Archiv für den Monat: Juli 2020

Weniger Abitur, mehr Vernunft

Von George Turner

Prof. Dr. George Turner war von 1986 bis 1989 parteiloser Senator für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin. Von 1989 bis 2000 lehrte Turner erneut als Professor für Wirtschafts- und Agrarrecht sowie Wissenschaftsverwaltung an der Universität Hohenheim. Turner war Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Berliner Tagesspiegel schreibt er eine regelmäßig erscheinende Kolumne.

Der Anteil der Jugendlichen einer Altersgruppe, die das Abitur ablegen, geht leicht zurück. Das wird diejenigen grämen, die unablässig für einen höheren Anteil geworben haben und denen 50 Prozent nicht ausreichen – darunter die Vertreter von Bildung und Kompetenzen der OECD.

Die neue Tendenz zeigt, dass die Betroffenen offenbar vernünftiger sind als die Experten. Dabei sollte unbestritten sein, dass Jugendliche, die über die entsprechenden Voraussetzungen verfügen, die bestmöglichen Bildungsabschlüsse erwerben, unabhängig von der finanziellen und sozialen Situation, in der sie sich befinden. Aber genau so sollte gelten, dass es verfehlte Planwirtschaft ist, wenn eine bestimmte Prozentzahl an Abiturienten als Ziel vorgegeben wird.

Welche verheerende Wirkung solche Signale auf das Schulwesen hat, erkennt man an der Noteninflation beim Abschluss. Die Anzahl der Einser-Abiturienten lässt die Glaubwürdigkeit der Notengebung und die Qualität der Inhaber der Zeugnisse fragwürdig erscheinen. Begonnen hat es mit den Zulassungsbeschränkungen im Fach Medizin. Aspiranten für das Fach wollte man den Zugang verwehren. Wenn man aber das durch Großzügigkeit bei der Notengebung erreichen wollte, musste das Niveau insgesamt angehoben werden, weil sonst solche, die nicht Medizin studieren wollten, ungerecht behandelt worden wären. Daraus ergab sich eine Spirale der ständig besseren Notengebung bis zu nicht mehr nachvollziehbaren Größenordnungen von Scharen von Absolventen mit dem Durchschnitt von 1,0 im Zeugnis.

Wenn nunmehr die Zahl der Abiturienten zurückgeht, kann das auch für den Arbeitsmarkt positive Folgen haben: Der beklagte Facharbeitermangel erklärt sich auch aus der Tatsache, dass es als unvermeidbare Einbahnstraße verstanden wurde, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. Wenn die Reaktion der Betroffenen derart ist, dass sie andere Möglichkeiten des Berufseinstiegs sehen, sollte das dazu führen, dass Verbände und Unternehmen entsprechende Ausbildungsplätze attraktiv gestalten, damit das duale Ausbildungssystem keine Sackgasse für weitere Karrierechancen bedeutet.

Diejenigen, die beklagt haben, dass es zu wenige Bewerber für Berufe in Industrie und Wirtschaft gäbe, sollten jetzt mithelfen, eben dort interessante und zukunftsorientierte Stellen zu schaffen, damit die rückläufigen Abiturientenzahlen sich als das erweisen, was sie sein können: die Erkenntnis weiterer Jahrgänge, dass es nicht nur den einen Königsweg über das Abitur gibt.

Der Beitrag erscheint auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors. Seine E-Mail: george.turner@t-online.de

Bildung in Deutschland 2020

… mit Blick auf das „untere Ende des schulischen Qualitätsspektrums“:

54.000 Jugendliche 2018 ohne Hauptschulabschluss.

Diagramm aus: Bildung in Deutschaland 2020, S. 143

Bereits im vorangegangenen Bildungsbericht zeigte sich, dass auch am unteren Ende des schulischen Qualifikationsspektrums [!] der über viele Jahre beobachtete Rückgang der Abgangsquote nicht anhält. Im Gegenteil: Seit 2013 steigt die Quote auf zuletzt fast 7% wieder an; knapp 54.000 Jugendliche verließen 2018 die allgemeinbildenden Schulen ohne Hauptschulabschluss. Aus: Bildung in Deutschland 2020, S. 144

Das hehre Ziel des Dresdner Bildungsgipfels aus dem Jahr 2008, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss bis zum Jahr 2015 auf vier Prozent zu senken, ist in fast allen Ländern verfehlt worden. Oft ist das Gegenteil der Fall: Die Schulabbrecherquoten sind in die Höhe geschnellt. Im Schulabbruch zeigt sich ein Systemversagen, für das es bisher keine Lösung gibt. […] Derzeit legt jedes Land andere Kriterien zugrunde, um sich die eigenen Zahlen schönzurechnen. In den Kultusministerien will man nämlich nicht so genau wissen, wie viele Schulabbrecher es tatsächlich gibt, weil sich schulpolitisches Scheitern nirgendwo deutlicher zeigt. FAZ, 25.08.2019, Heike Schmoll, Im Schulabbruch liegt Systemversagen

In Berlin verlassen deutschlandweit die meisten Jugendlichen die Schule ohne einen Abschluss.

Das hat eine am 29.07.2019 veröffentlichte Studie der Caritas ergeben. Laut dieser hatten 2017 11,7 Prozent der Schulabgänger keinen Hauptschulabschluss. 2015 waren es noch 9,3 Prozent [siehe nachfolgender Kasten]. Der Bundesdurchschnitt lag im Jahr 2017 bei 6,9 Prozent. Sie war damit einen Prozentpunkt höher als 2015 und lag auf demselben Niveau wie vor zehn Jahren. Bundesweit waren laut Caritas über 52.000 Jugendliche betroffen – 5000 mehr als noch zwei Jahre zuvor.

Auswahl des Diagramms, Hervorhebungen im Fettdruck und Textauswahl im Kasten durch Schulforum-Berlin.


Mehr zum Thema:

Das neue Grundsatzprogramm der Grünen versteht Bildungspolitik primär als Sozialpolitik. Den Anforderungen unserer Wissens- und Leistungsgesellschaft wird das Programm dadurch nicht gerecht.
Website von Rainer Werner, Gymnasiallehrer in Berlin und Buchautor

Berlin hat eine Bildungs-Leerstelle Die rot-rot-grüne Bildungspolitik ist eine Aneinanderreihung politischen Versagens.
Tagesspiegel, 06.08.2019, Kommentar von Sabine Beikler

1700 Berliner Zehntklässler ohne Abschluss
Mehr als jeder achte Sekundarschüler scheitert an den Prüfungshürden. Tagesspiegel, 16.10.2019, Susanne Vieth-Entus

Nationaler Bildungsbericht: Was wird aus den Schulabbrechern?
Es ist erschreckend, dass die Gruppe der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss im neuen Bildungsbericht um zwanzig Prozent gewachsen ist.
FAZ, 24.06.2020, Heike Schmoll