Archiv für den Monat: November 2019

„Ich denke, sie meint, es sei anders, als ich denke“

Lesenlernen mit Inhalten

Kritische Anmerkungen zur Theorie der Lesekompetenz

F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 17.10.2019, Gerhard Lauer

Der Autor ist einer der Unterzeichner der Stavanger-Erklärung und lehrt Digital Humanities an der Universität Basel.

Lesen muss aufwendig gelehrt und gelernt werden, denn anders als der Spracherwerb ist der Leseerwerb nicht angeboren. […] Nach der Unesco-Definition der Lesefähigkeit – das ist die Fähigkeit, einfache und kurze Aussagen über sein eigenes Leben lesen und schreiben zu können –, können gegenwärtig über 80 Prozent der Weltbevölkerung lesen. Noch nie haben so viele Menschen mindestens die wichtigsten Dinge über ihr Leben niederschreiben und lesen können.

Die Lesefähigkeit ist aber sehr ungleich verteilt. Das hat viele Gründe. In reichen Industrieländern wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten spielen Konzepte des schulischen Leseerwerbs eine große und wenig glückliche Rolle. Die letzte Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung Iglu aus dem Jahr 2016 führte als einen der Gründe für das nur mittelmäßige Abschneiden der deutschen Grundschüler die mehr als 80 Programme zur Lese- und Schreibförderung an, die nicht ausreichend auf ihre Wirksamkeit getestet wurden. Die durch die Einwanderung bedingte Spreizung in der Lesefähigkeit wird durch viele dieser Programme nicht verringert, sondern noch verstärkt. In den Vereinigten Staaten ist der Befund ähnlich. Auch hier hat besonders die Politik des „No Child left behind“ dazu geführt, dass Lesen nicht mehr von allen Kindern ausreichend erlernt wird, obgleich genau das Gegenteil das Ziel des Programms ist. Der Grund für die mangelnde Wirksamkeit so vieler Leseerwerbsprogramme liegt in deren Ausrichtung an der Lesekompetenz, für die Inhalte zweitrangig sind. Lesen soll als eine allgemeine Fähigkeit gelernt werden mit Lesebüchern, deren Inhalte austauschbare Beispiele sind, um die Lesefähigkeit einzuüben. Das entspricht der Vorstellung des kompetenzorientierten Unterrichts, wie er aus den teils groben Vereinfachungen der Bildungsreform-Debatten der siebziger Jahre hervorgegangen ist. War dort noch, etwa in Wolfgang Klafkis Konzept der kategorialen Bildung, auch die Bedeutung der materialen Bildung und das Lernen an grundlegenden Sachverhalten Teil des Lernprozesses, so verschoben sich die Gewichte bald schon in Richtung inhaltsdünner Kompetenzen, die mit solchen Formeln wie das Lernen zu lernen und das kritische Denken einzuüben gutmeinend umschrieben werden. Mit dem Bologna-Prozess hat die Kompetenzorientierung längst auch die Universitäten erreicht. Kompetenz ist hier alles, wer spricht von Inhalten?

Kompetenzen und nicht Inhalte zu vermitteln ist aber deshalb ein höchst problematisches Mantra beim Lesenlernen, weil es die Schwachen schwächer macht und die Starken unterfordert. Denn die Kinder aus bildungsnahen Familien haben anders als Kinder aus bildungsfernen mehr Wörter und damit auch Sachverhalte schon zu Hause gelernt und können komplexere Texte besser lesen, weil sie mehr über die Welt wissen und die entsprechenden Wörter kennen. Zu diesem Zusammenhang von frühem Erwerb von Wörtern und Sachverhalten gibt es eine Reihe von Studien, prominent die Studien zum kindlichen Spracherwerb von Betty Hart und Todd Risley aus den neunziger Jahren. Sie haben die Interaktion zwischen Eltern und Kindern über viele Jahre in Familien verschiedener Einkommensgruppen untersucht. Ihre Forschungen haben gezeigt, dass Kinder mit geringerem sozioökonomischen Status in ihren ersten vier Lebensjahren bis zu 30 Millionen Wörter weniger hören als Kinder aus bessergestellten Familien. Millionen nicht gehörter Wörter sind vor allem fehlendes Weltwissen. Und das zählt, wenn anschließend in der Schule Lesen gelernt wird.

