„Wir sollten Schluss machen mit PISA“

Datum: 18.06.2015
„PISA gefährdet unser Bildungssystem“
Interview (heute so aktuell wie am 2.12.2013) mit Bildungsforscher Volker Ladenthin von Jens Wernicke

Jens Wernicke fragt den Bildungsforscher Volker Ladenthin, Universität Bonn, was er an den Ergebnissen der fünften PISA-Studie auszusetzen hat.
Volker Ladenthin:  Zum einen misst PISA die deutschen Schulen nicht an den Kriterien, die in Verfassung, Schulgesetzgebung und Lehrplänen als Ziele derselben ausgegeben sind. „Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.“ So steht es beispielsweise im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen. Bisher haben die PISA-Macher aber nicht nachgewiesen, dass ihre Kriterien derlei Ziele unterstützen. Vielmehr wird immer deutlicher, wie sehr die PISA-Kriterien das Erreichen dieser Ziele behindern.
Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt. Die gesetzten Kriterien haben sich dabei keiner breiten und wissenschaftlichen Diskussion über das, was Schule überhaupt soll und will, versichert. Ohne Auseinandersetzung mit dem Stand der Wissenschaft, mit bestehenden Schul- und Bildungstheorien, und auch nicht gemeinsam mit Lehrer- oder Elternverbänden werden die Kriterien der OECD, die übrigens niemand hierzu legitimiert hat, dies zu tun, nun einfach als Maßstäbe gesetzt. So etwas war bisher in der Wissenschaft unüblich. (…)

Wie setzt PISA die eigenen Kriterien für das, was Bildung ausmachen soll, durch?
Um das zu realisieren, was man will, überzeugt PISA nicht Erzieher und Lehrer vor Ort und klärt Eltern auf, wie dies demokratisch üblich wäre. Stattdessen verordnen die nationalen Verwaltungen im Auftrag der EU den Kitas, Schulen und Unis immer mehr und immer häufiger internationale Tests, durch welche die nicht gefügigen Teilbereiche blamiert und somit zur Anpassung gedrängt werden. „Blaming and naming“ heißt das in der Verwaltungssprache.
Und um derlei Bloßstellungen etwa mittels der PISA-Rankings zu vermeiden, passen sich die Kitas und Schulen den fremdgesetzten Kriterien an – auch gegen eigene Überzeugungen. So werden heute politisch Ziele top-down durchgesetzt, ohne dass die Beteiligten – Lehrer, Erzieher, Eltern – auch nur den Hauch von Mitbestimmung hätten hierbei. Und die Tests selber, also die sollen auch gar nicht „Qualität“ messen, dazu sind sie auch weder geeignet noch gedacht, sondern internationale Normen durchsetzen.

Was haben Sie denn gegen Normsetzungen?
Ganz einfach: Dass diese unser Bildungssystem zunehmend darauf reduzieren, Menschen nur noch für kurzfristige und begrenzte Zwecke auszubilden, und nicht mehr als Menschen und ganze Personen zu bilden. Wenn sich dies aber durchsetzt, verlieren unsere Kinder genau jene Eigenschaften, die uns zu einer starken Nation gemacht haben: Kreativität, Individualität, Innovationslust, Selbstbewusstsein und Verantwortung. (…)

zum Artikel:  Wirtschaftswoche, 2.12.2013, Jens Wernicke, „PISA gefährdet unser Bildungssystem“

siehe auch:  PROFIL, Juni 2014, Gastbeitrag Volker Ladenthin, PISA, Wir bestimmen die Probleme