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Smartphone-Daten geben Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsmerkmale

Was dein Smartphone über deinen Charakter verrät

MDR Wissen, 16. Juli 2020, 09:52 Uhr

Für zahlreiche Menschen ist das Smartphone zu einem ständigen Begleiter geworden. Ohne das Telefon in der Tasche, fühlt man sich direkt etwas nackt. Denn es kann ja auch so viel: Apps verraten den Weg, lenken ab oder wir kommunizieren mit unseren Liebsten. Doch das Smartphone erzeugt auch ständig Daten. Und die lassen teils besorgniserregende Rückschlüsse auf unsere Persönlichkeit zu, wie Forschende in einer aktuellen Analyse zeigen konnten.

Smartphones können so einiges – wie viel genau die hoch entwickelten Computer mit den zahlreichen Sensoren können, ist aber den wenigsten Menschen wirklich bewusst. Mit ihnen ist es zum Beispiel ein Leichtes, umfangreiche Aufzeichnungen unseres Verhaltens zu erfassen. Und das kann die Privatsphäre ernsthaft gefährden. Das jedenfalls ist eine Schlussfolgerung von Forschenden der Ludwig-Maximilians-Universität München und der renommierten US-Universität Stanford. Das Team um den deutschen Erstautoren Dr. Clemens Stachl hat daher untersucht, inwieweit Smartphone-Daten Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsmerkmale von Menschen zulassen. Die Analyse ist im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences publiziert worden.

Smartphones sammeln umfassend Daten über ihre Nutzerinnen und Nutzer und deren Verhalten – so zum Beispiel den Standort, die Kommunikation oder den Medienkonsum. Das Forschungsteam ist deshalb der Frage nachgegangen, inwiefern sich aus diesen Daten Rückschlüsse auf die sogenannten „Big Five“-Persönlichkeitsmerkmale [Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit, emotionale Stabilität] ziehen lassen. Mit diesem Modell beschreiben Psychologen die verschiedenen Charaktere von Menschen. Frühere Studien haben gezeigt, dass die „Big Five“ ein breites Spektrum von Lebensergebnissen in den Bereichen Gesundheit, politische Partizipation, persönliche und romantische Beziehungen, Kaufverhalten sowie akademische und berufliche Leistung vorhersagen können.

Diese Big Five-Persönlichkeitsdimensionen wollten die Forschenden anhand von sechs verschiedenen Kategorien des Smartphone-Verhaltens bewerten, die über Sensor- und Protokolldaten erfasst worden sind. Die Nutzenden mussten dem Forschungsteam also nicht direkt Auskunft geben, das hat sozusagen allein ihr Smartphone übernommen. Diese Kategorien waren die Kommunikation und das soziale Verhalten, der Musikkonsum, die App-Nutzung, die Mobilität, die allgemeine Telefonaktivität und die Tag- und Nacht-Zeitaktivitäten, schreiben die Forschenden.

Mithilfe eines Ansatzes aus dem maschinellen Lernen haben die Forschenden die Smartphone-Daten von 624 Freiwilligen an 30 aufeinander folgenden Tagen Daten gesammelt und analysiert [mehr als 25 Millionen Datenaufzeichnungen ihrer Smartphones].

Das Ergebnis: Bestimmte Verhaltensmuster in den sechs untersuchten Kategorien haben tatsächlich Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsmerkmale zugelassen, so das Forschungsteam.

Die Daten ermöglichten eine relativ gute Vorhersage der „Big Five“-Persönlichkeitsmerkmale der Freiwilligen. Diese Vorhersagen seien ähnlich genau wie die, die Social Media-Plattformen aus den digitalen Fußabdrücken ihrer Nutzerinnen und Nutzer – also beispielsweise den Likes auf Facebook – ableiten können. Nur, dass bei den Smartphone-Daten eben nicht extra ein Button angeklickt werden müsse, sondern sie passiv in erheblichen Mengen von den Geräten erfasst würden – zum Beispiel durch App-Nutzungsprotokolle, Medien- und Website-Verbrauch, Standort, Kommunikation oder Bildschirmaktivität.

Vor allem die Analyse der Kommunikation und des sozialen Verhaltens sowie die App-Nutzung lassen Vorhersagen über die Persönlichkeitsmerkmale besonders gut zu. Dabei hätten sich am besten Aussagen über Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Extraversion treffen lassen. Bei der emotionalen Stabilität dagegen sei das nur eingeschränkt möglich gewesen und für die Verträglichkeit überhaupt nicht. Und das alles, obwohl die Datenmenge, die sie genutzt hätten, recht konservativ gewesen sei, schreiben die Forschenden. Würde man noch mehr Sensoren und Protokolldaten verwenden, wäre eine präzisere Aussage über die Persönlichkeit mit ziemlicher Sicherheit möglich.