Denn wenn Schulen Lesekompetenz unterrichten und dafür die Vermittlung von Weltwissen zurückstellen, verstärken sie die sozialen Unterschiede, die sie zu überwinden vorgeben. Das ist keine neue Einsicht, auch wenn gegen sie immer wieder verstoßen wird. Schon in den achtziger Jahren haben Leseforscher wie Donna Recht und Lauren Leslie gezeigt, wie stark das Leseverstehen vom Vorwissen über ein Thema abhängt. Einen Text über Fußball kann man nur verstehen, wenn man dessen wichtigste Regeln kennt. Das gilt noch mehr für das Verstehen komplexer Zusammenhänge in Texten über den Klimawandel oder von komplizierten psychologischen Figurenmotivationen in anspruchsvollen Büchern.

Weil so viel Wissen fehlt, misslingt ein kompetenzorientierter Leseerwerb, der die Unterschiede im Weltwissen nicht ausgleicht. In ihrem gerade erschienenen Buch „The Knowledge Gap“ kritisiert die amerikanische Bildungsjournalistin Natalie Wexler scharf die Orientierung an der Lesekompetenz als Maßstab für den Leseerwerb und betont die Notwendigkeit, wieder Inhalte zu vermitteln einschließlich der Vokabeln, die es dazu braucht, um Unterschiede zwischen „notwendig“ und „hinreichend“ zu erfassen oder Komplementsätze wie „Ich denke, sie meint, es sei anders, als ich denke“ zu nutzen. Wexler benennt nicht nur die Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren zu dieser Problematik, sondern berichtet aus der Praxis aufmerksamer Lehrer, die nicht Geschichten aus dem Internet ziehen, sondern spannende Inhalte auswählen, die das Wissen über die Welt erweitern und Hunger nach mehr Wissen erzeugen. Das alles kann gar nicht früh genug einsetzen. Bundesländer, die wie etwa Hamburg Vierjährige auf ihre Sprachkenntnisse testen und dann auch verpflichtenden Sprachunterricht vorschreiben, lehren mehr Wörter und damit mehr Wissen und können Verbesserungen in den Leseleistungen ihrer Grundschüler dann auch nachweisen, selbst wenn die zwanzig Minuten pro Woche Sprachförderunterricht nur ein Anfang sein können. Eines der verblüffenden und doch eigentlich nicht neuen Ergebnisse all dieser Anstrengungen ist, dass ein Unterricht, der den Kindern mehr Kenntnisse über die Welt vermittelt, sie zu besseren Lesern erzieht. Wer also Weltwissen als Unterrichtsaufgabe ernst nimmt, verbessert das Lesen der Kinder. […]

zum Artikel: F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 17.10.2019, Gerhard Lauer, Lesenlernen mit Inhalten

„Kinder, die vor dem Smartphone oder Tablet hängen, werden immer jünger“

Wo beginnt die Schutzpflicht des Staates?

Gegen frühe Smartphonenutzung: Kein eigenes Smartphone unter zwölf

FAZ, 02.11.2019, Uwe Ebbinghaus

Kinder brauchen kein eigenes Smartphone. Kaufen Eltern ihnen trotzdem eines in jungen Jahren, können sie sie kaum noch schützen. Aus pragmatischen Gründen ist ein Verbot unumgänglich.

Ein Smartphone-Verbot für Kinder muss man schon deshalb vehement fordern, weil die Durchsetzung eines solchen wahrscheinlich in Kürze aussichtslos sein und festgefahrenen sozialen Konventionen widersprechen wird. Denn auf diesen gesellschaftlichen Zustand bewegen wir uns gerade mit großen Schritten zu: Mehrere Studien über das Nutzungsverhalten von Kindern bis vierzehn und Jugendlichen bis achtzehn Jahren stimmen im Kern mit einer aktuellen Erhebung des Digitalverbands Bitkom überein, derzufolge heute schon jedes zweite Kind zwischen sechs und sieben Jahren gelegentlich ein Smartphone nutzt – vor fünf Jahren war es noch jedes fünfte. Ab einem Alter von zehn Jahren ist das Smartphone dann schon „ein Muss“, wie es in der Untersuchung heißt, drei von vier Kindern besitzen eines und mehr als die Hälfte sagt: „Ein Leben ohne Handy kann ich mir nicht mehr vorstellen.“ 

Pressegrafik bitkom

Wobei dieser Befund niemanden, der mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, überraschen wird. Besorgniserregend aber ist es, sich empirische Erhebungen über die genaue Nutzungsart und -dauer bei jungen Menschen anzuschauen. So ist vor wenigen Tagen von der amerikanischen Kinderschutzorganisation Common Sense eine Studie veröffentlicht worden, die manchem die Augen öffnen dürfte. Ihr ist zunächst zu entnehmen, dass die Tweens, also Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, im Durchschnitt knapp fünf Stunden am Tag vor Bildschirmen, zu denen auch das Fernsehen oder die Leinwand zählen, verbringen. Bei den Teens, den Dreizehn- bis Achtzehnjährigen, sind es bereits mehr als sieben Stunden. Frustrierend, sich diese Leben vorzustellen.

