sondern auch für die Ausstattung, etwa mit digitalen Geräten.“

Damit ist er bei seinem eigentlichen Thema, was er voranbringen möchte, „Die Digitalisierung der Schule“. Um den Leser und zahlenden Bürger in seinen Ausführungen zu gewinnen, fährt er fort: „Das alles kostet nicht unbedingt viel Geld, die Ressourcen sind sowieso vorhanden, sie müssen nur effizienter genutzt werden“ – und zwar nach den Vorstellungen der „Stiftungen“. Die von Warnke als Geschäftsführer vertretene „Wübben Stiftung Bildung“ ist Mitglied im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“, zusammen mit weiteren Stiftungen wie der „Bertelsmann Stiftung“, „Deutsche Telekom Stiftung“, „Vodafone Stiftung Deutschland“ u.a. Deutlich wird: Hinter diesen Stiftungen stehen mächtige Unternehmen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Warnke in dem TSP-Interview vorschlägt, dass er von Kanada die „datengestützte Unterrichtsentwicklung“ sofort übernehmen würde, um anzuschließen: „Es kann doch nicht sein, dass der Schutz von Daten wichtiger ist als das gelingende Aufwachsen unserer Kinder.“ Wie zynisch!

Das „gelingende Aufwachsen“ mit einer Unzahl an gesammelten individuellen Schülerdaten sieht nicht nur der dänische Bildungsminister Mattias Tesfaye kontrovers. Für ihn hat die viele Zeit der Kinder und Jugendlichen am Bildschirm zur „Zerstörung der Bildung“ beigetragen. „Wir waren viel zu naiv und erstaunt darüber, was die größten Technologieunternehmen zu bieten haben“.[2]

Deutlich wird: Die hinter den Stiftungen stehenden Unternehmen wollen nicht nur den Verkauf der IT-Hard- und Software, sie wollen auch an die gespeicherten Schülerdaten – Big Brother is watching you!

Wiederholend und in aggressiver Form vertreten dies Mitglieder im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“[3]. So forderte bereits Jörg Dräger, bis Ende 2021 Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, eine „Pädagogische Revolution“, um die digitalen Medien der im Hintergrund der Stiftungen agierenden IT-Industrie in den Schulen unterzubringen – „Digitale“ Bildung ist ihr Geschäft, nicht Schüler-Lernhilfe!

Sørine Vesth Rasmussen von der Kinderschutzorganisation Børns Vilkår: Sie bekomme immer wieder mit, dass andere Länder sich am dänischen Modell der Digitalisierung in Schulen orientierten. „Tut das bloß nicht. Es ist eine Falle“, sagt sie. Es sei unglaublich schwer, einen Rückzieher zu machen, wenn man einmal Computer und Programme gekauft, Lehrer in deren Verwendung unterrichtet und ganze Schulsysteme in den Dienst kommerzieller Unternehmen gestellt habe.

Worum geht es? Dazu die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen: Es gehe darum, „für unsere Kinder einzustehen, bevor es zu spät ist.“

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin


[1] Tagesspiegel, 17.07.2024, Susanne Vieth-Entus u. Saara von Alten: „Es kann doch nicht sein, dass Datenschutz wichtiger ist als unsere Kinder“.

[2] FAZ, 16.07.2024, Julian Staib: Die Kinder Retten, bevor es zu spät ist. Kaum ein Land ist so digital wie Dänemark. Doch nun ruft die Regierung zum Kampf gegen soziale Netzwerke auf und will an den Schulen zurück zu Büchern, Papier und Stift. Immer mehr Länder in Europa und Übersee ziehen die Notbremse bei der Anwendung digitaler Technik in Schulen.

[3] Zu den Aktivitäten der „Bildungs“-Stiftungen siehe auch: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildungsgipfel-zwischen-wunsch-und-wirklichkeit.html

Ein Grundgesetz für Lehrer?

In der letzten Zeit haben wir einiges über unser Grundgesetz gehört. Seit 75 Jahren gibt es dem Zusammenleben der Menschen in Deutschland eine rechtliche Grundlage, nicht in den Details, aber in den grundlegenden Zügen. Es gilt für alle hier Lebenden, nicht zuletzt auch für Lehrer. Aber für diese müsste man es eigentlich noch ein wenig spezifizieren. Denn Lehrer haben ja in besonderer Weise mit unserem Gemeinwesen und unserer Zukunft zu tun – wir vertrauen ihnen immerhin unsere Jugend an.

Gastbeitrag von Michael Felten

Die Lehrerinnen und Lehrer unserer Kinder sind recht unterschiedliche Typen, das ist erstens nicht zu ändern und zweitens gar nicht so übel. Denn auf diese Weise lernen Heranwachsende, mit der Verschiedenheit von Menschen zurecht zu kommen. Zudem ist unser Bildungswesen föderal strukturiert, Lehrer in Bayern und Lehrer in Bremen handeln also nicht nach exakt gleichen Devisen. Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass es – neben den Richtlinien und Dienstordnungen der Länder – einige Basisregeln der pädagogischen Zunft geben sollte. Nur sind diese nirgendwo aufgeschrieben – wohlan, ein Versuch sei gewagt.

Artikel 1: Lehrkräfte sind pädagogische Führungsfiguren.

Lehrerinnen und Lehrer sind weder beste Freunde noch Offiziere. Sie müssen vielmehr die Kunst beherrschen, gleich und ungleich zugleich mit jungen Menschen umzugehen. Sie müssen sich einerseits in kindliches Denken und Empfinden sensibel einfühlen, andererseits aber auch unerschrocken die Richtung weisen und Beurteilungen aussprechen können.

Artikel 2: Skepsis ist eine der wichtigsten Eigenschaften von Lehrkräften.

