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Individualisierung verkennt das Potenzial sozialer Kontexte beim Lernen

Ist Individualisierung der Königsweg zum erfolgreichen Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden

Lipowsky_IndividualisierungDr. Frank Lipowsky ist seit 2006 Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel
Dr. Miriam Lotz ist Akademische Rätin im Fachgebiet Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel

Auszüge aus:  Lipowsky, F. & Lotz, M. (2015). Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden. In G. Mehlhorn, F. Schulz & K. Schöppe (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 155-219). München: kopaed

Die Forderung nach einer stärkeren Individualisierung beim Lernen wird als schul­pädagogische Antwort auf die wachsende Heterogenität von Schulklassen verstanden: Da die Lernenden so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen (zsf. Kluczniok, Große & Roßbach 2011, Scharenberg 2012, Trautmann & Wischer 2011), sei es erfor­derlich, die Lernangebote an den Bedürfnissen der einzelnen Schüler auszurichten und die Lernprozesse weitgehend individualisiert zu organisieren (z. B. Hessischer Landtag 2014). (S. 155)

(…) Auch wenn mit dem Begriff der Individualisierung tatsächlich unterschiedliche Be­deutungen assoziiert werden: Gemeinsam scheint diesen Verständnissen zu sein, dass die Anpassung der unterrichtlichen Angebote an die Bedürfnisse einzelner Schüler herausgestellt wird und dass daraus folgend Unterrichtsphasen, in denen die Schüler individuell für sich arbeiten, für bedeutsamer und wichtiger gehalten werden, wäh­rend Kommunikations- und Interaktionsprozesse, die auf die Auseinandersetzung mit Mitlernenden und die Interaktion mit der Lehrperson angewiesen sind, in den Hintergrund rücken.  (S. 159f)

Nach den bisherigen Studien, die individualisierten Unterricht und Formen von Binnendifferenzierung genauer untersuchen, erfüllen sich die Erwartungen, die man mit diesen Formen des Unterrichts verbindet, nicht in dem erhofften Maße. Hattie (2013) gelangte zum Ergebnis, dass individualisierter Unterricht im Mittel einen lern­förderlichen Effekt von d = 0.23 hat, was einem schwachen Effekt entspricht (zur Be­deutung von Effektstärken vgl. Lotz & Lipowsky in diesem Band [Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht – Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion]). Auch die mittlere Effektstärke für binnendifferenzierenden Unterricht ist mit d = 0.16 nicht größer, das heißt Schüler, die in einem Unterricht mit binnendifferenzierten Angeboten lernen, lernen nicht viel mehr dazu als Schüler in einem Unterricht, in dem keine binnendiffe­renzierende Maßnahmen angeboten werden.

Diese eher geringen Effekte über alle [auch ältere] Studien hinweg überraschen zunächst und werfen die Frage auf, warum sich die Erwartungen, die man mit einer zunehmenden Individualisierung verbindet, vielfach nicht erfüllen. Wie im weiteren Verlauf des Bei­trags dargestellt wird, spricht vieles dafür, dass Individualisierungs- und Differenzie­rungsmaßnahmen im Unterricht deshalb eine so geringe Effektivität haben, weil es an der Qualität der Umsetzung mangelt und weil die entsprechenden Maßnahmen häu­fig nicht vertiefte Lernprozesse auf Seiten der Schüler anstoßen können (…) (S. 162f)

(…) Unterricht im Allgemeinen und Formen von Individualisierung im Besonderen zie­len darauf ab, möglichst alle Lernenden gemäß ihrer individuellen Voraussetzungen zu fördern (Leistungsförderung). Häufig wird mit der Forderung nach einer stärkeren Individualisierung auch die Erwartung verknüpft, dass damit die Leistungsunter­schiede zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schülern verringert werden können (Leistungsausgleich).

