Selbstlernkultur führt nicht zum Erfolg

In deutschen Klassenzimmern hat sich eine Unterrichtskultur durchgesetzt, die das Selbstlernen betont. Effektive Lernmethoden, wie das Unterrichtsgespräch, wurden als zu lehrerdominiert und autoritär aussortiert – mit schlimmen Folgen. In allen Bundesländern sind die Leistungen der Grundschüler zurückgegangen. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung auf erfolgreiche Lernmethoden.

Veröffentlicht auf CICERO-online am 5. Dezember 2022, von Rainer Werner

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er ist Buchautor und betreibt die Website: Für eine gute Schule. Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) über die Leistungen unserer Grundschüler in Mathematik und Deutsch (2021) hat alarmierende Befunde gebracht. In allen 16 Bundesländern sind die Leistungen gegenüber den Testergebnissen von 2011 (in Rechtschreibung: 2016) zurückgegangen. Alarmierend ist vor allem, dass die Zahl leistungsstarker Schüler genauso abgenommen hat wie die Zahl derer, die den Regelstandard erreichen. Bayern und Sachsen behaupten zwar weiterhin die Spitze, allerdings haben sich auch in diesen Ländern die Schülerleistungen verschlechtert. Die Rote Laterne teilen sich wie schon in den Vorjahren Bremen und Berlin. Zu den beiden notorischen Verliererländern gesellt sich neuerdings Brandenburg. Seine Schüler sind auf den Leistungsstand der beiden Schlusslichter abgesunken. Wie krass das Versagen der Grundschüler ist, zeigen die Ergebnisse in Rechtschreibung. In Bremen erreichen 42,0 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard, in Berlin sind es 46,1 Prozent und in Brandenburg 45,7 Prozent. Der Mindeststandard in Orthografie markiert die Scheidelinie zum Analphabetismus.

Studie ohne Ursachenforschung

Über die Ursachen für das bundesweite Versagen der Grundschüler gibt die Studie keine Auskunft, weil sie, wie die Studienleiterin Petra Stanat vom IQB betont, kein Erklärungswissen liefere, sondern nur den reinen Leistungsbefund. Sucht man anhand der Studienergebnisse selbst nach Erklärungen, stößt man bald an Grenzen. So ist die Stundenzahl, mit der in den Grundschulen Deutsch unterrichtet wird, in den Ländern unterschiedlich hoch. Sie korrespondiert jedoch nicht mit dem jeweiligen Rang des Bundeslandes bei den Schülerleistungen. Wenn der Leistungsabfall alle Bundesländer erfasst hat und selbst die langjährigen Siegerländer Bayern und Sachsen in den Abwärtssog geraten sind, muss ein mächtiger Trend am Werke sein, der sich in den Klassenzimmern unserer Schulen mit Macht durchgesetzt hat. Ich vermute, dass er mit dem hedonistischen Kulturwandel zu tun hat, in dessen Gefolge das schülerfreundliche Lernen eingeführt wurde. Dabei machte ein Pronomen mächtig Karriere: „selbst“. In keinem Schulbuch und keiner pädagogischen Handreichung dürfen Wortkombinationen mit diesem Zauberwort fehlen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit. Das „selbstorganisierte Lernen“ hat pädagogische und politische Fürsprecher zuhauf, wobei nie getestet wurde, ob die pädagogische Verheißung, die es verspricht, auch eingelöst wird. Die Qualitätsstudien des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegen das Gegenteil. Mit Friedrich Schiller könnte man sagen: „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ („Wallensteins Tod“)

Mit der Heterogenität überfordert

Was ist los mit unseren Grundschulen? Warum schaffen sie es nicht, der Mehrheit der Schüler ein solides Wissensfundament in Deutsch und Mathematik zu vermitteln? Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Blick in die Eingangsklassen werfen. Da die Grundschule eine Gemeinschaftsschule ist, drücken dort Kinder unterschiedlichster Auffassungsgabe, intellektueller Begabung und Lerneinstellung gemeinsam die Schulbank. Die Kluft reicht von Elisa aus einer Akademikerfamilie, die schon bei der Einschulung lesen und schreiben kann, bis zu Tarek aus einer syrischen Familie, der des Deutschen nur in Bruchstücken mächtig ist. Hinzu kommt, dass bei den Schülern die Sekundärtugenden unterschiedlich ausgeprägt sind. Konzentration auf die Sache und Ausdauer auch bei schwierigen Herausforderungen haben nicht alle Kinder im Elternhaus gelernt. Disziplin, Fleiß und Ordnungssinn sind auch nicht jedem Kind mit auf den Weg gegeben worden. Auch die Fähigkeit, sich in der Gruppe zurückzunehmen, das eigene Ego zu zügeln, hängt sehr stark vom Erziehungsstil der Eltern ab. Wie die Lernforschung weiß, sind es aber gerade diese „weichen Faktoren“, die über den Lernerfolg entscheiden.