Die Forschenden warnen explizit vor dem Missbrauch dieser Daten für kommerzielle Zwecke oder beispielsweise die Manipulation von Menschen. Es gebe bereits viele kommerzielle Akteure, die schon Daten, wie sie in der Studie verwendet wurden, mithilfe öffentlich zugänglicher Anwendungen sammelten. […]

Hervorhebungen im Fettdruck und Textauswahl im Kasten durch Schulforum-Berlin.

Zum Artikel: MDR Wissen, Was Ihr Smartphone über Ihren Charakter verrät

Weitere Informationen und Fachbeiträge: https://schulforum-berlin.de/category/sozial-media-communities/

Weniger Abitur, mehr Vernunft

Von George Turner

Prof. Dr. George Turner war von 1986 bis 1989 parteiloser Senator für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin. Von 1989 bis 2000 lehrte Turner erneut als Professor für Wirtschafts- und Agrarrecht sowie Wissenschaftsverwaltung an der Universität Hohenheim. Turner war Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Berliner Tagesspiegel schreibt er eine regelmäßig erscheinende Kolumne.

Der Anteil der Jugendlichen einer Altersgruppe, die das Abitur ablegen, geht leicht zurück. Das wird diejenigen grämen, die unablässig für einen höheren Anteil geworben haben und denen 50 Prozent nicht ausreichen – darunter die Vertreter von Bildung und Kompetenzen der OECD.

Die neue Tendenz zeigt, dass die Betroffenen offenbar vernünftiger sind als die Experten. Dabei sollte unbestritten sein, dass Jugendliche, die über die entsprechenden Voraussetzungen verfügen, die bestmöglichen Bildungsabschlüsse erwerben, unabhängig von der finanziellen und sozialen Situation, in der sie sich befinden. Aber genau so sollte gelten, dass es verfehlte Planwirtschaft ist, wenn eine bestimmte Prozentzahl an Abiturienten als Ziel vorgegeben wird.

Welche verheerende Wirkung solche Signale auf das Schulwesen hat, erkennt man an der Noteninflation beim Abschluss. Die Anzahl der Einser-Abiturienten lässt die Glaubwürdigkeit der Notengebung und die Qualität der Inhaber der Zeugnisse fragwürdig erscheinen. Begonnen hat es mit den Zulassungsbeschränkungen im Fach Medizin. Aspiranten für das Fach wollte man den Zugang verwehren. Wenn man aber das durch Großzügigkeit bei der Notengebung erreichen wollte, musste das Niveau insgesamt angehoben werden, weil sonst solche, die nicht Medizin studieren wollten, ungerecht behandelt worden wären. Daraus ergab sich eine Spirale der ständig besseren Notengebung bis zu nicht mehr nachvollziehbaren Größenordnungen von Scharen von Absolventen mit dem Durchschnitt von 1,0 im Zeugnis.

Wenn nunmehr die Zahl der Abiturienten zurückgeht, kann das auch für den Arbeitsmarkt positive Folgen haben: Der beklagte Facharbeitermangel erklärt sich auch aus der Tatsache, dass es als unvermeidbare Einbahnstraße verstanden wurde, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. Wenn die Reaktion der Betroffenen derart ist, dass sie andere Möglichkeiten des Berufseinstiegs sehen, sollte das dazu führen, dass Verbände und Unternehmen entsprechende Ausbildungsplätze attraktiv gestalten, damit das duale Ausbildungssystem keine Sackgasse für weitere Karrierechancen bedeutet.

Diejenigen, die beklagt haben, dass es zu wenige Bewerber für Berufe in Industrie und Wirtschaft gäbe, sollten jetzt mithelfen, eben dort interessante und zukunftsorientierte Stellen zu schaffen, damit die rückläufigen Abiturientenzahlen sich als das erweisen, was sie sein können: die Erkenntnis weiterer Jahrgänge, dass es nicht nur den einen Königsweg über das Abitur gibt.

