Archiv für den Monat: Mai 2021

Mit Ruhe, Regeln, Ritualen und Empathie erfolgreich gegen den Bildungsnotstand – eine Buchrezension

von Inge Lütje

Am 9. Mai erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, verfasst von Uwe Ebbinghaus, eine Rezension des Buches „Wahnsinn Schule – Was sich dringend ändern muss“. Autoren dieses Buches sind der Schulleiter der Friedrich-Bergius-Oberschule in Berlin, Michael Rudolph, und Susanne Leinemann, Bildungsredakteurin für die „Berliner Morgenpost“. Das Buch ist das Ergebnis der jahrelangen Tätigkeit von Rudolph als Lehrer, zunächst seit 1978 an Brennpunktschulen in Kreuzberg und Neukölln, später als stellvertretender Schulleiter und dann als Direktor der Bergius-Schule, die, bevor er sie 2005 übernahm, wegen des schlechten Rufes und daraus folgend zu geringer Anmeldungen von der Schließung bedroht war. Wir haben es also mit einem ausgewiesenen Kenner der Schulentwicklung in Berlin und der Schülerschaft der heutigen integrierten Sekundarschule (Klasse 7 bis 10, ohne gymnasiale Oberstufe) zu tun.

Uwe Ebbinghaus kann der in dem Buch anschaulich und durch viele Beispiele nachvollziehbar beschriebenen Pädagogik und Methodik, die die Bergius-Schule zu einer über den Bezirk hinaus anerkannten Institution gemacht hat, durchaus Positives abgewinnen. Er würdigt die „schonungslose Diagnose“ des Schulleiters, seine „intellektuelle Redlichkeit“, mit der er „die stärksten Argumente gegen sein strenges Regime selbst ins Spiel bringt“, sein „glaubhaftes Anliegen, seinen Schülern, unabhängig von ihrer Herkunft, eine berufliche Zukunft zu ermöglichen“. Doch bereits mit der Überschrift „Feuerzangenbowle statt Fack ju Göhte“ legt er dem Leser ein negatives Urteil nahe, denn der Roman steht für eine seelenlose Pädagogik, für schrullige, autoritäre Pauker der Kaiserzeit. (Dass Heinrich Spoerl die einfallsreichen und witzigen Streiche der Schüler in den Mittelpunkt stellt, mit denen sie das autoritäre Gehabe ihrer Lehrer untergraben, entgeht Ebbinghaus augenscheinlich.) Diese Einschätzung wird im Verlauf der Rezension noch durch weitere Äußerungen untermauert: Da wird die Bergius-Schule als „Kadettenanstalt“ bezeichnet, die pädagogischen Maßnahmen werden mit „ans Militär erinnernde[n] Disziplinarmaßnahmen“ verglichen und der Verfasser stellt bereits in der Überschrift die Frage: „[…] ist sein System wirklich fair?“, eine rhetorische Frage, auf die er in seinem Text nicht weiter eingeht. 

Diese Beurteilung wird dem Anliegen von Rudolph und seinen Kolleginnen und Kollegen in keiner Weise gerecht. Um deren Pädagogik und Methodik sachgerecht einschätzen zu können, muss es zunächst eine Bestandsaufnahme geben. Worin besteht – so der Titel des Buches – der „Wahnsinn Schule“? Und um welche Schule bzw. Schüler handelt es sich? Zusammengefasst beschreiben die Autoren die betreffende Schülerschaft so: für viele gilt Bildungsferne, prekäre Verhältnisse, Migrationshintergrund, auffällige Verhaltensprobleme. Weiterhin konstatieren die Autoren eine zunehmende Schuldistanz und mangelnde Lernbereitschaft, Zuspätkommen, Gewalt gegen Mitschüler, keine Achtung vor Erwachsenen, viel zu große Klassen mit einer beängstigenden Leistungsspanne, Störer, geringe Konzentrationsfähigkeit. Aber: „Diese Schüler sind nicht weniger intelligent, nicht weniger begabt als Schüler aus bürgerlichen Elternhäusern. Doch sie brauchen eine andere Art von Unterstützung“ (S. 187). Und sie stellen fest, „[…] dass viele Schüler in offenen, selbstorganisierten Unterrichtsformen, die sie häufig in der Grundschule erlebt haben, zu wenig gelernt haben, zu einfach abtauchen konnten“ (S. 30). Anschaulich wird das durch ein Beispiel: Jeder neue Schüler, der ja bereits sechs Schuljahre hinter sich hat, wird im persönlichen Eingangsgespräch unter anderem gefragt: „Kannst du mir sagen, was 3 mal 9 ist?“ (S. 15). Das Ergebnis, so Rudolph, sei niederschmetternd: Nur ein Drittel nennt das richtige Ergebnis, ein weiteres Drittel kann, oft nur mit großer Anstrengung und unter Zuhilfenahme der Finger, eine korrekte Antwort geben und vom letzten Drittel kommt nichts. Die Daten der jüngsten PISA-Studie, des IQB-Bildungstrends und des Vergleichstests „VERA“ geben dieser Einschätzung recht, die Ergebnisse sind, vor allem für die integrierten Oberschulen, alarmierend. Treffend spricht Rudolph von „Kollateralschäden“ der aktuellen Bildungspolitik, die aber von dieser „banalisiert“ (S. 35) würden, und er stellt fest: „Unsere Kinder verlernen zunehmend, sich anzustrengen“ (S. 42). Diese verheerenden Ergebnisse müssten eigentlich nicht nur die Bildungspolitiker auf den Plan rufen, sondern die gesamte Gesellschaft!