Denn sie arbeiten in einer Art Bermuda-Dreieck: Schüler wollen möglichst wenig Hausaufgaben machen, Eltern wollen für ihr Kind zumindest das Abitur, und das Bildungsministerium will vor der Wahl dieses und nachher jenes. Lehrkräfte sollten deshalb innerlich unabhängige und kritische Personen sein, denn sie müssen denjenigen Weg finden, den sie für ihre jeweilige Lerngruppe und ihre speziellen Schüler verantworten können.

Artikel 3: Es gibt viele Möglichkeiten, lernwirksam zu unterrichten.

Das hört sich banal an, ist es aber nicht. Vielerorts galt lange Zeit die Parole, es gebe eine allein seligmachende Lehr-Lern-Methode, etwa das selbstorganisierte, eigenverantwortliche Lernen von Schülern. Die Forschung hat das widerlegt, einzelne Autoritäten haben dies auch eingestanden – aber die Lehrkräfte im Lande sollten auch davon wissen. Überhaupt sollten sie sich auf dem Laufenden darüber halten, was die Forschung darüber weiß, welche Wege eher nach Rom führen – und welche eher nicht. Entscheidend darf nicht sein, ob eine Methode einen wohlklingenden Namen hat oder gut aussieht. Sondern ob die Lernprozesse der Schüler nachhaltig, ob sie tiefenwirksam sind.

Artikel 4: Menschen sind wichtiger als Zahlen.

Neuerdings wird ja all unser Tun vermessen – und gewiss, auch im Bildungswesen liefert Evaluation interessante Daten. Aber Kennwerte sind in Schule lange nicht alles. Unterricht ist ganz wesentlich Beziehungssache, ein emotional grundierter Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden. Er funktioniert anders als die Abläufe in einer Brötchenbackstraße, lässt sich höchstens ansatzweise in der Sprache der Ökonomie beschreiben, wird durch Begriffe wie Output oder Income letztlich nicht erfasst.

Artikel 5: Bildung für morgen geschieht an Gegenständen im heute.

Allenthalben hört man, die Schule müsse völlig umgekrempelt werden – für das 21. Jahrhundert mit seiner Unsicherheit und Komplexität brauche es ganz neue Kompetenzen. Bildung könne deshalb nicht länger Wissenserwerb sein, vielmehr gehörten Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken und Kommunikation auf die Agenda. Nun, das waren natürlich immer schon ungemein wichtige Fähigkeiten – nur lassen sich diese nicht im Trockendock erwerben, sondern gerade im Rahmen von fachlichem Lernen.

Ohnehin war die Zukunft auch für frühere Generationen vor allem eines: ungewiss. Ernsthafte und anspruchsvolle Bildung in einer historisch reflektierten Gegenwart, das war immer schon das Beste, was eine Gesellschaft ihrer Jugend mitgeben konnte.

Der Autor, Michael Felten, Jg. 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst unterrichtet, ist Autor von Sachbüchern und Unterrichtsmaterialien, arbeitet als freier Lehrerweiterbildner, Human Award 2014 der Uni Köln, www.eltern-lehrer-fragen.de

Der Beitrag erschien zuerst bei News4Teacher (5.6.2024), mit Lesermeinungen.

Beschimpfen, Beleidigen, Bloßstellen – Jedes sechste Schulkind erlebt Cybermobbing

Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022[1]


Hintergrund: Mobbing ist eine spezifische Gewaltform, die sich dadurch auszeichnet, dass sie wiederholt und mit der Absicht zu schädigen ausgeübt wird. Zwischen den beteiligten Schülerinnen und Schülern besteht ein Machtungleichgewicht, welches es den Gemobbten schwer macht, sich allein und ohne Hilfe Dritter gegen das Mobbing zur Wehr zu setzen. Das Machtungleichgewicht zwischen Lernenden kann beispielsweise durch unterschiedliche körperliche Größe und Stärke, aber auch durch Aspekte wie die soziale Eingebundenheit entstehen. Mobbinghandlungen können beispielsweise Beleidigungen, Schläge, Tritte, das Verbreiten von Gerüchten oder soziale Ausgrenzung umfassen. Tritt das Mobbing medial vermittelt auf (z.B. über soziale Netzwerke oder Chatgruppen), wird es Cybermobbing genannt. (S. 46f)

Zent­rale Besonderheiten des Cybermobbings im Vergleich zum schulischen Mobbing außerhalb des digitalen Raumes lie­gen darin, dass die gemobbten Lernenden beim Cybermob­bing oft nicht wissen, wer das Mobbing ausübt. Diese Ano­nymität kann das Machtungleichgewicht, welches zwischen Mobbenden und Gemobbten besteht, noch weiter erhöhen. (S. 47)

Die tägliche Nutzung digitaler Medien und dabei insbesondere die häufige sozi­ale Interaktion im digitalen Raum kann das Risiko für Mob­bing (sowohl traditionell als auch medial vermittelt) erhö­hen. (S. 48)

Die Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) ist als Querschnittstudie angelegt, die alle vier Jah­re im Schulsetting stattfindet und Schülerinnen und Schü­ler im Alter von ca. 11, 13 und 15 Jahren (mittlere Abwei­chung von 0,5 Jahren) befragt. In Deutschland sind diese Altersgruppen überwiegend in den Jahrgangsstufen 5, 7 und 9 vertreten. In der HBSC-Studie wurden in Deutsch­land bisher in den Schuljahren 2009/10, 2013/14, 2017/18 sowie im Kalenderjahr 2022 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in allen 16 Bundesländern befragt. (S. 49)