Der Beitrag erscheint auf Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung des Autors. Seine E-Mail: george.turner@t-online.de

Bildung in Deutschland 2020

… mit Blick auf das „untere Ende des schulischen Qualitätsspektrums“:

54.000 Jugendliche 2018 ohne Hauptschulabschluss.

Diagramm aus: Bildung in Deutschaland 2020, S. 143

Bereits im vorangegangenen Bildungsbericht zeigte sich, dass auch am unteren Ende des schulischen Qualifikationsspektrums [!] der über viele Jahre beobachtete Rückgang der Abgangsquote nicht anhält. Im Gegenteil: Seit 2013 steigt die Quote auf zuletzt fast 7% wieder an; knapp 54.000 Jugendliche verließen 2018 die allgemeinbildenden Schulen ohne Hauptschulabschluss. Aus: Bildung in Deutschland 2020, S. 144

Das hehre Ziel des Dresdner Bildungsgipfels aus dem Jahr 2008, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss bis zum Jahr 2015 auf vier Prozent zu senken, ist in fast allen Ländern verfehlt worden. Oft ist das Gegenteil der Fall: Die Schulabbrecherquoten sind in die Höhe geschnellt. Im Schulabbruch zeigt sich ein Systemversagen, für das es bisher keine Lösung gibt. […] Derzeit legt jedes Land andere Kriterien zugrunde, um sich die eigenen Zahlen schönzurechnen. In den Kultusministerien will man nämlich nicht so genau wissen, wie viele Schulabbrecher es tatsächlich gibt, weil sich schulpolitisches Scheitern nirgendwo deutlicher zeigt. FAZ, 25.08.2019, Heike Schmoll, Im Schulabbruch liegt Systemversagen

In Berlin verlassen deutschlandweit die meisten Jugendlichen die Schule ohne einen Abschluss.

Das hat eine am 29.07.2019 veröffentlichte Studie der Caritas ergeben. Laut dieser hatten 2017 11,7 Prozent der Schulabgänger keinen Hauptschulabschluss. 2015 waren es noch 9,3 Prozent [siehe nachfolgender Kasten]. Der Bundesdurchschnitt lag im Jahr 2017 bei 6,9 Prozent. Sie war damit einen Prozentpunkt höher als 2015 und lag auf demselben Niveau wie vor zehn Jahren. Bundesweit waren laut Caritas über 52.000 Jugendliche betroffen – 5000 mehr als noch zwei Jahre zuvor.

Auswahl des Diagramms, Hervorhebungen im Fettdruck und Textauswahl im Kasten durch Schulforum-Berlin.


Mehr zum Thema:

Das neue Grundsatzprogramm der Grünen versteht Bildungspolitik primär als Sozialpolitik. Den Anforderungen unserer Wissens- und Leistungsgesellschaft wird das Programm dadurch nicht gerecht.
Website von Rainer Werner, Gymnasiallehrer in Berlin und Buchautor

Berlin hat eine Bildungs-Leerstelle Die rot-rot-grüne Bildungspolitik ist eine Aneinanderreihung politischen Versagens.
Tagesspiegel, 06.08.2019, Kommentar von Sabine Beikler

1700 Berliner Zehntklässler ohne Abschluss
Mehr als jeder achte Sekundarschüler scheitert an den Prüfungshürden. Tagesspiegel, 16.10.2019, Susanne Vieth-Entus

Nationaler Bildungsbericht: Was wird aus den Schulabbrechern?
Es ist erschreckend, dass die Gruppe der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss im neuen Bildungsbericht um zwanzig Prozent gewachsen ist.
FAZ, 24.06.2020, Heike Schmoll

Die Revolution des Lernens hat begonnen

Sprechblasen zum Thema Lernen

… von Prof. Ada Pellert aus dem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 09.06.2020 mit der Überschrift „Die Revolution des Lernens hat begonnen“. Christian Füller im Gespräch mit der Rektorin der Fernuniversität Hagen.

Auf die Frage, ob „Rückkehr zum normalen Unterricht überhaupt wünschenswert ist“, sagt Prof. Pellert:

„Seifenspender sind gut, aber gutes Lernen ist wichtiger. Wir haben in den vergangenen Wochen eine neue Praxis von Lernen kennengelernt. Es wäre jammerschade, wenn wir das einfach wieder vergäßen.“

Die Richtung ihrer Botschaft, hin zu einem „kulturellen Umbruch“, wird deutlich, wenn sie ausführt:

 „Überall in der Bildungsrepublik finden sich Beispiele von Lernen, die in meinen Augen ein Vorgeschmack auf die Zukunft sind. Wir stecken mitten in einer Kulturrevolution des Lernens“.