Welche Konsequenzen hat Rudolph zusammen mit seinem Kollegium aus dieser Bestandsaufnahme gezogen, als er 2005 als Rektor antrat? Gleich am Anfang seines Buches schreibt er: Hier soll „nicht ein einziges pädagogisches Konzept propagiert werden, denn uns ist immer bewusst: Es geht auch ganz anders. Jede Schule ist eine andere“ (S. 12). Und er fährt fort: Aber alle Wege sollten „ein gemeinsames Ziel haben: Wissen zu vermitteln und ein gutes Sozialverhalten zu entwickeln. Es geht um Leistung und um das Miteinander. Es gibt zwei Fragen, die sich […] jedes Kollegium immer wieder stellen muss […]: Haben meine Schüler genügend gelernt? Handeln sie umsichtig?“ (S. 13). Zusammengefasst heißt sein Konzept: „Leistung fordern, Sozialverhalten fördern, Berufsfähigkeit erreichen“ (S. 117). Auf diesen drei Säulen beruht die pädagogische und methodische Arbeit.

„Leistung fordern“: Die Ausgangsfrage von Rudolph lautet: „Wie bringt man Kinder voran, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens aufwachsen und damit eine viel schlechtere Ausgangsposition haben?“ (S. 183). Seine Antwort: Der Unterricht beginnt pünktlich (nach eigener Erfahrung aus 35 Jahren Lehrertätigkeit an einem Gymnasium keine Selbstverständlichkeit!) mit einer Begrüßung im Stehen, nicht erlaubt sind Handys, Basecaps, Kaugummi, Essen und Trinken; wer diese Gebote ignoriert, muss mit Maßnahmen rechnen; das Arbeitsmaterial liegt auf dem Tisch; Rituale, Regeln und Ruhe ermöglichen einen konzentrierten Unterricht, es wird viel gelernt, geübt und wiederholt: „Die Basis muss sitzen – denn aus der Basis erwächst das freie Denken“ (S. 36). Und „Wenn man etwas weiß, wenn man den Stoff begriffen hat, dann stellt man Zusammenhänge her […]“ (S. 38). Rudolph schreibt: „Wir haben nicht nur versucht, unseren Schülern etwas beizubringen, sondern auch, ihnen neue Welten zu eröffnen“ (S. 117). Als Beispiele nennt er die gelesene Lektüre: „Krabat“, „Der kleine Prinz“, „Nathan der Weise“, Bücher von Fontane und Inge Deutschkron und „Die Glocke“. Er warnt davor, Schüler zu unterschätzen, „besonders Hauptschüler“ (S. 117). Und er betont, dass Schüler zum Lernen die direkte, individuelle Ansprache „von Mensch zu Mensch“ (S. 204) brauchen.