Aus der Erhebungswelle 2022 liegen Daten von N = 6.475 Lernenden an 174 Schulen vor (50,3 % Mädchen, 47,5 % Jungen, 1,7 % Heranwachsende, die sich als gender-divers identifizieren. (S. 49) In Bezug auf die Ausübung von Mobbing berichteten Lernende an Sekundarschulen häufiger als Lernende an Gymnasien und Hauptschulen davon, andere in der Schule gemobbt zu haben. Lernende an Gymnasien gaben seltener als Lernende an Gesamt- und Sekundarschulen an, andere online gemobbt zu haben. (S. 54)

Verbreitung von schulischem Mobbing und Cybermobbing im Jahr 2022

Knapp 14 % der befragten Heranwachsenden gaben an, 2022 in der Schule gemobbt worden zu sein und/oder andere gemobbt zu haben. Damit machte 2022 ungefähr jede bzw. jeder siebte Lernende direkte Mobbingerfahrungen. Bedenkt man, dass Mobbing nicht nur diese direkt betroffenen Ler­nenden, sondern auch alle, die Mobbing in ihrer Klasse beobachten und erleben, negativ beeinflussen kann, unterstreicht dieser Befund, dass Mobbing nach wie vor für viele Kinder und Jugendliche ein alltägliches Problem ist. (S. 58)

Die Betrachtung der Mobbingverbreitung nach Schul­formen zeigt, dass Mobbing an allen Schulformen stattfin­det. Lernende an Gymnasien berichteten 2022 tendenziell weniger Mobbing als Lernende an anderen Schulformen. Lernende an Hauptschulen berichteten besonders häufig davon, online gemobbt worden zu sein. Die Erfahrung, selbst gemobbt zu werden, wurde aber an allen Schulfor­men angegeben. Dies steht in Einklang mit früheren Unter­suchungen und illustriert, dass Maßnahmen zur Mobbingprävention und -intervention an allen Schulformen bedeutsam sind. (S. 59)

Aufgrund der COVID-19-Pandemie hat die Frage nach der Entwicklung der Mobbingverbreitung von 2017/18 bis 2022 besondere Relevanz. Die vorliegenden Befunde legen aber nahe, dass die Pandemie zu keinen bedeutsamen Ver­änderungen in der Verbreitung des schulischen Mobbings geführt hat. […] Die Verbreitung des Cybermobbings hat jedoch zuge­nommen. Der Anstieg betrifft dabei vor allem 13-jährige Lernende und Jungen. Die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit Online-Medien verbringen, hat 2022 weiter zugenom­men. […] Da das schulische Mobbing nicht abgenommen, aber das Cybermobbing zugenommen hat, ist die Mobbingpro­blematik insgesamt im Vergleich zu 2017/18 im Jahr 2022 größer. (S. 60)

Schlussfolgerungen:

Die vorliegende Studie zeigt, dass Mobbing für viele Kinder und Jugendliche eine alltägliche Erfahrung ist. Insgesamt sind die Fortsetzung und weitere Implemen­tierung von Anti-Mobbing-Maßnahmen an Schulen unumgänglich, um Mobbing und der damit verbundenen Gewalt [2] erfolgreich entgegenwirken zu können. Entsprechende Maßnahmen sollten neben den Lernenden selbst auch die Lehrkräfte und das ganze System Schule adressieren. Dabei sollten den Lehrkräften verschiedene erfolgreiche Anti-Mobbing-Strategien vermittelt werden, die sie situationsspezifisch auswählen können und sie soll­ten darin bestärkt werden, auf ihr eigenes pädagogisches Handeln auch bei Mobbingvorfällen zu vertrauen. […] Schülerinnen und Schüler soll­ten innerhalb ihrer Klassen ermutigt werden, den gemobb­ten Lernenden beizustehen und den mobbenden Lernenden damit motivierende positive Rückmeldungen zu entziehen. […] [G]eschulte und verfügbare Schulsozialarbei­terinnen und Schulsozialarbeiter können dazu beitragen, schulweite Anti-Mobbing-Maßnahmen durchzuführen und somit Lehrkräfte entlasten und Ansprechpersonen für Schü­lerinnen und Schüler darstellen. […] Zudem müssen Heranwachsende Ansprechpersonen haben, an die sie sich vertrauensvoll wenden können, wenn sie negative Erfahrungen online machen oder in der Schule oder online gemobbt werden oder Mobbing beobachten. (S. 62)


[1] Aus:  Fischer SM, Bilz L (2024) Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022. J Health Monit 9(1): S. 46–67. DOI 10.25646/11871  https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JHealthMonit_2024_01_HBSC.pdf?__blob=publicationFile, S. 46-67

[2] Aus: TSP, 25.3.2024, „Ein falscher Blick führt sofort zum Knall“: Berliner Schulleiter berichten über die Gewalt an ihren Schulen (tagesspiegel.de)

In Berlin verzeichnet die Kriminalstatistik bei Gewaltdelikten an Schulen für das Jahr 2023 einen Anstieg um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Drei Schulleiter und eine Schulleiterin berichten über Gewaltdelikte an ihrer Schule:

„Bei jeglicher Gewalt in der Schule gilt die Prämisse: Alles muss zur Strafanzeige gebracht werden, auch Kleinstvorfälle. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass ihr Tun unmittelbare Konsequenzen hat. Das Verfahren ist dreischrittig. Es besteht aus klaren Regeln, klarer Kommunikation, sofortigen Strafen. Damit soll schon der Versuch von Grenzüberschreitungen im Keim erstickt werden. […] Was kann die Politik tun? Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört die Frühförderung: Je besser vorbereitet die Kinder eingeschult werden, desto geringer ihr Frust und die Gefahr, dass sie diesen in Gewalt umsetzen.“

„Die Zündschnur von einer kurzen verbalen Auseinandersetzung bis zur handfesten Schlägerei ist kürzer geworden. Offenbar kennen die Kinder in dem Augenblick keine andere Möglichkeit, zu reagieren.“