Nach allem, was in der Forschung bislang bekannt ist, sind Formen der Individua­lisierung nicht oder allenfalls bedingt geeignet, die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern zu verringern, sofern man diese kompensatorische Funktion überhaupt als Ziel verfolgt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich die Leistungsschere zwischen stärkeren und schwächeren Schülern, wenn sich der Unterricht durch wenig Lehrerlenkung und wenig Strukturierung auszeichnet, eher weitet. (…) Geöffnete Unterrichtsformen laufen demnach Gefahr, insbesondere die Schüler mit geringeren Vorkenntnissen zu benachteiligen, da die Komplexität der behandelten Probleme und Aufgaben das Arbeitsgedächtnis der Schüler zu stark belastet und damit das Lernen und Verstehen neuer Inhalte erschwert. (…) (S. 167f)

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Blamable Schulleistungen

Regelstandards von mehr als der Hälfte der Schüler nicht erreicht

Die Vergleichsarbeiten Vera 8 (siehe unten) der Schüler an Haupt-, Werkreal-, Real- sowie Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg sind desillusionierend ausgefallen.

Die Schulleistungen befinden sich im freien Fall, was ein Ergebnis schulpolitischer Versuchsanordnungen ohne Berücksichtigung von Leistungen ist, berichtet die FAZ in ihrem Artikel „Blamable Schulleistungen“ vom 9.7.2016. Das wichtigste Ergebnis des Leistungsvergleichs ist, dass die Regelstandards von mehr als der Hälfte der Schüler nicht erreicht werden, sie bleiben – wenn überhaupt – auf Grundschulniveau. An einen gelingenden Übergang in die gymnasiale Oberstufe bzw. in eine Berufsausbildung ist nicht zu denken. Die Schulen in Baden-Württemberg haben – trotz gewaltiger Investitionen in Personal- und Sachmittel [besonders in die Gemeinschaftsschulen] – ein erhebliches Qualitätsproblem.

Rechtschreibung:
An Haupt- und Werkrealschulen erreichen 67% der Schüler nicht das erforderliche Leistungsniveau (Regelstandard), an den Realschulen sind es in diesem Fach 20%, an den Gemeinschaftsschulen 48%.

Mathematik:
An den Haupt- und Werkrealschulen verfehlten die Regelstandards 84% der Schüler, an den Realschulen 44% und an den Gemeinschaftsschulen sind dies 64% der Schüler.

Anzumerken ist, dass von den rund 270 Gemeinschaftsschulen in BW, eingerichtet durch die vorhergehende grün-rote Landesregierung, nur 41 Schulen (die zuerst gegründet worden sind) teilgenommen haben.

An den Gymnasien erreichten in den abgefragten Fächern weniger als 10% der Schüler die Mindeststandards nicht.

Durch die unterschiedlichen Reformansätze verschiedener Regierungen ist das Schulsystem in Baden-Württemberg „unübersichtlich“ geworden. [Es wurde mit verschiedenen Schülerjahrgängen, auf Vorgabe der Bildungspolitik, experimentiert.] Die derzeitige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hält es für durchaus angebracht, das strittige pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschulen noch einmal zu überprüfen.

Artikel:  FAZ, 09.07.2016, Rüdiger Soldt, Blamable Schulleistungen; FAZ, 11.07.2016, Rüdiger Soldt, Schlecht rechnen an der „Restschule“


siehe auch: FAZ vom 6.8.2016, „Wir wollen Ruhe im Schulsystem“. Rüdiger Soldt inteviewt die neue baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann:

(…) Nach den Vergleichsarbeiten Vera 8 sind die Leistungen der Gemeinschaftsschüler im Rechnen und in der Orthographie besonders schlecht. Wie wollen sie die Qualität der Gemeinschaftsschulen verbessern?

(…) Wir müssen bei der Qualität nachjustieren. Gerade an den Gemeinschaftsschulen gibt es Defizite bei den zentralen Kompetenzen. Das pädagogische Konzept ist nun mal so, wie es ist und wie es von der Vorgängerregierung auf den Weg gebracht worden ist. Auch die Eltern erwarten ja zu Recht Qualität, und wenn es dafür notwendig ist, werden wir auch das pädagogische Konzept hinterfragen müssen.


siehe auch:  Rundbrief Nr. 1/2016, Schule und Bildung in der neuen Legislaturperiode, Arbeitskreis Schule und Bildung in Baden-Württemberg


Die Vergleichsarbeiten VERA 8 sind schriftliche Arbeiten in Form von Tests, die den Kompetenzstand von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich der länderübergreifend verbindlichen Bildungsstandards im zweiten Schulhalbjahr der Klasse 8 untersuchen. Im Rahmen von VERA 8 werden einzelne ausgewählte Kompetenzbereiche in den Fächern Deutsch und Mathematik, sowie Englisch oder Französisch überprüft.