„Sozialverhalten fördern“: Lernen, so Rudolph, sei nur möglich, wenn Schüler sich in einer Schule wohlfühlen, wenn sie das Gefühl haben, gut aufgehoben zu sein. Erziehung sei die Voraussetzung für das Lernen. Sein Fazit: „Ohne Erziehung kann man keine gute Schule führen. Besonders nicht, wenn man einen größeren Anteil verhaltensauffälliger Schüler hat“ (S. 51). Die Antwort eines Schülers gibt ihm Recht, der, von einem Journalisten gefragt, wie er es in der Schule finde, antwortet: „Das sei die beste Schule, auf der er jemals gewesen sei […]. Weil ich hier nicht machen kann, was ich will […]“ (S. 123). Rudolph stellt fest: „Die Regeln und Grenzen gaben ihm offenbar zum ersten Mal die Möglichkeit, sich wirklich zu entwickeln“ (S. 123). Die Regeln sind einfach und sie werden den Schülern in ihrer Bedeutung für einen gelingenden Schulalltag erläutert: Pünktlichkeit, Höflichkeit, Fleiß, keine Gewalt, keine Respektlosigkeit, keine Drogen. Kommt es zu Verstößen, folgen Konsequenzen.

Diese werden von Ebbinghaus als „Disziplinarmaßnahmen“ bezeichnet und stehen im Mittelpunkt seiner Kritik. Dabei nennt Rudolph nur zwei: Bei Missachtung des Handyverbots wird dieses vier Wochen eingezogen und wer morgens zu spät kommt, findet eine verschlossene Schultür vor, muss sich beim Hausmeister melden und wird zu Säuberungstätigkeiten herangezogen. Erst zur zweiten Stunde darf er in den Unterricht, den er ja sonst, als Zuspätkommender, stören würde.

Rudolph wird vorgeworfen, dass diese Regelungen „patriarchalisch“ seien, dass seine Schule als der verlängerte Arm der in arabischsprechenden Familien strengen Erziehung handele, diese damit zementiere. Ebbinghaus fordert „zeitgemäßere“ Maßnahmen, „die vielleicht auch in irgendeinem Bezug zu dem jeweiligen Vergehen oder Versäumnis“ stünden. Was immer Ebbinghaus sich darunter vorstellt (vielleicht die Entwicklung einer Bastelanleitung für Wecker?): Putzen ist keine schmachvolle Tätigkeit, sondern trägt dazu bei, dass sich alle in einer gepflegten Umgebung wohlfühlen. Der Psychologe Ahmad Mansour berichtet in einem Interview in „Der Tagesspiegel“ vom 11. Mai von einem jungen Flüchtling, der ihm erzählt hat: „Wenn ich drei Mal zu spät komme, darf ich nach Hause gehen.“ Mansour kommentiert: „Das war für ihn keine Strafe, das war für ihn eine Belohnung.“ Verglichen damit nimmt Rudolph seine Schüler ernst: „Die Botschaft muss sein: Es ist nicht alles egal […]“ (S. 167). „Wer erziehen will, muss viel mit den Schülern reden. Das Gespräch ist die Grundlage für alles Weitere“ (S. 60). Und: „Man muss die Schüler als Person respektieren, […] man darf sie nicht abstempeln und niemals aufgeben“ (S. 169), denn: „Die Schule ist – anders als das spätere berufliche Leben – ein Ort der neuen Chancen […]“ (S. 61). Aus diesem Grund versucht Rudolph, auch Schüler mit schweren Vergehen, bei denen er mit der Polizei zusammenarbeitet, an der Schule zu halten. Man müsse „[…] mit ihnen reden, sie reflektieren lassen, was geschehen ist, indem sie alles aufschreiben und selber Wege aufzeigen, die herausführen können. Und darauf vertrauen, dass der Knoten irgendwann platzt, […]“ (S. 230). Rudolph legt auch großen Wert auf die Zusammenarbeit mit den Eltern. Diese „[…] müssen immer eine Chance haben, sich mit der Schule in Verbindung zu setzten. Wir als Schule brauchen die Mithilfe der Eltern“ (S. 162). Offen gibt er zu: „Und ja, es gibt auch Fälle, bei denen wir scheitern. Aber versuchen muss man es immer, man darf keinen Schüler aufgeben“ (S. 62).