Um ihre Aussage zu belegen, bemüht sie ein Beispiel aus dem letzten Jahrhundert. Die „Stoffvermittlung alter Schule hat ausgedient“, um dann sogleich ihr Lied für die Digitalisierung des Unterrichts weiter zu singen:

„Wir können die Lehrkraft durch digitale Werkzeuge für das freispielen, was lernpsychologisch fundamental ist: eine Beziehung herzustellen. Das kann nur eine Person.“

Wie man sich die „neue Praxis von Lernen“ vorzustellen hat, soll uns wohl der Versuch einer Schulleiterin zeigen, die „Nathan der Weise“ im Chat gelesen hat. Ein „Vorgeschmack“:

 „Die Lehrerin“, so führt sie aus, „hat die Ringparabel in die Lebenswelt der Schüler gebracht. So funktioniert gutes Lernen – auch wenn es auf den ersten Blick absurd erscheint, sich über Lessing per Emojis auszutauschen.“

Erleichterungspädagogik
Konrad Paul Liessman stellt zur „Reduktion und Vereinfachung“ der Sprache und dem „Entgegenkommen, vor allem wenn es auch als Unterrichtsprinzip reüssieren sollte“, die Frage:
„[B]edeutet eine stark vereinfachte Sprache nicht auch ein stark vereinfachtes Bewusstsein?“ (S. 134)
Und er fährt weiter fort:
„Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, deren grundlegende Beherrschung unerlässlich ist. Dass der Erwerb dieser Techniken nicht jedem leichtfällt, ist kein Grund, das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren. Besser wäre es, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen und schreiben lernen. (S. 147)
Aus: Liessmann, Konrad Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Prof. Liessmann lehrt Philosophie an der Universität Wien.

Diese Art des Fernhaltens der Schüler von der „literarischen Kultur“ erreicht die Lehrerin durch Anbiederung und Niveausenkung im Unterricht. Prof. Ada Pellert dazu unterstützend:

„Die sozialen Medien mit ihren Tools und Werkzeugen sind nun mal die Umgebung der Jugendlichen.“ Sie argumentiert weiter: „Im Chat bringe ich Nathan der Weise leichter in die Welt der Schülerinnen und Schüler, als wenn ich sie im Klassenzimmer um 11.15 Uhr bitte, die Ringparabel zu erklären.“

Die Willkommensklasse „10w“ von Iyad Abo Faroch, der vor fünf Jahren aus Aleppo flüchtete, war lange sein zweites Zuhause, erzählt der Abiturient. Syrer, Afghanen, sogar Koreaner waren dabei. Die Schule sei der einzige Ort gewesen, an dem die geflüchteten Jugendlichen ihren Problemen entfliehen konnten. Das schlechte Essen im Heim, die Wohnungssuche, die unzähligen Besuche im Jobcenter waren kurz vergessen. Stattdessen wurde gelesen, etwa „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. „Das ist eines meiner absoluten Lieblingsbücher“, erzählt Iyad in seinem tadellosen Deutsch. Das A2 Niveau habe er nach nur vier Monaten in der Willkommensklasse gemacht. Dabei kannte er bei seiner Ankunft an der deutsch-österreichischen Grenze kaum zwei Sätze in der fremden Sprache. Aus: TSP, 21.06.2020, Beilage Abitur 2020, Aleksandra Lebedowicz, „Er hat´s geschafft“. Herzlichen Glückwunsch zum erfolgreich gemeisterten Abitur am Dreilinden-Gymnasium in Berlin-Zehlendorf.

Das für die Rektorin der Fernuniversität Hagen funktionierende „Bildungskonzept“ erklärt sie am Beispiel des „flipped classroom“ folgendermaßen:

„[D]as Modell für hybriden Unterricht ist: Schüler schauen zu Hause ein für sie vom Lehrer aufgenommenes Input-Video – und sprechen dann mit ihm im Unterricht darüber, individueller als in einer normalen Schulstunde.“

Diese, von ihr zurechtgelegte Vorgehensweise, begründet sie damit:

„Weil die Lehrkraft nicht mehr von vorne Wissen vermittelt, sondern individuell auf Fragen und Probleme der Schüler eingeht.“ Sie fährt weiter fort: „In einem Einzel-Videogespräch kann sich ein Lehrer zum Beispiel viel mehr Zeit für einen Schüler nehmen, als wenn er auf einem Schulflur schnell ein paar Hinweise gibt.“

Hier diskreditiert und reduziert Prof. Ada Pellert bewusst den persönlichen Kontakt, das menschliche Gegenüber, die Bedeutung der Beziehung beim Lernen, auf eine flüchtige Begegnung im Schulflur. Die für das Lernen wesentlichen Aspekte, die Bedeutung der Klassengemeinschaft, der Austausch und das Hin und Her, der Diskurs in der Klasse, erwähnt sie gar nicht.  