Das Elternhaus verteilt die Startchancen

Die Benachteiligungen von Kindern beginnen, wie man heute weiß, sehr früh. Wenn eine schwangere Frau häufig klassische Musik hört, entwickelt das Neugeborene schon früh ein Rhythmusgefühl, die Vorstufe von Musikalität. Wenn kleinen Kindern regelmäßig vorgelesen wird, bilden sie ein differenziertes Sprachvermögen aus und schreiben schon in der Grundschule verblüffend gute Texte. Wenn ein Kind im Elternhaus erlebt, dass die Eltern elaboriert reden und viel diskutieren, überträgt sich dieses sprachliche Vermögen auf das Kind. Es wird zum verbal geschickten, selbstbewussten Streiter in eigener Sache. Wenn ein Kind Lob und Zuspruch erfährt, wenn es die Welt im Spiel entdeckt, wird es später auch im schulischen Lernen Neugier und Ehrgeiz entwickeln. Wenn man sich von all diesen stimulierenden Anreizen das Gegenteil denkt, kann man ermessen, wie tiefgründig und nachhaltig die Handikaps und Defizite sind, mit denen die Kinder zu kämpfen haben, die in bildungsfernen Elternhäusern heranwachsen müssen. Schon in der Grundschule sitzen sie im hintersten Waggon des Geleitzuges.

Problematische Lernmethoden

Die entscheidende Frage für die Eltern ist: Kann die Grundschule diese Defizite noch ausgleichen? Nach allem, was wir über kompensatorische Bildung wissen, kann sie es nur sehr begrenzt. Sie kann es vor allem nicht, wenn die Lehrkräfte zu didaktischen Konzepten greifen, die wenig Erfolg versprechen. Auch dem Nichtfachmann leuchtet ein, dass der Unterricht in der Grundschule differenziert werden muss, weil die Lernvoraussetzungen der Kinder zu unterschiedlich sind. Das modische Prinzip des individuellen Lernens – jeder Schüler arbeitet die Aufgaben selbstständig ab – eignet sich freilich nur für Schüler, denen ein wacher Verstand und die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, gegeben sind. Die schwachen Lerner kommen bei der Selbstlernmethode unter die Räder, weil sie die Unterstützung der Lehrkraft benötigen, die sie Schritt für Schritt zur Lösung der Aufgaben führt. Auch das „Jahrgangsübergreifende Lernen“ (JüL) ist in Verruf geraten. Vor allem Grundschulen in Problemvierteln haben es wieder aufgegeben, weil die älteren Schüler in der Lehrerrolle überfordert waren und selbst nur noch geringe Lernfortschritte machten. Die beste Differenzierungsmethode, die Zusammenfassung von Schülern gleicher Begabung in homogenen Lerngruppen, wird zu selten angewandt, weil sie bei progressiven Bildungspolitikern und Pädagogen unter dem Verdacht der „Selektion“ steht.