„Wir erstatten auch Meldungen im Rahmen des Kinderschutzes, wenn wir den Eindruck bekommen, dass in der Familie Videospiele oder TV-Formate konsumiert werden, die die Kinder noch gar nicht sehen dürfen. Mit dieser Herangehensweise haben wir wirklich ganz gute Erfahrungen gemacht.  Für uns ist auch wichtig herauszufinden, welche Rolle Gewalt in der Familie spielt. Mitunter wollen sie den Blick in die Familie gar nicht zulassen. Viele sind aber unwahrscheinlich dankbar, wenn das Problem erst mal auf dem Tisch ist und ihnen Hilfe angeboten wird.“

„Bereits in der ersten Klasse sitzen Kinder, die nicht mehr neugierig, kaum beschulbar sind. Die Ursache liegt in sozialer Verwahrlosung. Mit diesen Kindern wird zu wenig gesprochen, sie bekommen ein Handy in die Hand, noch bevor sie ihren Windeln entwachsen sind. So werden sie ruhig gestellt. […] Hinzu kommt häufig die unkontrollierte und unkommentierte Nutzung der (a)sozialen Medien mit ihren zum Teil menschenfeindlichen Darstellungen. […] Die häusliche Gewalterfahrung spielt ebenfalls eine große Rolle. Es gibt Kinder, die lernen zu Hause, dass Gewalt eine Lösungsstrategie ist“.


Der Leserbrief eines Gymnasiallehrers zum Thema im Tagesspiegel:

Liebe Frau Vieth-Entus!
Danke für Ihren hinterfragenden Artikel „Mehr Gewalt an Schulen | Worüber wundert ihr euch?“ im Tagesspiegel vom 19. März 2024.
Ihre Sätze
„Auf der Suche nach den Ursachen werden vor allem die Isolation während der Pandemie und die sozialen Medien als Gewalttreiber genannt.“
„Hier ist auch der Ort, an dem sich bereits Neunjährige pornografische Videos per Tiktok zuschicken oder per Cybermobbing Mitschülerinnen und Mitschülern das Leben zur Hölle machen.“

Warum aber gibt es diesen Digitalisierungshype, warum sollen dann die Schulen (oder gar die Schüler) digitalisiert werden? Sind die teuren Ideen, jeden Schüler mit einem digitalen Endgerät auszustatten und schnelles WLAN für alle in den Schulen zu installieren etc., nicht eine staatliche Subvention, eine Absegnung dieser Irrungen? Vereinsamung und asoziale Medien — Tiktok und Zocken am Handy/Tablet/Laptop/PC statt Kicken mit Kumpels, Pornos statt Bücher, Chatten und Mobbing statt persönlicher Umgang (inklusive Konflikte und deren Lösung) mit Gleichaltrigen  — nun auch auf Staatskosten in der Schule, demzufolge rund um die Uhr, sieben Tage die Woche? Roboter, künstliche (!) Intelligenz und „Lern“programme statt Menschen und Zuwendung für alle Kinder und Jugendlichen?

Ich wundere mich über gar nichts, wäre meine Antwort auf Ihre Frage.

Beste Grüße,
Thilo Steinkrauß

Analoge Leseschwäche

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2022 sind für das Fach Deutsch – wie im Vorjahr – „in hohem Maße besorgniserregend“, heißt es in der am 13. Oktober veröffentlichten Studie[1] des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

„Die Schulkinder in Deutschland lesen so schlecht wie nie!“ [2]


Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Schulbücher gelten als altbacken, Apps und Tablets als innovativ. Doch trotz – oder gerade wegen – digitaler Unterstützung lesen Schulkinder in Deutschland so schlecht wie nie. Ist die von den sogenannten „Bildungs“-Stiftungen geforderte „digitale Schule“ ein Irrweg? Bildungspsychologen fordern mehr Papier und genaue Analysen darüber, wo digitale Medien sinnvoll sind und wo sie störend wirken.

Der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt den derzeitigen Lesestand der Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse in den einzelnen Bundesländern.

In der nebenstehend abgebildeten Grafik[3] ist der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler dargestellt, die den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen.

Deutschlandweit liegt der Anteil bei 32,5 Prozent! Für sie wird es schwierig bis unmöglich in der weiteren Schullaufbahn den Anschluss zu behalten.

Die Schülerinnen und Schüler der Bundesländer Bremen und Berlin „verweilen“ seit Jahren im Ranking auf den letzten beiden Plätzen. Über die Gründe wird seit Jahren diskutiert!

Wer Bücher liest oder wem vorgelesen wird, kann sich deutlich besser sprachlich ausdrücken. Der Wortschatz der Schüler in der vierten Klasse ist umso größer, je häufiger sie analoge Bücher lesen.

Das ist das Ergebnis einer Studie des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung [4], an der 4611 Viertklässler aus 252 Grundschulen in Deutschland teilgenommen haben. Von denen haben ein Viertel angegeben, (fast) täglich an digitalen Geräten zu lesen.

„Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch.“

Berichtet wird, dass dies möglicherweise mit der Art der Texte zusammenhängt: So beinhalten z.B. Chatnachrichten keine längeren, aufeinander aufbauende Textpassagen und weniger vielfältigen Wortschatz. Dies trägt kaum zu einem Ausbau des Wortschatzes bei und gleichzeitig fehlt die Zeit für sprachförderliche Aktivitäten. Das Forscherteam betont:  

„Sämtliche Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass Sprachkompetenzen unabdingbar sind, um einen erfolgreichen weiteren Schul- und Lebensweg zu ermöglichen.“ [5]

Als Ergebnis empirischer Bildungsforschung kann man festhalten:

Die Nutzung digitaler Medien zur Erlangung von Sprachkompetenz bei Schülerinnen und Schülern reduziert den Wortschatz und hemmt die Fähigkeit zum Textverständnis und zur Textproduktion.