Vor Euphorie oder Zustimmung sei also gewarnt. Gerade beim “digitalen Lernen“ vor einem Bildschirm bleiben das Frontale und das Autoritäre erhalten, sie erscheinen nur in einer „coolen“ Form.

Da stellt man sich die Frage: Hat die Wirtschaftswissenschaftlerin und Rektorin der Fernuniversität Hagen mit ihren Aussagen wirklich die Schüler im Auge oder vertritt sie in euphemistischer Weise die Interessen der Medien- und IT-Industrie? Die Beispiele wiederholen sich von deren Lobbyisten und den konzernnahen Stiftungen. Klar ist: Es geht nicht nur um die fünf Milliarden Euro des „Digitalpaktes“, vielmehr müssten „2,8 Milliarden Euro jährlich [!] investiert werden, um all unsere Grundschulen und weiterführenden Schulen mit entsprechender Infrastruktur auszurüsten“. Die „Finanzierung ist eine milliardenschwere Daueraufgabe“, so die Bertelsmann Stiftung in einer Studie von 2017.

Lesen sie mehr darüber: „Das Bildungsgeschäft ist eine Cash.-Kuh“, siehe auch: „Ihr Geschäft ist die Digitalisierung“ sowie „Lobbyismus macht seit langem nicht mehr Halt vor dem Klassenzimmer“.

Seit September 2016 ist Prof. Ada Pellert, Vorsitzende der Kooperationsplattform Digitale Hochschule NRW (DH-NRW), seit August 2018 Mitglied des Digitalrates der Bundesregierung.

Auswahl der „Sprechblasen“ aus dem Interview, die Anmerkungen dazu sowie die Textauswahl im Kasten durch Schulforum-Berlin. Bilder: Screenshot aus Apple Color Emoij, F.A.S., 25.05.2014, Nur noch Analphabeten.


Weitere Stimmen zum Thema:

Wir Lehrerinnen und Lehrer sind aufgerufen, die „neoliberalen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen unserer Arbeit mitzudenken. Nur so können wir verhindern, dass unser soziales Engagement für unsere Schülerinnen und Schüler instrumentalisiert wird. Voraussetzung dafür bleibt, dass wir insbesondere in Krisenzeiten wohlklingende Begriffe, forcierte Entwicklungen und uns als alternativlos präsentierte einfache Lösungen kritisch in den Blick nehmen. Sozialer Spaltung im Bildungssystem werden wir erst wieder etwas entgegenzusetzen haben, wenn Etikettenschwindel nicht mehr Schule machen kann.“ Aus: „Die Geister die wir rufen…“ – Bildungspolitik und soziale Spaltung, Marc Mattiesson

Die Hochschulen mussten nach dem Corona-„Lockdown“ ihre Lehre auf digital organisierte Formate umstellen. Auch hier sind Bestrebungen im Gange, solche „digitalen Formate“ für die Lehre über das Sommersemester hinaus zu verstetigen. Dagegen regt sich breiter Widerspruch. Mehr Infos und zur Petition.

„Digitalisierung“ ist ein beliebtes Schlagwort der Hochschullandschaft. Wir halten an dieser Stelle fest: Diese Krise ist keine Chance, sondern ein riesiges Problem. Das gilt in der jetzigen Situation auch für die Digitalisierung. Denn Online-Lehre kann und darf die Präsenzlehre nicht ablösen. Aus: Studentischer Forderungskatalog zur Lage der Hochschulen, Überschrift „Digitalisierung“.