Individualisiertes Lernen wird überschätzt

Beim individuellen Lernen sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert“ lernen. Lehrkräfte werden nur noch als Lernbegleiter und Animatoren gebraucht. Die wichtige Lehrer-Schülerbeziehung bleibt auf der Strecke, die Klassengemeinschaft verkümmert, die Kinder werden zu Einzelkämpfern. Skeptische Wissenschaftler konstatieren, dass von den Selbstlernmethoden nur die Kinder aus dem Bildungsbürgertum profitieren, weil sie über das nötige Vorwissen verfügen und den Lernprozess eigenständig organisieren können. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Migrantenfamilien benötigen hingegen die helfende und erklärende Hand der Lehrkraft. Der 2021 verstorbene Nestor der deutschen Didaktik Hermann Giesecke fällt ein kritisches Urteil: „Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu (…) Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“ Diese Kritik wird auch von vielen Lehrern geteilt. Sie kritisieren, dass die Selbstlernmethoden den Unterricht entpersonalisieren und ihn seiner wichtigsten Produktivkraft – der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung – berauben. Der didaktische Trend hat eine wichtige Lernform, das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, nahezu eliminiert. Bei dieser Lernform begegnet die Lehrkraft den Schülern als kompetenter, fachlich und pädagogisch versierter Experte. Er erklärt einen Sachverhalt anschaulich und bestärkt die Schüler bei ihren Lernbemühungen, die sie in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit absolvieren. Die Kritik der Eltern an den Selbstlernkonzepten geht in die gleiche Richtung. Sie berichten, dass sich ihre Kinder bei dieser Lernform über weite Strecken allein gelassen fühlen. Schwächere Schüler sind durch die schnellen Lerner, die sich im Lernmaterial flink durch die Anspruchsniveaus hangeln, so eingeschüchtert, dass sie aus Scham darauf verzichten, die Hilfe der Lehrkraft in Anspruch zu nehmen. Anscheinend haben die vielen begeisterten Fürsprecher des offenen Unterrichts nicht bemerkt, dass sie ein Eliteprojekt bejubeln.

„Es ist die Sprache, Dummerchen!“

Landauf, landab verkünden Bildungsexperten und -politiker, das Beherrschen der deutschen Sprache sei der Schlüssel für den Schulerfolg. Niemand wird dieser Erkenntnis ernsthaft widersprechen. Zu erdrückend sind die Beweise, dass Schüler, die bei ihrer Einschulung nur gebrochen deutsch sprechen, in ihrer schulischen Laufbahn erheblich benachteiligt sind. Sie schneiden in allen Fächern schlechter ab, als ihre Intelligenz vermuten lässt, weil Deutsch in allen Fächern mit Ausnahme der Fremdsprachen die Unterrichtssprache ist. Trotz dieses Befunds gehen einige Bundesländer nachlässig mit dem frühkindlichen Erwerb der deutschen Sprache um. Alle Bundesländer bis auf Hamburg haben die Vorschule abgeschafft, welche die Schüler mit sprachlichen Defiziten ein Jahr lang gezielt auf die Einschulung vorbereitete. Die Kindergärten sollten fortan die kompensatorische Funktion der Vorschule übernehmen. Bremen wollte 2021 nach dem schlechten Abschneiden seiner Schüler bei Vergleichstests die Vorschule wieder einführen. Der Widerstand in der SPD war jedoch zu groß. Erhellend ist das Argument der Vorschulgegner: „Aus unserer Sicht widerspricht dieser Vorschlag dem Grundgedanken der Inklusion, der zentral für den Charakter des Bremer Bildungssystems ist. Vorschulen würde eine neue Selektion aufgrund der Leistung darstellen.“ (Jungsozialisten, 2021). Das Totschlagargument der Selektion muss herhalten, um eine sinnvolle Fördermaßnahme zu sabotieren. Dabei wäre es gerade in Bremen dringend nötig, die Startchancen für Migrantenkinder zu verbessern. Bayern geht auch hier einen erfolgreichen Weg. Nach dem Wegfall der Vorschule wurde eine spezielle Deutschförderung in „Vorkursen“ eingeführt, an denen Kinder ausländischer Herkunft ohne ausreichende Deutschkenntnisse verpflichtend teilnehmen. Ein Trauerspiel gab es – wie sollte es anders sein – in Berlin. Laut Schulgesetz müssen Kinder, die keine Kita besuchen, einen Sprachtest absolvieren. Wenn dieser einen Förderbedarf feststellt, müssen die Kinder täglich an einer dreistündigen Sprachförderung teilnehmen. 2018 nahmen von 2000 Kindern, deren Eltern angeschrieben worden waren, nur 650 am Sprachtest teil. Von den 470 Kindern, die ihn nicht bestanden, landeten zum Schluss nur 50 in der sprachlichen Förderung. Großer Aufwand, geringer Ertrag. Gegen die säumigen Eltern wurde kein einziges Bußgeld verhängt. Ätzend war die Kritik der Hauptstadtpresse: Typisch Berlin! Der Verstoß gegen ein Gesetz bleibt wieder einmal ohne Konsequenzen.