„Berufsfähigkeit erreichen“: 40 bis 50 Prozent der Schüler wechseln nach der 10. Klasse auf eine Schule mit gymnasialer Oberstufe und machen Abitur – eine im Vergleich mit anderen Sekundarschulen erstaunlich hohe Anzahl. Und es liegt auch auf der Hand, dass solchermaßen vorbereitete Schülerinnen und Schüler, wenn sie die Schule mit dem MSA verlassen, leichter einen ihren Wünschen und ihrem Leistungsvermögen entsprechenden Ausbildungsplatz bekommen.

Anders als Uwe Ebbinghaus in seiner Rezension suggeriert, liegt der Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit in der Bergius-Schule also nicht auf Gehorchen, Funktionieren, Disziplinieren und Bestrafen. Sondern hier versucht ein Schulleiter im Schulterschluss mit dem Kollegium, mit Hausmeister, Sekretärin und Eltern täglich aufs Neue, Heranwachsenden Wissen und Kenntnisse zu vermitteln, sie zum Denken anzuregen und ihnen Verantwortung für ein Leben in der Gemeinschaft zu übergeben. Nimmt man die rhetorische Frage von Ebbinghaus ernst: „[…] ist sein System wirklich fair?“, so kann man nur aus vollem Herzen mit „Ja!“ antworten.

Das Buch ist anschaulich und verständlich geschrieben, es regt zum Denken an und überzeugt durch die Entschiedenheit, mit der die Bedeutung des Lernens für die positive Entwicklung Jugendlicher dargelegt wird. Deshalb sind ihm viele Leser zu wünschen: Referendare, die mit ihrem Rollenverständnis hadern, die Autorität mit autoritär verwechseln; Schulleiter, die den sich übereilenden sogenannten Bildungsreformen etwas entgegensetzen wollen; Lehrerinnen und Lehrer vor allem an integrierten Sekundarschulen, die täglich konfrontiert werden mit Schuldistanz, fehlender Anstrengungsbereitschaft und Respektlosigkeit und die merken, dass diese Verhaltensweisen nicht mit offenen, selbstorganisierten Unterrichtsformen und individualisiertem Lernen behoben werden können; auch in den Lehrerverbänden und der Senatsschulverwaltung sollte das Buch diskutiert werden, wobei ich mir da wenig Hoffnung auf ein positives Echo mache.

Und dem Kollegium der Friedrich-Bergius-Oberschule ist zu wünschen, dass es auch nach der Pensionierung von Herrn Rudolph in diesem Sommer weiterhin die tägliche Arbeit mit den Jugendlichen erfolgreich fortsetzen kann. 

Michael Rudolph, Susanne Leinemann, Wahnsinn Schule – Was sich dringend ändern muss, Rowohlt Berlin, Januar 2021, 256 Seiten, ISBN: 978-3-7371-0094-6

Der Beitrag erscheint auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung der Rezensentin.

LESEN IM 21. JAHRHUNDERT

21 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler sind nicht in der Lage, sinnentnehmend zu lesen. 

Lesekompetenzen in einer digitalen Welt. Deutschlandspezifische Ergebnisse des PISA-Berichts „21st-century readers“

Anlass für die genauere Betrachtung der oben genannten Studie war der Leitartikel in der Printausgabe des Tagesspiegels vom 5.5.2021 mit der Überschrift: „Schule digital – Die große Leere in der Lehre“ [1] von Anke Myrrhe.

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin

Sie eröffnet ihren Kommentar mit dem Hinweis auf eine dauerhafte Schockstarre nach den Pisa- Bildungsstudien, kommt auf die soeben veröffentlichte Pisa-Sonderauswertung „Lesekompetenz in einer digitalen Welt“ und findet, dass die Meldung „Jugendliche in Deutschland fühlen sich digital schlecht unterrichtet“ zu wenig „Schlagzeilen“ mache. Um dies zu untermauern führt sie an, dass „die stetige Kreidezufuhr an vielen Schulen wesentlich wichtiger war als der Breitbandausbau.“

Sie befürchtet, dass es „nach mehr als einem Jahr Ausnahmezustand weiterhin heißen [wird]: frontal, live und mit viel Kreide.“ Die „Chance für eine andere Art der Bildung“, so ihre Erkenntnis, wurde wieder einmal „verpasst“ – „eine digitale Revolution an den Schulen“ bleibt aus. Was sie unter „Bildung“ versteht lässt sie offen – weist aber noch auf „innovative Konzepte, tolle Projekte und fantastisch funktionierenden Digitalunterricht“ hin. Diese „Message“ könnten die Vertreter der IT- und Medienindustrie, deren Lobbyisten und die Sprecher der konzernnahen Stiftungen nicht besser in die Welt setzen.