Wir wollen aber gerade nicht nur Stoff vermitteln, sondern junge Menschen prägen und sie bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleiten. Das kann nur gelingen, wenn wir diese Menschen von Angesicht zu Angesicht sehen und erleben können. Es geht nicht darum, sie stromlinienförmig einzunorden. Aber Neugier und geistige Offenheit können und müssen wir immer wieder einfordern.
Von einem Zentrum für Hochschuldidaktik erhielt ich vor einigen Tagen einen Fragebogen zur rein digitalen Lehre. Die meisten Fragen waren eingeleitet mit Sätzen wie „An der digitalen Lehre gefällt mir…“ oder „Der Vorteil der digitalen Lehre liegt darin…“. Ganz am Ende kam endlich ein Freifeld: „Ein weiteres digitales Semester ist…“. Meine Antwort war klar: „… eine Katastrophe.“
Aus: GBW, 09.06.2020, Prof. Peter Oestmann, Von Angesicht zu Angesicht

Lernen in Zeiten von Corona

Was Schülerinnen und Schüler einer 7. Klasse einer Integrierten Sekundarschule (ISS) in Berlin im Deutschaufsatz schreiben.

In der Krise, die durch das Coronavirus entstanden ist, muss man viel im alltäglichen Leben ändern. Eine dieser Umstellungen ist die Art und Weise, den Schulstoff zu lernen. Die Schülerinnen und Schüler müssen zuhause lernen. Sie haben nicht den gewohnten Schulalltag und müssen lernen, von selbst die ganzen Aufgaben zu machen. Diese Art zu lernen, kann negative, aber auch positive Auswirkungen auf uns haben. (Rainer, 11 Jahre)

Es ist schwer, in der Coronakrise zu lernen, da man viel Selbstdisziplin und immer den Überblick über das, was man schon gemacht hat, und das, was man noch machen muss, braucht. Wenn man die Schulaufgaben dann macht, darf man sich nicht ablenken lassen, was schon mal schnell passieren kann. Manchmal kann es auch vorkommen, dass man Angst bekommt, ob man alles auf einmal schaffen kann. Sehr fehlen zuhause auch scheinbar banale Sachen, wie der Augenkontakt der Lehrer und Mitschüler. Es ist zuhause auch nicht das Gleiche, etwas zu lernen wie in der Schule, wo ein Mensch einem anderen Menschen sein Wissen weitergibt. Es fehlt auch so etwas wie Bestätigung, zum Beispiel ein „gut gemacht“ oder „sehr gut“. Diese einfachen Worte können einen motivieren, weiterzumachen und immer sein Bestes zu geben. Außerdem kann man sich nicht einfach melden, um etwas zu fragen.
Ich habe in dieser Krise im Hinblick auf das Lernen und die Schule vor allem eines gelernt: Wenn man mal eine längere Zeit nicht in der Schule ist, merkt man, dass es ein riesiges Glück ist, dass wir alle in die Schule gehen können. (Thomas, 11)

Da der Kontakt nur virtuell  über ZOOM ist und er obendrein jeweils nur eine Stunde dauert, vermisst man seine Freunde. Das soziale Leben fehlt, und man hat von den Lehrern weitaus weniger Unterstützung, sodass es länger dauert, eine Hausaufgabe zu erledigen. (Michael, 12)

Weil ich die meiste Zeit zuhause bin, werde ich beim Arbeiten einfacher abgelenkt und dann bekomme ich Langeweile. Ich habe weniger Motivation als in der Schule, weil ich das Gefühl habe, dass ich die Arbeit nicht machen muss. Am Abend denke ich dann, dass ich nichts Produktives am Tage gemacht habe, und ich bin enttäuscht. Manchmal denke ich dann, dass ich nicht alle Hausaufgaben gemacht habe, weil ich beim Fernunterricht oft nicht mitkomme. Wenn ich früher jeden Tag in die Schule gegangen bin, hatte ich einen gewissen Rhythmus und der fehlt mir jetzt. (Gisela, 12)

Ich hätte nie in meinem Leben gedacht, dass ich das mal je sagen würde, aber ich freue mich richtig auf die Schule und ich bin dazu auch noch sehr motiviert. Vor ein paar Wochen hatten wir wieder Schule, aber leider nur einen Tag. Ich fand es sehr gut, denn ich konnte wieder meine Freunde sehen und habe auch besser gearbeitet. Ich war einfach nur froh, in die Schule zu gehen. Für mich ist die Schule zurzeit das Wichtigste, worauf ich mich freue, aber nicht auf Klassenarbeiten. (Hans, 12)

Die Eltern korrigieren oft meine Hausaufgaben, bevor sie abgeschickt werden. Das finde ich ein wenig nervig, weil ich nicht will, dass sie meine Fehler sehen. Ich finde, dass solche Zeiten schwierig sind zum Lernen, aber man muss sich trotzdem ranhalten. Jetzt kann ich die Schule völlig wertschätzen, weil ich mich wirklich freue, dorthin zurückzugehen. (Peter, 12)