Die Arbeiten werden länderübergreifend vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Berlin entwickelt [ Beispielaufgaben ]. VERA ist das einzige explizit standardbezogene Verfahren, das bundesweit eingesetzt wird, um insbesondere den einzelnen Schulen eine abgesicherte datengestützte Standortbestimmung zu ermöglichen und daraus einen Handlungsbedarf abzuleiten.

Die Vergleichsarbeiten VERA 8 vermitteln den Lehrkräften, den Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern und Erziehungsberechtigten objektive Informationen über den individuellen Lernstand zum Testzeitpunkt hinsichtlich ausgewählter Kompetenzbereiche der Bildungsstandards.

Es stehen jeweils drei verschiedene Testheftversionen pro Fach mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad zur Verfügung. Das Testheft mit mittlerem Schwierigkeitsgrad (II) setzt sich aus Aufgaben des weniger schwierigen Testheftes (I) und des schwierigsten Testheftes (III) zusammen.
Die Hauptschulen / Werkrealschulen, Realschulen und Gemeinschaftsschulen [in BW] setzen die Testheftversion I und die Gymnasien die Testheftversion II ein.


VERA 8-Prüfungen in NRW

Im Artikel der Wirtschaftswoche vom 17.03.2016, „Bildungskatastrophe Deutschland: So lächerlich sind die Mathe-Prüfungen in NRW“ von Ferdinand Knauß ist zu lesen:

„Zum extrem niedrigen Anspruch der Aufgaben kommt noch eine großzügige Fehlertoleranz: Schon mit 38 Prozent richtig beantworteten Aufgaben gilt ein Schüler als „ausreichend“ kompetent.“

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) und die Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW) nahmen gemeinsam wie folgt korrigierend Stellung:

(…) Die Lernstandserhebungen dienen der Unterrichtsentwicklung, nicht der Diagnose der Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler. Daher ist auch keine Benotung vorgesehen (…). Es geht bei den Lernstandserhebungen somit nicht darum, ob Schülerinnen und Schüler einen Test “bestehen“, sondern um die Rückmeldung des Leistungsstands von Klassen zum Zweck der Unterrichtsentwicklung. Auf Noten verweisende Begriffe wie „ausreichend“ sind daher nicht passend.


Frage:  Sind nun die „irreführenden Darstellungen“ fachlich richtig gestellt oder die Ergebnisse des Vergleichstests durch die Institute schöngeredet?

„Berliner Bildungsverwaltung will ihre Bilanz schönen“

Abschlussprüfungen an Berliner Schulen

Mathe zu leicht, Bio zu wirr

Bei den Prüfungen an Berlins Schulen hat das Niveau der Aufgaben nachgelassen – sagen Lehrer. Und äußern einen Verdacht.

Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus

Die Klausuren sind geschrieben, bald beginnen die Zeugniskonferenzen, aber Erleichterung will sich nicht einstellen: Gymnasiallehrer beklagen im aktuellen Abitur „wachsweiche Prüfungen“ in Mathematik und eine „wirre Aufgabenstellung“ in Biologie. Sekundarschulen und Berufsschulen hadern damit, dass die Hürden in die gymnasialen Oberstufen gesenkt wurden. Alle zusammen haben den Eindruck, „dass die Bildungsverwaltung ihre Bilanz schönen will“. (…)

Unter den Kollegen von Thilo Steinkrauß, Fachbereichsleiter Mathematik am Herder-Gymnasium in Westend  sei es „unstrittig, dass der Schwierigkeitsgrad streng monoton fallend ist“. (…) „Die Leistungskursklausuren waren tendenziell leichter als sonst“, zitiert Martin Meinhart, Mittelstufenkoordinator der Spandauer Martin-Buber-Sekundarschule, seine Mathematik-Kollegen. Die Schüler hätten im Schnitt eine glatte Zwei erreicht. (…)

Die Universitäten konstatieren allerdings seit Jahren eine eher rückläufige Tendenz beim Wissen, das die Schüler mitbringen: „Sie sind nicht dümmer, sie haben nur weniger gelernt“, fasst FU-Mathematik-Professor Günter Ziegler seine Beobachtungen zusammen. (…)

Unabhängig von den aktuelle Aufgaben steht für den Verband der Oberstudiendirektoren fest, „dass es bei den Anforderungen in den nächsten Jahren dringend wieder eine Tendenz nach oben geben muss“, betont der Vorsitzende Ralf Treptow.