Für den Pädagogen wird deutlich: Anke Myrrhe hatte mit ihren Aussagen nicht die Schüler im Auge sondern vertritt in euphemistischer Weise die Interessen der IT- und Medienindustrie. Für diese ist die „Digitalisierung der Bildung“ ein milliardenschweres Geschäft, welches als gewinnbringendes „Bildungskonzept“ an unseren Schulen umgesetzt werden soll. Sie verkaufen ihre digitalen Lehr- und Lernprodukte als Lösung für Probleme, zu deren Verschärfung sie beitragen.

Mittlerweile sehen auch Schüler, dass es bei dem Hype: „Digitalisierung der Schule“ nur vordergründig um Lernförderung geht. Die Auswirkungen der Vereinzelung beim individuellen Lernen, der Frontalunterricht vor dem Bildschirm, das Fehlen einer empathischen Resonanz, die Auflösung der Klassengemeinschaft sowie die unkontrollierbare Nutzung und weitere Verwertung ihrer gespeicherten Daten, werden von den Akteuren bewusst verschleiert.

Was Anke Myrrhe bei ihrer „Digitaleuphorie“ verschweigt und übergeht sind die Ergebnisse aus der von ihr erwähnten Pisa-Sonderauswertung „Lesekompetenz in einer digitalen Welt“.

Dieser zufolge hat sich die Internetnutzung der 15-Jährigen im OECD-Raum zwischen 2012 und 2018 von 21 auf 35 Stunden wöchentlich erhöht.

2018 entsprach die Internetnutzung der 15-Jährigen fast der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit eines Erwachsenen im OECD-Raum. (S. 4)

Festgestellt wurde ein negativer Zusammenhang zwischen den Schülerleistungen im Bereich Lesekompetenz und der Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke. In Deutsch­land war dieser negative Zusammenhang am stärksten ausgeprägt. (S. 6)

Weiter wurde berichtet, dass die Freude der Schüler*innen am Lesen deutlich abge­nommen hat. Der stärkste Rückgang war in Deutschland, Finnland und Norwegen zu beobachten. Der Anteil der Schüler*innen in Deutschland, die Eigenangaben zufolge nur dann lesen, wenn sie müssen, war in PISA 2018 beispiels­weise um 11 Prozentpunkte höher als in PISA 2009. (S.7)

Rund 21 % der Schüler*innen in Deutschland erreichen im Bereich Lesekompetenz nicht das für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft erforderliche Mindestniveau. (S. 17)

Aus den Ergebnissen nach sieben PISA-Runden und vier IGLU-Runden ist aus allen Studien zu entnehmen, dass die Leseförderung in Deutschland sowohl in der Primar- als auch in der Sekundarstufe dringend ausgebaut werden muss. Außerdem ist es notwendig, schwachen Leistungen im Bereich Lesekompetenz bereits ab dem Vorschulalter und über die ganze Schulzeit hinweg vorzubeugen. (S. 17)

Nichts von all dem im Kommentar von Anke Myrrhe.

Texthervorhebung in den grau unterlegten Einschüben durch Schulforum-Berlin.


Zur Erinnerung: Die Studie wurde finanziert von der Vodafon Stiftung.

[1] In der Onlineversion lautet die Überschrift: „Warum der Präsenzunterricht als oberstes Ziel falsch ist“. Die verpasste Revolution: Die Pandemie-Zeit wäre eine Chance gewesen für eine andere Art der Bildung. 

Siehe auch die Stellungnahme von Robert Rauh im Tagesspiegel vom 11.05.2021: „Der Präsenzunterricht als oberstes Ziel bleibt richtig“.

Siehe auch: FAZ, 20.05.2021, Heike Schmoll, Kein Glück beim Lesen – Deutsche Jugendliche sind viel im Internet unterwegs. Ihnen fehlt aber die Orientierung

Individuelles Lernen

Ein Kulturbruch zu Lasten der Schüler

CICERO-online, 03.05.2021, ein Gastbeitrag von Rainer Werner

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

Die Grünen favorisieren die Methode des individuellen Lernens. Was gut ist für die Kinder des Bildungsbürgertums, erweist sich für Kinder aus sozial benachteiligten Familien als schädlich.  