Üben wird als Drill verpönt

Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20.  Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Oft haben sie nur die „Volksschule“ (so hieß damals die Grundschule) mit nur acht Schuljahren besucht. Sie haben ein korrektes Deutsch gelernt, weil das Üben der Regeln der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die „schülerzugewandte“ Pädagogen heute als Drill oder unmenschliche Abrichtung stigmatisieren würden. Vielleicht haben die Didaktiker der alten Zeit mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewusst oder geahnt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung vertritt nämlich die Ansicht, dass das, was wir Merkfähigkeit nennen, durch die Stimulation der Synapsen, der Schaltstellen zwischen den Gehirnzellen, entsteht. Die Merkfähigkeit hängt dabei nicht nur von der Stärke des Lernimpulses ab, sondern auch von dessen Häufigkeit. In die Sprache der Didaktik übersetzt heißt das, dass man nachhaltiges Lernen durch anschauliche Lehrmethoden bewirken kann, aber auch durch beständiges wiederholendes Üben des schon Gelernten. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, dass sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.

Problemfach Mathematik

Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM haben Grundschülern folgende Aufgabe gestellt: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?  76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dabei kamen die meisten auf 36 Jahre. Das Beispiel zeigt, dass diesen Kindern das mathematische Verständnis fehlte, dass sie stattdessen blind mit den gegebenen Zahlen hantierten und diese zu einer unlogischen Rechnung vermengten. Warum scheitern so viele Grundschulkinder in Mathematik? Mathe verlangt logisches Denken, es geht um richtig und falsch. Dabei ist die richtige Lösung nicht verhandelbar. Dies ist für viele Schüler befremdlich, weil sie sich in den meisten Fächern daran gewöhnt haben, dass man es so oder so sehen kann. Auch Spaßkonzepte, die in den anderen Fächern so beliebt sind, funktionieren in der Mathematik nicht. Denn hier gilt es zu denken, und das ist mit Mühe verbunden. Eine Kultur der Anstrengung ist aber im schulischen Lernen seit Jahren auf dem Rückzug. Der Mathelehrer und Autor Michael Felten führt die schwachen Leistungen der Schüler in diesem Fach auf eine Verzärtelung zurück, die im Elternhaus ihren Anfang nimmt und sich in der Schule fortsetzt. Felten spricht von „seelischer Verwöhnung“ und meint damit „die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.“ In der Mathematik gehe es aber darum, in einer geistigen Anstrengung etwas auszuprobieren und dabei auch Irrwege und Enttäuschungen in Kauf zu nehmen. Diese Anstrengungsbereitschaft müsse im Elternhaus durch eine intellektuell anregende Erziehung erzeugt werden. Als wenig hilfreich hat sich auch die Haltung vieler Eltern erwiesen, vor ihren Kindern mit ihren schwachen Mathe-Leistungen zu kokettieren. Damit setzt sich beim Nachwuchs die Auffassung fest, auf Mathe komme es letztlich nicht an, weil man auch ohne gute Leistungen in diesem Fach prima durchs Leben kommt.

In allen PISA-Studien schnitten japanische Schüler in Mathematik besonders gut ab. Deutsche Bildungsexperten versuchten dem Geheimnis dieses Erfolgs auf die Spur zu kommen und wurden fündig. In der japanischen Grundschule unterrichten nur hervorragend ausgebildete Lehrkräfte. Fachfremd zu unterrichten ist im Gegensatz zu uns verpönt. Alle Aufgaben enthalten eine anspruchsvolle Problemstellung, die einen Bezug zur Realität aufweist. Lösungswege zu finden und auszuprobieren ist genauso wichtig wie die Lösung selbst. Auf diese Weise wird bei den Kindern mathematisches Verständnis geweckt. Während in Deutschland Schulen mit dem Versprechen werben, bei ihnen seien Hausaufgaben abgeschafft, ist in Japans Schulen das Hausaufgabenpensum groß. Die Kinder erhalten dabei viel Unterstützung durch die Eltern und Geschwister. Ohne beharrliches Üben sind Mathewunder eben nicht zu erwarten.