Ich merke, dass ich weniger Motivation habe, zuhause zu arbeiten, als mit meinen Freunden in der Schule. Das gemeinsame Lernen fehlt mir einfach. Und eine Sache, die auch ärgerlich ist, ist, dass ich zuhause meinen Lehrern keine Fragen stellen kann, ich kann ihnen eine E-Mail schreiben, doch sie können mir dann nicht so schnell antworten wie in der Schule. Und meine Eltern können es mir meistens nicht so gut erklären wie meine Lehrer.
Aber die zwei schlimmsten Sachen in dieser jetzigen Situation sind: die Langeweile und das Fehlen von dem sozialen Leben. Oft bin ich alleine, da meine Eltern arbeiten und mein Bruder seine Hausaufgaben macht, und dann weiß ich einfach nicht, was ich machen soll. Und irgendwie bin ich nicht mehr so glücklich wie früher. Ich merke, dass ich viel öfter schlecht gelaunt bin, da mir einfach meine Freunde fehlen. Mit ihnen zusammen zu sein, mit ihnen zu lachen und Sachen zu machen, es ist jetzt gerade alles unmöglich. (Maria, 12)

Ich habe aus dieser Krise eine Menge gelernt. Ich habe gemerkt, dass Schule etwas ganz Wichtiges für mich ist, wo man all seine Freunde treffen kann. Aber nicht nur das, die Schule ist ein Ort, wo man viel besser lernen kann, dank der Lehrer und der starken Konzentration auf die Aufgaben. In dieser Zeit habe ich auch gelernt, meine Zeit besser einzuteilen. (Beate, 12)

siehe weiteren Beitrag zum „Lernen“: Pädagogisch gestaltete Klassengemeinschaft.
Bildung und Erziehung als Grundlage für das Leben – was könnte Schule leisten? Prof. Jochen Krautz

Grenzen „digitalen Lernens“

Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache

Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 22.05.2020, von Michael Felten

Michael Felten hat 35 Jahre als Gymnasiallehrer gearbeitet und ist weiterhin in der Lehrerweiterbildung tätig. Soeben erschien von ihm: „Unterricht ist Beziehungssache“ (reclam 2020, siehe auch Bücherliste auf dieser Website).

Auch wenn vieles nicht oder schlecht funktioniert: Durch Corona erleben die Schulen gerade einen Digitalisierungsschub. Was sich dabei bewährt hat und was man zukünftig besser lassen sollte, beschäftigt den Pädagogen Michael Felten. 

Jetzt mussten es aber auch Skeptiker zugeben: Gut, dass es das Digitale gibt – damit ließ sich der Unterrichtsausfall wegen Corona doch prima auffangen. Schüler bekamen weiterhin ihre Aufgaben, oft mit persönlichem Ferncoaching – und die letzten Lehrer entdeckten die Möglichkeiten elektronischer Hilfsmittel.

Zudem gab’s zuhause wenigstens saubere Toiletten mit genug Klopapier, und das häusliche Arbeitszimmer lässt sich nun vollständig bei der Steuer absetzen. Not gebiert bekanntlich auch Rettendes.

IT macht sich das Pädagogische untertan

Aber – Virenwarnung – es könnte sich auch ein Trojaner eingenistet haben. Denn bequem wie der Mensch nun mal ist: Er wird sich ein Stück weit ans Distanzlernen gewöhnen, an Unterricht ohne Blicke, Mimik und Gestik. Deshalb werden sich clevere IT-Firmen, die ihre Plattformen bis zum Sommer erst mal kostenfrei anbieten, über Folgeabos garantiert nicht beklagen müssen.

Und schon bald könnten Kultusminister sich damit brüsten, endlich den Schlüssel zur Lösung des Dauerproblems Lehrermangel gefunden zu haben: einfach weniger Präsenzunterricht in der Schule, mehr digitalisiertes Üben daheim.

Allerdings stößt ja die Formel „Wer heilt, hat recht“ schon beim Arztbesuch an Grenzen. Eine Gesundung kann ganz andere Ursachen haben als das verordnete Medikament, die Heilung hält vielleicht auch nur kurz an – oder wirkt lediglich im Einzelfall. Auch beim homelearning mit Monitor muss deshalb die Frage sein, ob’s überhaupt funktioniert – ob es also zumindest annähernd so gut wirkt wie der bisherige Präsenz- und Dialogunterricht.