In anderen Ländern wie Frankreich, den Niederlanden und Schweden werden diese negativen Einflüsse von der Politik aufgegriffen und es wird bereits umgedacht.

Schwedens Schulministerin stoppte die Digitalisierungsstrategie ihrer Bildungsbehörde und versprach, statt in Onlinetools wieder mehr Geld in gedruckte Schulbücher zu investieren. Das Karolinska Institut, Medizinische Universität Stockholm[6], erklärte dazu:

„Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h., nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend.“

Weiter wird von der schwedischen Forschergruppe berichtet:

„Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“

Dies bestätigt aktuell auch ein ARD-Bericht der „Tagesschau“ vom 17.12.2023 zu Schwedens Bildungspolitik mit dem Thema: „Wir haben zu viel digital gemacht“. Lange war Schweden stolz auf seine digitalen Klassenzimmer. Doch daran gibt es inzwischen viel Kritik. Die Lernkompetenz gehe stark zurück, warnt Schwedens Regierung und will wieder mehr Bücher in den Schulen sehen.

Dazu Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: „Ich habe das mal bewusst als `Digitalisierungswahn´ bezeichnet, weil, wo immer wir heute Probleme sehen, ob das im Schulsystem ist, ob das der Lehrermangel ist, ob das Lerndefizite sind. Der erste Griff ist immer sofort zu den `Digitalen Medien´, in der Hoffnung, dass diese die Probleme lösen. Wenn man ehrlich ist, muss man aber feststellen, dass viele Probleme, die wir im Bildungsbereich haben, von einer unreflektierten Digitalisierung letztendlich befeuert werden.“[7]

Was ist also in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler los?

Werden analoge Informationen anders verarbeitet als digitale? Werden Texte auf Tablets oder anderen elektronischen Medien von Schülern schlechter durchdrungen als Texte auf Papier?

Diese Fragen stellte eine Studie an der spanischen Universität in Sevilla[8] und löste europaweit Diskussionen aus. Pablo Delgado, Bildungspsychologe, Universität Sevilla:

„Es gibt zwei Haupthypothesen. Die eine ist die fehlende Beteiligung eines Körpers beim Lesen digitaler Texte auf dem Bildschirm. Dies hängt mit der Theorie der ` verkörperten Kognition´ zusammen, die besagt, dass unsere Denkprozesse, unsere kognitiven Prozesse, nicht auf unseren Verstand beschränkt sind, sondern, dass die Art und Weise, wie wir physisch mit Objekten und mit der Welt interagieren, ebenfalls Teil dieser Prozesse ist.“

Das heißt, es macht einen Unterschied, ob wir in einem Lernprozess im Austausch mit einem Menschen oder mit einem Bildschirm sind. Von Bedeutung ist eine lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung.  

Eine zweite Hypothese der spanischen Wissenschaftler lautet: Den Menschen, die digitale Texte im Internet lesen, geht es darum, schnell Informationen zu finden, und dies würde zu einer oberflächlichen Lesegewohnheit führen – unabhängig vom Alter. Das wird als „Oberflächlichkeitshypothese“ bezeichnet.

Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den Unterricht? Sollen also digitale Medien aus dem Unterricht wieder verschwinden? Pablo Delgado:

„Wenn es also einen Wandel in der Bildung in Bezug auf digitale Technologien geben muss, dann würde ich sagen, dass es nicht darum geht, sie nicht mehr zu nutzen. Ich glaube nicht, dass dies eine gute Sache ist, denn die Schüler müssen lernen, diese Werkzeuge zu nutzen. Mit anderen Worten: Die Nutzung der Instrumente muss ein eigenes Bildungsziel sein.“

Die Ergebnisse der PISA-Sonderauswertung: Lesen im 21. Jahrhundert für Deutschland[9]

Schülerinnen und Schüler, die häufig Bücher analog lesen, schneiden beim PISA-Test besser ab als Schülerinnen und Schüler, die Bücher eher online lesen.

Nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland kann Fakten von Meinungen unterschieden – soziale Herkunft spielt beim Umgang mit digitalen Medien eine große Rolle.

In 35 Ländern besteht zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke ein negativer Zusammenhang, insbesondere in Deutschland.

Deutschland ist das Land, in dem zwischen 2009 und 2018 die Freude am Lesen am stärksten zurückgegangen ist.

Was sind die größten Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem?

Am 8. Dezember 2023 erschien im „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Fragwürdige Bildungsstudie“[10] ein Interview zu den PISA-Ergebnissen mit Dr. Heiner Barz, Professor für Erziehungswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Auf die Frage: Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? antwortete er: Ein Problem ist, „dass deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt“. […] „Ein zweites Problem ist die viel beschworene `digitale Bildungsrevolution´[11]. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen `Kreidezeit´ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten.“

Das „Trojanische Pferd“[12] der allumfassenden „Digitalisierung der Bildung“ ist unter uns. Christian Füller schrieb in der Hamburger GEW-Zeitung dazu: „Mit der Digitalisierung aber haben vor allem die Stiftungen mit Technologieunternehmen im Hintergrund[13] eine völlig neue Mission: Sie rollen unter den großen Überschriften ,Teilhabe‘ und ,Kooperation‘ ein großes Trojanisches Pferd in die Schulen – das digitalisierte Lernen samt Endgeräten.“

Sollten nicht die Lehren, die in anderen europäischen Ländern aus dem „Digitalisierungshype“ gezogen werden, auch in deutschen Schulen Beachtung finden?