Wer als Lehrer schon einmal in einer heterogen zusammengesetzten Klasse – etwa in einer Gesamtschule – unterrichtet hat, dem wird folgende Situation vertraut vorkommen: Die Lehrkraft erläutert im Geschichtsunterricht der 8. Klasse die Gewaltenteilung, die in der Französischen Revolution das absolute Herrschaftssystem der Könige zerbrochen hat. Schnell wird deutlich werden, dass die leistungsstarken Schüler das Prinzip der Trennung der staatlichen Gewalten im Nu verstehen, während es den leistungsschwachen Schülern schwerfällt, den Sinn dieser demokratischen Herrschaftsform zu begreifen.

Die Lehrkraft wird den Umweg über ein lebensnahes Beispiel – etwa aus dem schulischen Leben – nehmen müssen, um Gewaltenteilung auch für die Schüler mit geringem Abstraktionsvermögen sinnlich erfahrbar und dadurch begreiflich zu machen. Mit den guten Schülern hätte sie schon längst im Stoff voranschreiten und noch weit schwierigere Sachverhalte diskutieren können. Die meisten Lehrkräfte werden jedoch, dem sozialen Anspruch der Gesellschaft und ihrem pädagogischen Gewissen gehorchend, so lange auf die Verständnisprobleme der leistungsschwachen Schüler eingehen, bis sie das Gefühl haben, dass sie das Geforderte annähernd verstanden haben.

In der Regel bleiben während dieser „Förderphase“ die guten Schüler ohne Aufgabe, im besten Fall wird ihnen die Lehrkraft raten, im Geschichtsbuch schon einmal das nächste Kapitel zu lesen. Eine nachhaltige Förderung der leistungsstarken Schüler kann man das nicht nennen.

Ausweg individualisiertes Lernen

Die Grünen sind an elf Landesregierungen beteiligt, stellen aber in keinem der Länder den Kultusminister. Dennoch haben sie es geschafft, der Schulpolitik der Länder eine grüne Handschrift zu verpassen. Sie konnten ihre Lieblingsschulform, die Gemeinschaftsschule, in den jeweiligen Schulgesetzen verankern. In dieser Schule werden Schüler unterschiedlicher Begabung, sozialer und ethnischer Herkunft gemeinsam unterrichtet. Die Heterogenität im Klassenzimmer ist gewollt, weil sie nach Meinung der Grünen die gesellschaftliche Wirklichkeit ideal abbildet.

Um mit den großen Unterschieden bei Begabung, Vorwissen und Lernmotivation umgehen zu können, muss das Lernen individualisiert werden. Jeder Schüler erhält einen auf ihn abgestimmten persönlichen Lernplan und das dazugehörige Unterrichtsmaterial, das er eigenständig abarbeitet. Die Kunst der Lehrkräfte besteht darin, die Lernpläne passgenau nach Intelligenz und Auffassungsgabe der Schüler zu erstellen.

Wie die praktischen Erfahrungen zeigen, geht die Lernentwicklung innerhalb einer Klasse schon nach wenigen Tagen stark auseinander. Die Begabungsvielfalt schlägt sich in unterschiedlichen Lerntempi nieder. Die Situation ist vergleichbar mit einem 5000-Meter-Lauf, bei dem professionelle Läufer gemeinsam mit Hobby-Läufern antreten. Schon nach wenigen Runden werden die ersten Amateure von den Profis überrundet.

Das individuelle Lernen trägt den unterschiedlichen Lerntempi dadurch Rechnung, dass die Lernerfolgskontrollen zu unterschiedlichen Zeiten angesetzt werden. Die lernstarken Schüler schreiben sie zuerst, die langsameren Lerner folgen im zeitlichen Abstand zur Spitzengruppe. Die Lehrer fungieren beim individuellen Lernen als „Lernbegleiter“. Ihre Aufgabe ist es, die Schüler fachlich zu unterstützen und mental zu ermuntern. Dabei gilt die Prämisse, dass die Schüler die Lösung der im Lernmaterial gestellten Aufgaben zuerst selbst finden sollen, bevor sie die Hilfe des Lehrers in Anspruch nehmen.

Selektion durch die Hintertür?