Daran ist allerdings nicht zu denken. Im Gegenteil. Nachdem 2015 die Zahl der Berliner Schüler ohne Abschluss bei über zehn Prozent lag, ist die Hoffnung zerstoben, dass schon allein die Abschaffung der Hauptschulen zu besseren Ergebnissen führen würde. [Erstaunlich, dass durch diesen Etikettenwechsel doch viele glauben, es seien nun höhere Bildung und qualifiziertere Schüler unter dem Banner eines neuen Schulnamens und einer neuen Schulart versammelt.]
Insbesondere an der Mathematik scheitern viele. Das sei wohl auch der Grund dafür, dass die diesjährigen Mathematikaufgaben im Mittleren Schulabschluss noch leichter als bisher ausgefallen seien, vermuten mehrere Lehrer.

Gleichzeitig weisen sie aber darauf hin, dass die Mathematikarbeit überhaupt noch die letzte echte Hürde sei: „Die Englischklausur kann man zumindest auf dem Niveau der Berufsbildungsreife bestehen, ohne ein Wort Englisch zu können“, sagt ein Englischlehrer mit Hinweis auf die Aufgaben zum Ankreuzen. Der Verzicht auf das Sitzenbleiben in den Sekundarschulen habe den Niveauverlust noch befördert, bedauert ein anderer Sekundarschulvertreter. (…)

Was die [Lehrer-]Kollegen aus anderen Sekundar- und auch Berufsschulen allerdings viel mehr umtreibt, ist der Niveauverlust in Klasse elf: Seitdem Schüler mit einer Fünf im Hauptfach und einem Durchschnitt von Drei minus in die gymnasiale Oberstufe dürfen, scheitern sie massenhaft. „Wir haben noch nie so viele blaue Briefe geschrieben“, berichten mehrere Schulen. (…) „Man suggeriert den Schülern, dass sie es schaffen können und lockt sie in eine Falle, anstatt dass sie mit einer Berufsausbildung anfangen“, bedauert ein stellvertretender Schulleiter aus Neukölln. Das sei „vertane Lebenszeit“. Der Verzicht auf das Sitzenbleiben in den Sekundarschulen habe die Entwicklung befördert, dass die Schüler beim Mittleren Schulabschluss (MSA) oder spätestens in Klasse elf massenweise scheitern.

Hervorhebungen im Fettdruck durch Schulforum-Berlin

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 04.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Mathe zu leicht – Bio zu wirr

siehe auch: Der Tagesspiegel, 20.06.2016, Susanne Vieth-Entus, Grübeln überflüssig
Die zentralen Mathematikprüfungen für Zentklässler waren in diesem Jahr auffallend leicht zu bestehen. Lehrer kritisieren den Test als „Pillepalle“. Aus Bayern heißt es, das Niveau entspreche der siebten Klasse.

siehe auch:  Schriftliche Prüfungsarbeit zur erweiterten Berufsbildungsreife und zum mittleren Schulabschluss 2016, 10. Mai 2016, im Fach Mathematik

siehe auch:  Der Tagesspiegel, 08.05.2014, Susanne Vieth-Entus, Berlin senkt Ansprüche an den Schulabschluss

In Berlin und den Bundesländern wie auch im Nachbarland Österreich gilt politisch der OECD-Wille, die Abiturientenzahlen nach oben zu treiben. Das hat seinen Preis!