Aber vielleicht wollen die Verantwortlichen das gar nicht so genau wissen – zu schön der Anschein für die Behörde, alles im Griff zu haben, zu verlockend die Chance für IT-Business und Big Data, sich im Coronaschock auch das Pädagogische untertan zu machen.

Es fehlt das menschliche Gegenüber

Das Echo der Schüler auf den Fernunterricht ist bekannt: Zuerst fanden sie Freiheit und neue Medien cool, dann wurden die Aufgabenlisten immer langweiliger, letzten Endes gerieten vor allem Schwächere ins Hintertreffen. Beim Distanzlernen mit Apparaten fehlt einfach das menschliche Gegenüber – Unterricht ist in hohem Maße Beziehungssache.

Wie ein Lehrer diesen Schüler anschaut und dann jenen, wie er mit der ganzen Klasse Fragen diskutiert, wie er Schwächere einfühlsam zu weiterem Bemühen ermuntert, wie er von einem Thema begeistert ist – das vermag kein Recherchetool, das ist durch keine Videokonferenz ersetzbar. Deshalb lautet ja das einhellige Urteil der als Ersatzpädagogen missbrauchten Eltern: „Jetzt ahne ich, was Lehrer täglich leisten.“

Überdies weiß die empirische Unterrichtsforschung einiges über die Wirkung von digital gestütztem Lehren und Lernen. Wegen ihrer riesigen Datenbasis besonders beachtenswert: Die XXL-Metastudie „visible learning“ des Neuseeländers John Hattie, 2017 aktualisiert und um die Sparte „technology“ erweitert. Demnach wirkt IT im Bildungsbereich auf die Schülerleistung: höchstens durchschnittlich.

Auch die Rehabilitierung der Lehrperson wird übrigens durch Hatties Befunde gestützt. Alle Einflussgrößen, in denen sich die personale Ebene des Unterrichts widerspiegelt – das Emotionale, das Beziehungsmäßige, das Dialogische -, erzielen überdurchschnittliche Wirkung auf die Lernleistung – etwa geführte Klassendiskussionen (0,82) [d = Effektstärke, d = 0,2 bis 0,4 Schulbesuchseffekt, d > 0,4 erwünschte Effekte], besondere Unterstützung für Lernschwache (0,77), Lehrer-Schüler-Beziehung oder Klassenführung (0,52). Das macht auch verständlich, warum die mancherorts beliebte ‚Freiarbeit‘ sich als so erschütternd ineffektiv erwies. Und warum zu viel und zu frühe Selbststeuerung leider gerade die schwächeren Schüler benachteiligt. In der Debatte über Bildungsgerechtigkeit wird das gerne unterschätzt – komischerweise gerade von vorgeblichen Anwälten der Benachteiligten. Aus: FAZ, 14.05.2020, Michael Felten, „Startbeschleunigung mit Tücken“.

Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung

So bringt es kaum etwas, Klassen nur mit Laptops auszustatten, interaktive Lernvideos hingegen können hilfreich sein. Wenn ein Fach oder eine Altersstufe viel geistige Auseinandersetzung erfordert, fällt der IT-Nutzen gering aus. Bei reinem Training zeigen sich aber auch überdurchschnittliche Effekte. Hattie selbst bilanziert, IT verbessere den Unterricht nur, wenn es sich nicht um Ersatz, sondern Ergänzung des pädagogischen Settings handele – und wenn die Vielfalt der Lernarten und die Häufigkeit von Feedback steige.

Beinahe klingt es dialektisch: Digitales Handwerkszeug muss für Schulen selbstverständlich werden. Gleichzeitig erstrahlt die Lehrperson als Zentralfaktor für kindliche Entwicklung. Versäumen wir also nicht, nach der Coronakrise zu fragen, was wir von ihren Notlösungen wirklich behalten wollen. Die Antwort sollte datenbasiert sein – und nicht nur das Bauchgefühl widerspiegeln „Hat doch irgendwie ganz gut hingehauen“. Die CEOs im Silicon Valley jedenfalls bevorzugen für ihre Kinder analoges Lernen.

zum Beitrag: Deutschlandfunkkultur.de, https://www.deutschlandfunkkultur.de/grenzen-digitalen-lernens-unterricht-ist-in-hohem-masse.1005.de.html?dram:article_id=477083

Textauswahl in grau unterlegtem Einschub durch Schulforum-Berlin.