Da diese Lernform recht jung ist, gibt es noch keine belastbaren wissenschaftlichen Studien über ihre Effektivität. Es gibt allerdings Erfahrungsberichte von Eltern. Darin wird vor allem die Besorgnis ausgedrückt, dass die langsamen Lerner sich gegenüber den schnellen zurückgesetzt fühlen. Von einem „Rattenrennen“ und einer neuen Form von Stigmatisierung ist die Rede, die die alte, durch „Selektion“ nach Begabungen erzeugte, abgelöst habe. 

Wissenschaftliche Kritiker bemängeln vor allem, dass die starke Spreizung der Begabungen und das unterschiedliche Lerntempo kein Unterrichtsgespräch mehr zulasse. Die Klasse kommt nämlich, wenn das „Rennen“ erst einmal begonnen hat, nie mehr an einen gemeinsamen Punkt, wo sich eine Zusammenfassung der Lernergebnisse oder eine Problematisierung der Gegenstände anbieten würde.

Die Befürworter des individuellen Lernens betonen, dass diese Lernform die einzige Methode sei, die ein gemeinsames Lernen von Kindern völlig unterschiedlicher Begabung zulasse. Sie sei der Differenzierung nach Fachleistungskursen, wie sie die Gesamtschule praktiziert, vorzuziehen, weil die individuellen Lernpläne noch zielgenauer als die Fachleistungskurse auf das Persönlichkeitsbild der Schüler abgestimmt werden könnten. 

Einzelkämpfer erwünscht

Dass die Schüler nach einer kurzen Einführung durch die Lehrkraft mit dem Lernstoff allein gelassen werden, wie es das Dogma vom individualisierten Lernen verlangt, ist die große Schwäche dieser Methode. Jeder, der anderen schon einmal etwas vermittelt hat – ob Kindern oder Erwachsenen –, weiß:  Auch das Denken will angeleitet sein. Das ist ja gerade der große Vorzug des vom Lehrer gelenkten Unterrichtsgesprächs, dass er in jeder Phase des gemeinsamen Lernprozesses die Impulse so setzen kann, dass die Schüler auf die richtige Fährte gelenkt werden.

Die schöne Metapher, dass „jemandem ein Licht aufgeht“, veranschaulicht diesen Erkenntnisprozess. Wie sollen solche Gedankenblitze entstehen, wenn ein Kind allein vor sich hinbrütet und immer gesagt bekommt, es dürfe die Lehrkraft nur zu Hilfe rufen, wenn es unbedingt nötig sei?  Eltern berichten, dass die Kinder den Lehrer in seiner traditionellen Rolle vermissen: als Erklärer, Ratgeber, Helfer, Inspirator, Vorbild.

Im herkömmlichen Unterricht haben diejenigen Lehrer den größten Erfolg, die für ihren Lernstoff „brennen“, die ihn mit Leidenschaft vermitteln und durch ihr „Feuer“ die Kinder dafür begeistern. Wie aber soll das Feuer zünden, wenn die Lehrkraft zum „Lernbegleiter“ degradiert wird, der nur noch für unvermeidbare Nachfragen der Schüler zur Verfügung steht?

Das individualisierte Lernen beschädigt eine wichtige Kulturform: das Gespräch. Erfahrene Lehrer wissen, dass die effektivste Sozialform des Unterrichts – aller moderner Unterrichtsmethoden zum Trotz – immer noch das Gespräch darstellt. Es ist nicht nur eine ideale Methode, individuelle Einsichten, die jeder einzelne Schüler auf seine spezielle Art gewonnen hat, mit anderen Schülern auszutauschen. Es hat auch eine erzieherische Funktion, weil es eine wichtige Grundlage unserer Demokratie stärkt: den vernunftgeleiteten Diskurs.

Eltern an die Front

Umfragen unter Eltern haben ergeben, dass die Kinder an Gemeinschaftsschulen sehr stark auf die Hilfestellung ihrer Eltern angewiesen sind. Sie müssen zu Hause das erklären, was die Lehrkraft im Unterricht nicht geleistet hat. Die Eltern fühlen sich in eine Rolle gedrängt, die nicht die ihre ist. Schlechtes Gewissen bei Misserfolgen des Kindes in der Schule und Konflikte zwischen Eltern und Kind sind die unvermeidliche Folge.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass eine Bildungspolitik, die den Lernerfolg der Kinder „vom Geldbeutel der Eltern“ entkoppeln will, durch eine problematische Lernmethode genau diese Abhängigkeit wieder verfestigt. Den Kindern aus dem Bildungsbürgertum wird nämlich zu Hause die Hilfe zuteilwerden, auf die viele Kinder aus der Unterschicht oder aus dem Migrantenmilieu verzichten müssen. 