Die Berliner Bildungspolitik kann das Problem nicht weiterhin ignorieren oder schönreden.  Es ist im Sinne einer fundierten Bildung unserer Schülerinnen und Schüler zu lösen und nicht auf deren Kosten!

siehe auch:  FAZ, 18.05.2016, Hans-Jürgen Bandelt, Hans- Jürgen Matschull, Denken darf hier nur der Taschenrechner

Das Mathematikabitur 2016 in Niedersachsen, das nun nach massiven Beschwerden weniger streng bewertet wird, muss für viele Betroffene, schwache wie starke Schüler, das Grauen gewesen sein. Kultusministerin Frauke Heiligenstadt ließ gleich nach den ersten heftigen Protesten höchstpersönlich verlauten, dass die Aufgaben anspruchsvoll, aber vom Schwierigkeitsgrad leistbar gewesen seien und den Vorgaben entsprochen hätten. Das ist erstaunlich. Denn in fachlicher Hinsicht ist die zugrundeliegende Mathematik als einfach bis banal zu bezeichnen. Die Aufgabensteller scheuten jedoch keine Mühe, die simplen und rein schematisch lösbaren Aufgaben mit einem Textwust zu versehen, der Realitätsbezug und Anspruch vorspiegeln soll. Schwammige Formulierungen und Gedankensprünge taten ein Übriges. (…)

Hans-Jürgen Bandelt ist Professor für Mathematik an der Universität Hamburg, Hans-Jürgen Matschull lehrt Mathematik und Physik am Lichtenberg-Gymnasium in Cuxhaven.

Gymnasiale Bildung – heute und morgen

Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’.

aus PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann – Universität Wien, Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft

(…) Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer Gymnasiastin bundesweit für Aufregung, sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: »Ich bin fast achtzehn und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.« Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben alles so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht eher darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie diese Wendung und ihre Geschichte noch) Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, dann denkt nämlich ohnehin fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einst assoziiert waren: Bildung als proportionierliche Entfaltung der Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen, Bildung als souveräne Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken, Bildung als Fähigkeit, sich elaboriert auszudrücken, Bildung als Aneignung von und Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Religion, Bildung als wissensbasierte Reflexions- und Kritikfähigkeit, Bildung als Schulung der ästhetischen Urteilskraft und der moralischen Sensibilität, Bildung als letzte Aufgabe unseres Daseins.

Im gegenwärtigen Diskurs fungiert ‘Bildung’ in der Regel als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Schulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’. (…)

Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses. (…)

[Kinder und Jugendliche] werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substantielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die vielgerühmte ‘Selbstkompetenz’ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der Selbsterkenntnis sabotiert. Ähnlich verhängnisvoll ist die Vorgabe, dass alles und jedes, was gelernt wird, seine Anwendung finden muss. Denn dies bedeutet, dass die Kunst und die Wissenschaften, die großen Dokumente der eigenen und von fremden Kulturen, Gedanken- und Glaubenssysteme, die Natur und ihre Gesetze ausschließlich unter der Perspektive, ob Kinder und Jugendliche sie in ihrer Lebenswelt irgendwie nützen können, angesprochen und vermittelt werden dürfen. Die damit verbundene geistige und seelische Verarmung ist mit Händen zu greifen. (…)

Gleichzeitig verstehen sich aber vor allem primäre und sekundäre Bildungseinrichtungen zunehmend als Orte, an denen es weniger um Kompetenzen und Qualifikation, sondern um soziale Integration und die Herstellung gerechter Verhältnisse gehen soll. Schule soll dann die Defizite der Gesellschaft ausgleichen und für Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten und niemand darf zurückbleiben. Individualisierung und Inklusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben. Wer gegen Individualisierung und gegen Inklusion argumentieren wollte, machte sich sofort verdächtig, ungerechte Verhältnisse fortschreiben und die Chancen von Menschen beschneiden zu wollen. Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich niemand aussetzen. (…)

Wenn Bildung auch bedeutet, jungen Menschen jene Kulturtechniken und jene Kenntnisse zu vermitteln, die als notwenige Voraussetzung gelten, um die Gesellschaft, ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Wissensformen zu verstehen und deshalb daran partizipieren zu können, dann kann zur Einlösung dieses Anspruches der Maßstab nicht nur im Individuum liegen. Bildung heißt auch, sich an den Errungenschaften einer Kultur abzuarbeiten, die nicht beliebig disponierbar sind. (…)