Artikel als PDF-Beitrag


[1] IQB-Bildungstrend 2022, S. 37, https://box.hu-berlin.de/f/286e96a9a06546b88f4e/?dl=1

[2] Beitrag mit Informationen aus: NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[3] Bildquelle: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/iqb-bildungstrend-die-wichtigsten-ergebnisse/

[4] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/nachrichtendetail/wortschatz-und-leseverhalten-von-viertklaesslerinnen-in-deutschland-sonderauswertung-einer-repraesentativen-studie-1-26250/

[5] https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifs-ep/r/Downloads_allgemein/Pressemeldung_IFS-Wortschatz_final_webseite.pdf

[6] Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung. Deutsche Übersetzung.

[7] Aus NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html

[8] NANO, 3sat vom 6.12.2023, https://www.3sat.de/wissen/nano/231206-digitale-leseschwaeche-nano-100.html; Start des Interviews nach 4Minuten 33Sekunden.

[9] Aus: https://www.vodafone-stiftung.de/pisa-report-lesen-im-21-jahrhundert/

[10] Siehe: https://www.tagesspiegel.de/wissen/was-sagt-uns-die-studie-wirklich-ein-ausstieg-aus-pisa-konnte-sinnvoll-sein-10889485.html  oder „Tagesspiegel“ vom 8.12.2023, S. 16

[11] Mehr dazu: Bildung im digitalen Wandel – zur Dialektik eines Transformationsprozesses, chwalek bildung_im_digitalen_wandel.pdf (bildung-wissen.eu)

[12] Das Bildungsgeschäft der Bertelsmann Stiftung, Christian Füller, https://www.gew-hamburg.de/themen/bildungspolitik/perfektes-zusammenspiel

[13] Unternehmensnahe Stiftungen im Bildungsbereich, Deutscher Bundestag, 2023, WD 8 – 3000 – 046/23, https://www.bundestag.de/resource/blob/968854/1bb8f689743f55cdb728acb36abcce91/WD-8-046-23-pdf-data.pdf

Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Manfred Fischer, Berlin, 1.5.2023

Der folgende Beitrag nimmt den gescheiterten Bildungsgipfel zum Anlass, insbesondere den beachtlichen Einfluss der sogenannten Bildungsstiftungen auf die Politik kritisch zu kommentieren und die Frage zu verfolgen, welchen Interessengruppen dadurch das Wohl der Schülerinnen und Schüler anvertraut wird. 

Die Sozialpartner DGB und BDA schrieben in einer gemeinsamen Stellungnahme am 13.03.2023: „Von der `Bildungsrepublik Deutschland´, die bereits 2008 von der Bundeskanzlerin und den Ländern ausgerufen worden ist, sind wir 15 Jahre später immer noch meilenweit entfernt.“

Die damals gesteckten Ziele beim Bildungsgipfel vom 22.10.2008 wurden bis heute allesamt „deutlich verfehlt“: Halbierung der Anzahl der Schulabgänger ohne „Hauptschulabschluss“ von 8 Prozent auf 4 Prozent, Halbierung der Zahl der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung von 17,0 Prozent auf 8,5 Prozent sowie die Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP).

Jedoch das Ziel, „die Studienanfängerquote im Bundesdurchschnitt auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu steigern“ war bereits 2008, im Jahr des Bildungsgipfels, mit 40,3 Prozent erreicht. Diese Quote wurde in den Folgejahren von Jahr zu Jahr deutlicher übertroffen. Jedoch nicht nur für Berlin gilt: Die wundersame Leistungssteigerung wurde durch Niveausenkung erkauft! Deutlich wird dies auch durch die hohen Studienabbruchquoten von bis zu 50 Prozent in den Naturwissenschaften.

„Reformprozesses im Bildungswesen“ nach den Vorgaben der „Bildungs“-Stiftungen

Wie aus einer Pressemitteilung vom 14.03.2023 zu entnehmen ist, appelliert ein „breiter Kreis aus [17] Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften an den Bundeskanzler und die Regierungschef:innen der Länder, mit einem Nationalen Bildungsgipfel einen grundlegenden Reformprozess im Bildungswesen einzuleiten.“ Die Initiatoren des Appells waren die Bertelsmann Stiftung, Deutsche Telekom Stiftung, Karg-Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Vodafone Stiftung Deutschland sowie die Wübben Stiftung. [1] Die Akteure sind meinungsstarke und kapitalkräftige Stiftungen, deren Aktivitäten Christian Füller im „Tagesspiegel“ so überschreibt: Bildungs-Stiftungen planen den „Systemwechsel“.

Betrachtet man die mit den Stiftungen verbundenen Konzerne sowie deren Aktivitäten untereinander genauer, entdeckt man ein „perfektes Zusammenspiel“. Die Stiftungen öffnen durch ihre Medienpräsenz und die sich wiederholenden „Botschaften“, „öffentlichkeitswirksamen Studien“ und „Handlungsempfehlungen“ sowie durch das „Anprangern von Missständen“ die Türen für das milliardenschwere Bildungs- und Testgeschäft der Unternehmen. In den „technologiebasierten Innovationen“ für Lernen, Unterricht und Schule, die Technologien wie „Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics“ nutzen, liegt nicht, wie die Akteure behaupten, verheißungsvoll die Lösung, sondern oft das Problem! Der Einsatz dieser Technologien soll das Bildungssystem „revolutionieren“.

Von den Stiftungen wird vordergründig und vermeintlich selbstlos in ihren „Botschaften“ hervorgehoben, sich für den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit einzusetzen, und den Lehr- und Fachkräften im Bildungsbereich wird versprochen, sie für wichtige pädagogische Aufgaben zu entlasten. Es geht jedoch den Stiftungs-Akteuren darum, die „digitalen Bildungskonzepte“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Kitas und Schulen umzusetzen – ganz ohne demokratische Kontrolle und öffentliche und fachwissenschaftliche Diskussion.