Das Homeschooling während der Corona-Lockdowns war ein Großversuch in individualisiertem Lernen. Er hat gezeigt, dass Kinder aus bildungsaffinen Elternhäusern gut damit zurechtkommen, während viele Kinder aus sozial unterprivilegierten Milieus abgehängt werden. Schuld daran ist weniger das unterschiedliche digitale Equipment als der Grad an Unterstützung durch die Eltern. 

Lernmethode für die guten Schüler 

Ein Aspekt wird von den Befürwortern des individualisierten Lernens gerne übersehen. Von dieser Lernform profitieren in erster Linie die leistungsstarken Schüler, weil sie sich selbst gut organisieren und disziplinieren können. Der Nestor der (west-)deutschen Didaktik Hermann Giesecke warnte schon vor Jahren vor der Illusion, lernschwache Kinder könnten von heterogenen Lerngruppen profitieren, wenn man nur das Lernen differenzierte: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“

Und dieser „direkt angeleitete“ Unterricht, das vom Lehrer gelenkte Gespräch, ist nur in relativ homogenen Lerngruppen zu leisten. Wer das eine – „gemeinsames  Lernen“ – will, muss das andere – das gegliederte Schulsystem mit seinen homogenen Klassen – verteidigen.

Die Klasse als Heimat

Das individualisierte Lernen macht Kinder zu Einzelkämpfern. Es geht vor allem das verloren, was ein Klassenverband für die Schüler immer auch bedeutet: Ort der Gemeinschaft, des Schutzes und der Kameradschaft zu sein.

Bis heute hat die Klasse die Funktion, dass sich die Kinder aneinander messen können, dass sie sich gegenseitig anspornen, einander aber auch solidarisch helfen, wenn es nötig ist. Warum eine Politik, die Bildung gerne durch die „soziale Brille“ betrachtet, ausgerechnet die soziale Funktion einer Schulklasse geringachtet, gehört zu den vielen Ungereimtheiten, mit denen diese Lernmethode behaftet ist.

Das individualisierte Lernen erweist sich letztlich als isoliertes, im Wortsinn unsoziales Lernen: „Irgendwie paradox: Auf Unterrichtsebene wird Vereinzelung propagiert, während man auf Schulstrukturebene, länger gemeinsam lernen‘ skandiert“, so der Lehrer und Autor Michael Felten. 

Die Schwächung, ja Auflösung des Klassenverbandes kommt einem sozialen Kulturbruch gleich. Die Schulromane „Das fliegende Klassenzimmer“ von Erich Kästner, „Die Feuerzangenbowle“ von Heinrich Spoerl und die Schulgeschichten aus den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann wären ohne die Schulklasse als Organisationsform nicht geschrieben worden.

Die Klasse ist für die Schüler nicht nur Lernort, sie ist auch Ort der sozialen Auseinandersetzung, der Selbstbehauptung und Rollenerprobung. Und sie ist Schutzraum vor den Zumutungen rabiater Lehrer, schulischer Dramen oder persönlicher Krisen. Welchem Erwachsenen hat sich „seine“ Schulklasse nicht ins Gedächtnis eingegraben? Wem ist „seine“ Klasse nicht als der Ort vor Augen, in dem man Jahre seines jungen Lebens an der Seite von Freunden und Kameraden zugebracht hat?

Diesen Ort preiszugeben, ist eine pädagogische Ursünde, weil sie den Kindern einen wichtigen Schonraum raubt und sie als Einzelwesen auf sich selbst zurückwirft.

Ermutigung

Allen Lehrern dieser Republik lege ich die „gedruckte Erlaubnis“ des Pädagogen Jochen Grell ans Herz: „Du darfst direkt unterrichten, auch die ganze Klasse auf einmal. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du Schüler belehren willst. Die Schule ist ja erfunden worden, damit man nicht jedes Kind einzeln unterrichten muss.“

zum Artikel: Ein Kulturbruch zu Lasten der Schüler

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.