Mitunter hat man sogar den Eindruck, dass nichts so sehr in der Wissensgesellschaft verachtet wird, wie der Erwerb von Wissen. ‘Faktenwissen’ ist zu einem Unwort geworden, diese Form des Wissens muss aus den Schulen verbannt werden, niemand soll mit Dingen belastet werden, die man entweder überall nachschlagen kann oder die ohnehin rasch veralten. Die flächendeckende Umstellung der Lehr- und Studienpläne an Schulen und Universitäten von definierten Kenntnissen und Inhalten auf ‘Kompetenzen’, ‘Workloads’ und ‘Soft Skills’ ist nur das sichtbarste Zeichen einer generellen Entwertung des Wissens. (…)

Nun wäre es Unsinn zu leugnen, dass Ausbildungsprozesse und eine breite Palette von Ausbildungsmöglichkeiten für eine moderne Gesellschaft von allergrößter Bedeutung sind. Fraglich aber bleibt, ob Bildung tatsächlich auf Lebensnähe, Schülerzentriertheit, Praxisrelevanz und eine am Kriterium des ökonomischen Nutzens orientierte Ausbildung reduziert werden kann. Das Problem beginnt schon damit, dass der Begriff des ‘Nutzens’ selbst höchst vage ist und oft nicht mehr als divergierende gesellschaftliche Interessen beschreibt, die sich zudem rasch ändern. (…) Ein Kunstwerk verstehen und interpretieren zu können, hat deshalb sehr wohl mit Bildung zu tun, die Fähigkeit, eine Steuererklärung ausfüllen zu können, mag lebensdienlich sein, stellt aber keine Bildungsperspektive dar. (…)

Zwar weiß niemand mehr, was unter Bildung zu verstehen ist, aber alle sind sich einig, dass Bildung die wichtigste Ressource in einer wettbewerbsorientierten Wissensgesellschaft darstellt. Der Schluss, den viele daraus ziehen, ist allerdings merkwürdig: In immer kürzerer Zeit sollen immer mehr junge Menschen aus immer unterschiedlicheren Milieus immer kostengünstiger immer besser ausgebildet werden. Das kann nicht gut gehen. Die Absolventen eines klassischen Gymnasiums hätten noch gewusst, dass im deutschen Wort Schule das griechische scholé steckt: Es bedeutet so viel wie Muße. Wer in Bildungsfragen Hektik verbreitet – und dies macht fast jeder – ist schon auf dem falschen Weg.

Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann am 12. Januar 2016 am Edith-Stein-Gymnasium in Bretten, Baden-Württemberg, auf Initiative des PhV-Bezirksverbandes Nordbaden. Der gesamte Vortrag ist nachzulesen in PROFIL 5/2016, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes

Berücksichtigung des Bürgeranspruchs auf Transparenz staatlicher Aktivitäten

Große Anfrage 21 der Fraktion der PIRATEN zu Aktivitäten und politischen Initiativen der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen im mittelbaren und unmittelbaren Zusammenhang mit der Bertelsmann-Stiftung (…)

Auszüge aus der Vorbemerkung der Großen Anfrage:

(…) Über die Meinungsmacht der Bertelsmann-Unternehmensgruppe hinaus übt Bertelsmann über die Stiftung eine politische Gestaltungsmacht aus, die weit über den Einfluss von Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften, ja sogar von Parteien hinausgeht. (…)

Geradezu paradox am Verhalten der Bertelsmann-Stiftung ist, dass sie zwar überall nach
Wettbewerb ruft, diesen Wettbewerb aber bei sich selbst konsequent verhindert. Das nicht nur, indem sie „ausschließlich operativ“ arbeitet, d.h. nur ihre von ihr selbst initiierten Projekte fördert und keine Projektanträge von außerhalb zulässt, also wissenschaftlichen Pluralismus satzungsmäßig ausschließt, sondern darüber hinaus indem sie sich vor keinem Parlament und keinem Rechnungshof und nicht einmal vor einem Aufsichtsrat, der wenigstens unterschiedliche Interessen von Kapitalanlegern vertreten könnte, für den Einsatz ihrer Gelder und die damit verfolgten Ziele rechtfertigen muss.