Immerhin haben sich diese Gesamtzahlen in den vergangenen vier Jahren nur geringfügig verändert. Was zugenommen hat, ist, gerade bei den Tweens, die Aufrufzeit von Online-Videos, die sich seit 2015 von einer halben auf eine ganze Stunde täglich verdoppelt hat. Speziell auf dem Smartphone hat sich die Verweildauer sogar mehr als verfünffacht. Vor allem diese letzten Zahlen beunruhigen die amerikanischen Jugendschützer, zumal die meisten Eltern nicht wissen, was der Nachwuchs sich in dieser Zeit auf dem Smartphone anschaut. Es ist jedenfalls nicht die Kinderversion von Youtube, die der Google-Konzern als Alternative zum regulären Videoportal anpreist. Denn laut „Washington Post“ nutzen Kinder Youtube Kids kaum, und mit dem Erstellen kreativer Inhalte, dem Recherchieren oder dem Online-Lesen verbringen sie laut Common Sense weniger als zehn Prozent ihrer Bildschirmzeit.

Im höchsten Maße schädlich

Eigentlich müssten diese Ergebnisse alle Eltern und Jugendschützer alarmieren. Stattdessen wird von Serviceangeboten wie „Schau hin“, die vom deutschen Familienministerium gefördert werden, zwar einerseits festgestellt, dass die Reife für den verantwortlichen Umgang mit dem Smartphone erst im Alter von zwölf Jahren erreicht wird, zugleich heißt es aber an anderer Stelle, Smartphones für Kinder in einem früheren Alter seien „gut zu sichern“. [Diese Funktionen setzen voraus, dass man sein Nutzungsverhalten kritisch reflektiert und daran etwas ändern will.]

Damit wird den Eltern komplett die Verantwortung übertragen und nicht etwa, wie es beim Jugendschutz sonst üblich ist, auch dem „Anbieter“, der, denken wir an Whatsapp oder Youtube, seine Hände, abgesichert durch zynisch strenge Altersbegrenzungen, in Unschuld waschen kann.

Die Anbieter vertritt der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM). Dies sind mehr als 2.700 Unternehmen der digitalen Wirtschaft, unter ihnen 1.000 Mittelständler, 500 Startups und nahezu alle Global Player. Argumentiert dieser Interessenverband im Sinne und zum Wohle der Kinder und Jugendlichen? Schulforum-Berlin

Es ist dem Bitkom-Präsidenten zuzustimmen, wenn er sagt, dass sich Smartphones aus unserer Zeit „nicht mehr wegdenken“ lassen und Kinder den Umgang unter Aufsicht der Eltern erlernen sollten. Besitzen Kinder jedoch ein – und das ist entscheidend – eigenes Smartphone, werden nicht nur die Eltern durch eine Dauerüberwachung überfordert, sondern, wie die Untersuchung von Common Sense ergibt, vor allem Kinder aus einkommensschwachen Familien benachteiligt, deren Nutzungszeiten deutlich über denen aus besserverdienenden Familien liegen. Man kann das Smartphone eines Kindes gegen allerlei absichern. Diese Sicherungen sind aber leicht zu umgehen. Und da die Inhalte, auf welche Kinder dann bereits zugreifen können, im Sinne des Jugendschutzgesetzes potentiell ihr körperliches, geistiges oder seelisches Wohl gefährden, führt aus rein pragmatischen Gründen kein Weg an einem Verbot des Smartphones für Kinder unter zwölf, besser noch unter vierzehn Jahren vorbei.

Alles an Smartphones, darauf hat der Internetpionier Jaron Lanier immer wieder hingewiesen, ist hard- und softwareseitig von den klügsten Köpfen ihres Faches derart designt, dass sie eine möglichst lange Nutzungsdauer erzeugen sollen. Für Kinder ist das im höchsten Maße schädlich, von der Gefahr des Cybermobbings und Datenmissbrauchs einmal ganz abgesehen. […]

Grau unterlegte Einschübe, Texthervorhebungen im Fettdruck und Einfügung der Grafik durch Schulforum-Berlin.

zum Artikel: FAZ, 2.11.2019, Uwe Ebbinghaus, Gegen frühe Smartphonenutzung: Kein eigenes Smartphone unter zwölf
siehe auch: TSP, 31.10.2019, Sascha Karberg, Florian Schumann, Tilmann Warnecke, Marie Rövekamp, Kein Kinderspiel
siehe auch: Stellungnahme des Präsidenten des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Thomas Fischbach