Euphemistisch schreiben die Initiatoren in ihrem Appell, dass auf dem von ihnen eingeforderten „Nationalen Bildungsgipfel“ neben dem Bundeskanzler „alle relevanten Akteure“ vertreten sein sollen. Festzuhalten ist: Nur ein ergebnisoffener Dialog auf Augenhöhe, ohne interessenbezogene Auswahl von Experten und Teilnehmern könnte zielführend sein. Jedoch eine entgegengesetzte, verschleiernde Vorgehensweise wurde z.B. bei der Trend-Studie „KI@Schule“ im Auftrag der Deutschen Telekom Stiftung praktiziert. Dort wurde die Auswahl der Experten und Teilnehmer mit dem Auftraggeber abgestimmt! [2] Auch ein Austausch in „gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“ wäre zu begrüßen, doch die Akteure haben schon längst die Steuerung des „Reformprozesses“ im Bildungsbereich übernommen! Deutlich wird dies auch in einem Interview im „Tagesspiegel“. Beim geforderten Nationalen Bildungsgipfel setzt der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung Thomas de Maizière nur auf eine „öffentliche Begleitung“ und darauf, dass man sich „informell miteinander“ austauscht. [3]

Die Akteure schreiben auf der website des „Forum Bildung Digitalisierung“, einem Netzwerk, in dem die meisten Initiatoren des Appells vereint sind: „Auf politischer Ebene war insbesondere die Übernahme zahlreicher Positionen des Forums in der ergänzenden Empfehlung `Lehren und Lernen´ zur Strategie `Bildung in der digitalen Welt´ der Kultusministerkonferenz (KMK) ein großer Erfolg.“ [4] Um die Quellen zu verschleiern, macht die KMK in ihrem Bericht [5] keine Angaben zu den Autoren! So ist auch in dem oben genannten Interview nicht verwunderlich, dass der Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung von Lob und Anerkennung gegenüber der KMK spricht, da sich die KMK durch „externe Beratung“ selbst auf den „Prüfstand“ stelle.

Der geforderte „grundlegende Reformprozess im Bildungswesen“ ist von den Stiftungen längst vorformuliert, ein „Neustart in der Bildung“ durch eine „digitale Transformation und systemische Veränderungen im Bildungsbereich“ längst beschlossene Sache. Die Frage stellt sich: Wem nutzt es?

Von der Bedeutung im Bildungsprozess von „sinnstiftendem Lernen in tragfähigen Beziehungen“, „wirklichen Lernzeiten in der Klassengemeinschaft“, der „Weltdeutung der Kinder und ihrer Familien“ [6] sowie über den Erwerb der Fähigkeiten wie Anstrengungsbereitschaft, Konzentration, Kreativität, Mitgefühl ist keine Rede. Dies sind aber die Grundlagen auf dem Weg hin zu einer wirklichen Bildung. Den positiv besetzten Begriff „Bildung“ nutzen die Akteure 32mal in dem zweiseitigen Appell. Das kann vordergründig beeindrucken, eine inhaltliche Auseinandersetzung wird jedoch vermieden! Die „Bildungs“-Stiftungen sind auch hier Meister im Verschleiern ihrer wirklichen Absichten – denn „Bildung“ ist ihr Geschäft.

Bei den bildungspolitisch Verantwortlichen in Bund und Ländern ist „keine Ernsthaftigkeit bei der Problemlösung“ in Schule und Bildung zu erkennen, bemerkt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz. Einige verlieren sich in „persönlichen Profilierungsversuchen“, so die zum Bildungsgipfel noch amtierende KMK-Präsidentin, Astrid-Sabine Busse. Sie alle werden ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht gerecht! Das Wohl der Kinder, der Schülerinnen und Schüler, der Lehr- und Fachkräfte haben sie seit Jahren allesamt aus dem Auge verloren. Den Verheißungen und den ökonomischen Vorstellungen der „Bildungs“-Stiftungen oder deren Protagonisten jedoch jetzt blind zu folgen, ist nicht die Lösung! Es geht um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen und nicht um die Umsetzung der Interessen der international agierenden Education Technology-Unternehmen.


[1] Annina Förschler (2018): „Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse“. In: Pädagogische Korrespondenz, 58/18: S. 31-52.

[2] Siehe dazu die Kurzfassung der Studie: Künstliche Intelligenz in der Schule? | Schulforum-Berlin

[3] TSP, 24.04.2023, Interview mit Thomas de Maizière: „Es ist höchste Zeit, das Bildungssystem zu ändern“ von Susanne Vieth-Entus und Tilmann Warnecke.

[4] Siehe dazu eine Kurzfassung: Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

[5] https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_12_09-Lehren-und-Lernen-Digi.pdf

[6] Siehe dazu: FAZ, 13.04.2023, „Messen macht noch keine Bildung“ oder „Offener Brief von Bildungswissenschaftler:innen und Fachdidaktiker:innen an die KMK gegen eine Verengung des Bildungsdiskurses“

Den ausführlichen Bericht „Bildungsgipfel – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ in der PDF-Datei

Eine systematische Überprüfung und Metaanalyse der Evidenz zum Lernen während der COVID-19-Pandemie

Kinder verloren etwa ein Drittel des Lernwertes eines normalen Schuljahres. Die Studie wurde Ende Januar 2023 im Online-Fachjournal „Nature Human Behaviour“[1] veröffentlicht.

Um das Ausmaß der Lerndefizite während der Pandemie zu bewerten, sammelte das Forschungsteam Daten aus 42 früheren Studien aus 15 Ländern, die im Zeitraum März 2020 bis August 2022 veröffentlicht wurden.