Die Bertelsmann-Stiftung hält über drei Viertel des Kapitals der Bertelsmann SE & Co. KGaA, die sich auf zahlreichen Politikfeldern und u.a. auch auf dem Bildungsmarkt engagiert. Zudem sind die 100%ige Bertelsmanntochtergesellschaft Arvato AG und deren Tochtergesellschaften u.a. im Bereich der Dienstleistungen für die öffentliche Hand tätig.
Darüber hinaus wird seitens der Stiftung beispielsweise im Bereich der Bildung ein Wachstumsmarkt für private Anbieter gesehen, in vielen Fällen zeigen die Beratungsdienstleistungen und -inhalte der Stiftung eine deutliche Tendenz hin zur Privatisierung. (…)

Darüber hinaus geraten die wissenschaftliche Qualität sowie die methodische als auch die auf die erhobenen Daten bezogene Genauigkeit von durch die Bertelsmann-Stiftung oder ihren Tochtergesellschaften und Beteiligungen erstellten Studien und Rankings zu gesellschaftspolitischen Fragen immer wieder in die Kritik namhafter Einzelwissenschaftler und Fachverbände.

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Bürgeranspruchs auf Transparenz
staatlicher Aktivitäten stellte die Piratenpartei 42 Fragen an die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen über den Zeitraum vom 1. Januar 1992 bis heute.

Auszug einiger Fragen zur Bildungspolitik:

13. Wurden oder werden Schulinspektor/innen durch die Bertelsmann-Stiftungsgruppe (BSG) oder andere private Anbieter/innen oder beide ausgebildet und führen auf dieser Basis gesetzlich vorgeschriebene Evaluationsaufgaben durch?

14. Sind die sog. Bildungsbüros aus gemeinsamen Konzepten oder Kooperationsprojekten
zwischen der Landesregierung oder dem Schulministerium und der BSG oder der Bertelsmann-Unternehmensgruppe (BUG) oder beiden hervorgegangen?

15. Sind durch die BSG oder die BUG oder beide entwickelten Evaluationsaufgaben sowie
die Evaluationskriterien in den offiziellen Qualitätsrahmen von Schulentwicklung aufgenommen worden, bzw. wurden die Landesregierung und das Schulministerium, durch die BSG oder die BUG oder beide in derartigen Vorhaben begleitet oder unterstützt? Gibt es dazu interne oder öffentliche Stellungnahmen seitens der BSG oder der BUG oder beider an die Landesregierung oder das Schulministerium?

20. Welche Landesbediensteten oder Hochschullehrer/innen bekleideten oder bekleiden Funktionen bei der BSG oder bei der BUG oder beiden oder begleiten oder begleiteten die BSG oder die BUG in beratender Form? Bitte ehrenamtliche Funktionen mitberücksichtigen, bitte Angabe der Zeiträume.

zur Großen Anfrage


Die Landesregierung von NRW hat drei Monate Zeit, die Anfrage zu beantworten.

Antwort zur Großen Anfrage vom 6.07.2016


Weitere Informationen:  Kraus, Josef (Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)) – Über den Wert von Bertelsmann-„Studien“


Einfluss von Bertelsmann auf die NRW-Landesregierung –
Wie nah ist zu nah?

Bonn. Bertelsmann berät die NRW-Landesregierung umfassend. Der Einfluss auf die Landesregierung ist aus Sicht von Juristen mit staatsrechtlichen Grundsätzen nur schwer zu vereinbaren.
23.02.2017, Kirsten Bialdiga,

(…) Dass Bertelsmann die NRW-Landesregierung umfassend berät, ist nicht neu, aber vielen unbekannt. Obwohl die Piraten-Fraktion eine Große Anfrage an die Landesregierung auf den Weg brachte, die im Sommer 2016 in eine lebhafte Landtagsdebatte mündete. Die enge Kooperation wirft nicht nur aus staatsrechtlicher Sicht Fragen auf. (…)

Tatsächlich listete die Landesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Piraten-Fraktion auf knapp 50 Seiten auf, was es an Kontakten, Kooperationen und Verträgen in den vergangenen zehn Jahren mit Bertelsmann gab. Doch aus Sicht des Staatsrechtlers Christoph Degenhart bleiben wesentliche Fragen offen: „Es ist ein Problem, dass sich diese Zusammenarbeit in einer Grauzone abspielt und daran Vertreter maßgeblich mitwirken, die dem Volk nicht zur Verantwortung verpflichtet sind“. (…)

