Archiv für den Monat: November 2022

Das „digitale Bildungskonzept “ der Stiftungen

Leserbrief von Manfred Fischer an den Tagesspiegel

Die Absichten bei der Digitalisierung der Schule

Im Tagesspiegel vom 18.11.2022 wird unter der Überschrift „Was die digitale Schule lernen muss“, von einer Konferenz berichtet, die vom „Forum Bildung Digitalisierung“ in Berlin veranstaltet wurde. Ein Blick auf die wirklichen Absichten der zusammengeschlossenen Akteure ist angesagt.

Im Fokus von Jacob Chammon, ehemals Schulleiter und heute Vorstand des Forums, steht die Nutzung der digitalen Potenziale, „um das System Schule auf eine digital und von zunehmenden Unsicherheiten und Krisen geprägte Welt auszurichten“. Gefordert wird ein Kulturwandel zur digitalen Transformation des deutschen Schulsystems. Was die beteiligten Aktivisten unter den vorgegebenen „digitalen Potenzialen“ verstehen und wie sie diese für die Schule „nutzen“ wollen, wird deutlich in der von der Deutschen Telekom Stiftung 2021 veröffentlichten Trendstudie „KI@Bildung“ mit dem Titel „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“. Darin wird bereits im ersten Absatz festgestellt: „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren, bieten erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“. Betrachtet man die Strategie der im „Forum Bildung Digitalisierung“ zusammengefassten Akteure – darunter, man staune, die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung – und der mit ihnen verbundenen Konzerne genauer, entdeckt man ein perfektes Zusammenspiel. Es geht darum, das „digitale Bildungskonzept“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Schulen umzusetzen.

Die Vereinzelung beim Lernen vor dem Bildschirm, die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, der Verlust von Sozialkompetenzen sowie der stete Leistungsabfall in den Grundkompetenzen, all das wird kommentarlos hingenommen.

Ist die Fokussierung auf eine „digitale Schule“, wie die Education Technology-Unternehmen und ihre Lobbyisten es fordern, zum Nutzen unserer Schülerinnen und Schüler?

Tablets für alle – Kindergarten und Schule gerettet!?

Karin Prien ist seit Jahren Bildungspolitikerin und aktuell bis Jahresende auch Präsidentin der Kultusministerkonfernz. Vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin kam die Studie „Bildungstrend 2021“ heraus, die den Viertklässlern noch gravierendere Defizite in Deutsch und Mathematik bescheinigte als je zuvor.

Rund 27% der Schülerinnen und Schüler in Berlin erreichen im Bereich Lesen und Zuhören – in Orthografie sind dies 46% und in Mathematik 34,5% – nicht das für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft erforderliche Mindestniveau. Ihnen fehlen basale Grundkenntnisse!

Die Erkenntnis der Präsidentin nach bereits sieben PISA-Runden: „Nach Pisa ist viel zu wenig passiert“. Eine Lösung für die Schülerinnen und Schüler sieht sie in den digitalen Medien. Nachfolgend die Entgegnung eines Berliner Lehrers.


Sehr geehrte Frau Präsidentin Prien!

Mit großem Interesse habe ich Ihr Interview im Tagesspiegel vom 30. Oktober gelesen. Die Frage „Braucht jedes Schulkind ein Tablet“ beantworteten Sie mit „Ja, jedes Kind braucht ein Endgerät“, um dann auf Finanzierungsfragen einzugehen.
Über diese (teure) Aussage ohne pädagogische Begründung, ohne wissenschaftliches Fundament war und bin ich doch sehr überrascht, insbesondere wegen Ihrer prominenten und einflussreichen Position und Ihrer ausführlichen Hinweise zuvor, dass Eltern mit ihren Kindern viel sprechen und ihnen vorlesen sollen, persönliche Bindungen und Vorbilder demnach der Kern sind, „basal“ und „unverzichtbar“, wie Sie betonen. Später beklagen Sie die Skepsis von Lehrern gegenüber Lernstandserhebungen und die mangelnde Akzeptanz von Förderprogrammen, deren Nutzen wissenschaftlich erwiesen sei, und fordern deren Verwendung verbindlich.
Ich kenne keine einzige seriöse Studie, die für Kinder oder Jugendliche in der Pubertät einen (nachhaltigen) positiven Effekt von Tablets in Bezug auf Allgemeinbildung in der bzw. durch die Schule oder auf die Primär- oder wenigstens Sekundärtugenden nachweist, schon gar nicht bei Kindern im Grundschul- oder Kindergartenalter, auf die sich das Interview fokussiert. Die Corona-Jahre haben doch unterstrichen, dass der Computer eben nicht die Lösung fürs Erlernen unserer Kulturtechniken ist – im Gegenteil! Die durchschnittlichen Bildschirmzeiten von Kindern und Jugendlichen legen nahe, dass hier wohl kein Nachholbedarf besteht.
Mitnichten bin ich ein Feind digitaler Medien, nutze sie im Unterricht, aber sie bleiben eben vermittelndes Element, sind nicht Selbstzweck – und ganz sicher nicht die eierlegende Wollmilchsau der Bildung in der Schule.
Ein pauschales Ja der Präsidentin der Kultusministerkonferenz zu Endgeräten in der (Grund-) Schule oder gar bereits im Kindergarten vermittelt aber gerade den Eindruck, durch Tablets für jedes Schulkind (prompt) Erfolge erzielen zu können. Sie sagen zu Beginn des Interviews selbst: „In der Bildungspolitik gibt es keine kurzfristigen Erfolge, sondern es helfen nur langfristige Strategien.“
Wie lauten die Strategien und deren wissenschaftliche Begründungen durch unabhängige Forscher?

Mit freundlichen Grüßen,
Thilo Steinkrauß


Thilo Steinkrauß ist Fachbereichsleiter für Mathematik am Herder-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg
www.herder-gymnasium.eu

Siehe dazu auch den Beitrag:
Überwachungstechnologie in der Schule als KMK-„Bildungskonzept“ – Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.