Die primäre Forschungsfrage des Teams lautete: „Wie wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf den Lernfortschritt von Kindern im Schulalter aus?“ Das zweite Forschungsziel war „Zu untersuchen, ob sich die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Lernen in verschiedenen sozialen Hintergrundgruppen, Altersgruppen, Jungen und Mädchen, Lernbereichen oder –fächern und nationalen Kontexten unterscheiden“.[2]

Die Pandemie der Coronavirus-Krankheit hat zu einer der größten Unterbrechungen des Lernens in der Geschichte geführt. Dies ist zu einem großen Teil auf Schulschließungen zurückzuführen, von denen schätzungsweise „95 % der weltweiten Schülerschaft“[3] betroffen waren.

Auswirkungen

Die Metaanalyse legt nahe, dass sich der Lernfortschritt während der COVID-19-Pandemie erheblich verlangsamt hat und dass die Schüler etwa „35 % des Lernwertes eines normalen Schuljahres“[4] verloren haben. Diese Defizite blieben über den untersuchten Zeitraum von etwa 2,5 Jahren konstant.

Die Forschergruppe verwendet den Begriff „Lerndefizit“, um sowohl eine Verzögerung des erwarteten Lernfortschritts als auch den Verlust bereits erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse zu umfassen. Das in der Pandemie entstandene Lerndefizit wird wahrscheinlich die Lebenschancen von Kindern durch ihre Bildungs- und Arbeitsmarktaussichten beeinträchtigen. Auf gesellschaftlicher Ebene kann sie wichtige Auswirkungen auf Wachstum, Wohlstand und sozialen Zusammenhalt haben.

Die Auswirkungen des eingeschränkten Präsenzunterrichts, so das Forscherteam, wurden durch die Folgen der Pandemie für das außerschulische Lernumfeld von Kindern sowie ihre geistige und körperliche Gesundheit verstärkt. Lockdowns haben die Bewegungsfreiheit von Kindern und ihre Fähigkeit, zu spielen, andere Kinder zu treffen und sich an außerschulischen Aktivitäten zu beteiligen, eingeschränkt. Das Wohlergehen der Kinder und die familiären Beziehungen haben auch unter wirtschaftlichen Unsicherheiten und widersprüchlichen Anforderungen an Arbeit, Betreuung und Lernen gelitten. Es ist zu erwarten, dass diese negativen Folgen in schwachen sozioökonomischen Familienverhältnissen am ausgeprägtesten sind und bereits bestehende Bildungsungleichheiten verschärfen.

Die meisten Studien, die das Team untersuchten, stellen fest, dass die Lerndefizite bei Kindern aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen am größten waren. Dies gilt über verschiedene Zeitpunkte während der Pandemie, Länder, Klassenstufen und Lernfächer hinweg und unabhängig davon, wie der sozioökonomische Hintergrund gemessen wird. Es deutet darauf hin, dass die Pandemie Bildungsungleichheiten zwischen Kindern mit unterschiedlichem sozioökonomischem Hintergrund verschärft hat.

Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, bestätigt die Ergebnisse der Metaanalyse: „Je geringer also das Leistungsniveau der Lernenden ist, je jünger die Lernenden sind und je bildungsferner das Milieu der Lernenden sich zeigt, desto negativer sind die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf Bildungsprozesse.“[5]

Er wird zu den geschilderten Auswirkungen noch deutlicher und führt zur „Demokratiefähigkeit“ der Gesellschaft weiter aus: „Ein geringes Bildungsniveau in Kombination mit einer vergrößerten Bildungsschere ist der Nährboden für demokratiedestabilisierende Entwicklungen.“[6]

Die Forschergruppe macht darauf aufmerksam, dass weitere Nachweise erforderlich sind, um die Wirksamkeit der verschiedenen bisherigen Interventionen zur Begrenzung oder Behebung von Lerndefiziten, bewerten zu können.

Was also tun?

Zierer schreibt in seinem Beitrag weiter: „Weder die Digitalisierung ist der Heilsbringer in der Krise noch das Schließen von Schulen. Zu sehr greift beides in die Grundeinsicht ein: Bildung ist ein sozialer Prozess. Der Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt und er braucht ihn analog“[7] […]. Er fasst zusammen: „Das Miteinander und das Gemeinschaftliche sind sinnstiftend und die Grundlage für Bildungsprozesse.“[8]

Ralf Lankau, Professor für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie an der HS Offenburg, ergänzt und formuliert zu den Auswirkungen der eklatanten Lernrückständen eine These: „Wenn die Bereitschaft bestünde, ergebnisoffen über die Auswirkungen und Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu sprechen, wäre die erste Konsequenz die Forderung nach einer pädagogischen Wende. Statt Ausrichtung der Schulen an den Forderungen der IT-Wirtschaft und den Parametern der empirischen Bildungsforschung muss wieder das Individuum und seine persönliche Entwicklung in Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen: Persönlichkeitsentwicklung statt Leistungsvermessung.“[9]

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Im Januar 2023 erschien das Buch mit dem Titel: „Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie“, Ralf Lankau (Hrsg.). Die zusammengestellten Beiträge von 16 Vertretern aus Wissenschaft, Schulpraxis und Kinderheilkunde ergeben ein faktenbasiertes und praxistaugliches Fundament für die Frage, was die zentralen Parameter für Schule und gelingenden Unterricht sind.


[1] A systematic review and meta-analysis of the evidence on learning during the COVID-19 pandemic, Betthäuser, B. A., Bach-Mortensen, A. M. & Engzell, P. Nature Hum. Behav., https://doi.org/10.1038/s41562-022-01506-4
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Zierer, Klaus (2023): Die pädagogische Klimakrise bewältigen. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 225
[6] ebd. S. 225
[7] ebd. S. 225f 
[8] ebd. S. 226
[9] Lankau, Ralf (2023): Lehren aus der Pandemie – Pädagogische Alternativen zur Digitalisierung als De-Humanisierung. In: Lankau, Ralf (Hrsg.) (2023): Unterricht in Präsenz und Distanz – Lehren aus der Pandemie, S. 209