Degenhart kommt zu dem Ergebnis, dass die Antwort der NRW-Landesregierung auf die Große Anfrage Transparenz schuldig bleibe, insbesondere auch hinsichtlich personeller Verflechtungen: „Am problematischsten ist es, wenn es personelle Überschneidungen gibt und Lobbyvertreter in staatlichen Bereichen aktiv sind.“

Aus Sicht des Wissenschaftlers sollte die Landesregierung vollständig offenlegen, worin die Zusammenarbeit auf den einzelnen Gebieten jeweils besteht. Auskünfte über „Drehtür-Personalien“, also ein Beschäftigungswechsel zwischen der Landesregierung und Bertelsmann, hatte die Landesregierung mit Verweis auf Persönlichkeitsrechte und Datenschutz weitgehend abgelehnt. (…)

Zum Artikel:   General Anzeiger, Bonn, 23.02.2017, Kirsten Bialdiga, Einfluss von Bertelsmann auf die NRW-Landesregierung , Wie nah ist zu nah?

Integration im Klassenzimmer

Mikrokosmos statt Mikroghetto

TSP, 12.04.2016, Kommentar von Caroline Fetscher

An den Tag werden sie noch lange denken – und ihre Lehrer auch. An einem Gymnasium in Berlin haben sie ein klassisches Theaterstück inszeniert, ein Dutzend Schülerinnen und Schüler. Sie haben lange geprobt, nachgedacht, viel gelacht, sich manchmal gezankt, eine Menge Text gelernt – und schließlich das Stück klar, klug und spielfreudig auf die karge Bühne ihrer kahlen Aula gestemmt. Grandios! Dann das Wunder: Als alles vorüber war, wollten sie gar nicht mehr weg. Am liebsten wären die jungen Schauspieler über die Osterferien in der Schule geblieben, staunt strahlend einer der Lehrer. So etwas passiert selten, schon gar nicht hier. Und hier auch nur, weil sich Pädagogen, oft in ihrer freien Zeit, enorm engagieren für Kinder und Jugendliche, die Mustafa oder Fatima heißen.

Es ist nämlich eine der Schulen im Land, wie es sie gar nicht geben dürfte.  (…) 97 Prozent [der Schüler] sind „nicht deutscher Herkunft“, was Ämter gern mit „ndh“ abkürzen. Längst hätte eine Quotenregelung für „ndh-Kinder“ solchen Missständen vorbeugen müssen: maximal 50 Prozent, minimal 10 Prozent Kinder, die nicht Muttersprachler sind, das wäre ein Anfang, das groteske Ungleichgewicht zu verändern. (…)

Parallelgesellschaft pur, sozialpolitisch absurd, bildungspolitisch ein Irrsinn. Wie passiert das? Na ja, heißt es bei den Verantwortlichen, das kam einfach so, mit der Zeit. (…)

Naja ist nicht genug. Naja ist ein Armutszeugnis (…) für die fatale Denkarmut der Funktionseliten, die nicht verstehen wollen, was Teilhabe an einer aufgeklärten, dialogfähigen Öffentlichkeit bedeutet – und dass sie durch Schulen zur Welt kommen muss. Wo Lehrende die einzigen Muttersprachler sind, wie sollen da Schüler ohne enorme, zusätzliche Kraftanstrengung in der Landessprache heimisch werden? Wie soll das gehen? Höchstens in Glücks- und Einzelfällen, wenn so ein seltener Funke überspringt von der Probebühne ins Leben. (…)

[Unsere Schulen werden] zum elementar wichtigsten Ort, um in der aufnahmefähigsten Phase der Entwicklung Gemeinsamkeit zu erfahren. In der Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft wird deren demokratisches Fundament kontinuierlich erneuert. Dabei entsteht die Öffentlichkeit von morgen. Vor allem darum darf kein einziger solcher Mikrokosmos ein Mikroghetto sein.

zum Artikel:  Der Tagesspiegel, 12.04.2016, Caroline Fetscher, Mikrokosmos statt Mikroghetto

Stand Schuljahr 2015/16:

48 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 95,5% – 50%
59 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 49% – 10%
18 Sekundarschulen haben Schüler mit Migrationshintergrund zwischen 9% – 1,9%

siehe vollständige Tabelle unter:  Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache/Migrationshintergrund in Berlin, Schuljahr 2011/12 bis 2015/16