Wissenschaftliche Evidenz ist gefragt

In der Medizin ist es selbstverständlich, dass Therapien und Medikamente ständig verbessert werden, um bei den Patienten den besten Heilungserfolg zu erzielen. Heerscharen von Wissenschaftlern forschen an universitären oder privatwirtschaftlichen Instituten nach optimalen Produkten. Warum hat es die pädagogische Wissenschaft bis heute nicht geschafft, die Glaubenssätze, die in der Bildungspolitik das Handeln bestimmen, durch valide Fakten zu widerlegen? Lehrer wissen aus Erfahrung, dass die Lernergebnisse in homogenen Lerngruppen besser ausfallen als in heterogenen. Sie wissen auch, dass die Selbstlernmethoden bei der Mehrzahl der Schüler nicht zum erwünschten Erfolg führen. Die Wissenschaft könnte diesem Erfahrungswissen das Siegel der Evidenz verleihen. Kein Bildungspolitiker könnte den Schülern dann noch Lernmethoden zumuten, die beim Evidenztest durchgefallen sind. Gewinner wären die Schüler. Wenn Kinder schon in der Grundschule Misserfolge erleben, wird ihnen das Lernen auf Dauer verleidet. Ein Versagen am Beginn ihrer Schullaufbahn bürdet ihnen eine Last auf, die sie bis zur Ausschulung – viel zu oft ohne Abschluss – mit sich herumschleppen. Wir sollten alles tun, um den Unterricht in der Grundschule so zu verbessern, dass man von einer wirklichen Grundlegung für die schulische Laufbahn der Schüler reden kann.

Das „digitale Bildungskonzept “ der Stiftungen

Leserbrief von Manfred Fischer an den Tagesspiegel

Die Absichten bei der Digitalisierung der Schule

Im Tagesspiegel vom 18.11.2022 wird unter der Überschrift „Was die digitale Schule lernen muss“, von einer Konferenz berichtet, die vom „Forum Bildung Digitalisierung“ in Berlin veranstaltet wurde. Ein Blick auf die wirklichen Absichten der zusammengeschlossenen Akteure ist angesagt.

Im Fokus von Jacob Chammon, ehemals Schulleiter und heute Vorstand des Forums, steht die Nutzung der digitalen Potenziale, „um das System Schule auf eine digital und von zunehmenden Unsicherheiten und Krisen geprägte Welt auszurichten“. Gefordert wird ein Kulturwandel zur digitalen Transformation des deutschen Schulsystems. Was die beteiligten Aktivisten unter den vorgegebenen „digitalen Potenzialen“ verstehen und wie sie diese für die Schule „nutzen“ wollen, wird deutlich in der von der Deutschen Telekom Stiftung 2021 veröffentlichten Trendstudie „KI@Bildung“ mit dem Titel „Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“. Darin wird bereits im ersten Absatz festgestellt: „KI-gestützte, lernförderliche Technologien, d.h. Lösungen, die auf Technologien wie Machine Learning, Educational Data Mining oder Learning Analytics basieren, bieten erhebliche Potenziale für alle Bereiche der schulischen Bildung“. Betrachtet man die Strategie der im „Forum Bildung Digitalisierung“ zusammengefassten Akteure – darunter, man staune, die Deutsche Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung – und der mit ihnen verbundenen Konzerne genauer, entdeckt man ein perfektes Zusammenspiel. Es geht darum, das „digitale Bildungskonzept“ der Stiftungen gewinnbringend für die Unternehmen an unseren Schulen umzusetzen.

Die Vereinzelung beim Lernen vor dem Bildschirm, die Abschaffung des Unterrichts, die Auflösung der Klassengemeinschaft, der Verlust von Sozialkompetenzen sowie der stete Leistungsabfall in den Grundkompetenzen, all das wird kommentarlos hingenommen.

Ist die Fokussierung auf eine „digitale Schule“, wie die Education Technology-Unternehmen und ihre Lobbyisten es fordern, zum Nutzen unserer Schülerinnen und Schüler?

Tablets für alle – Kindergarten und Schule gerettet!?

Karin Prien ist seit Jahren Bildungspolitikerin und aktuell bis Jahresende auch Präsidentin der Kultusministerkonfernz. Vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin kam die Studie „Bildungstrend 2021“ heraus, die den Viertklässlern noch gravierendere Defizite in Deutsch und Mathematik bescheinigte als je zuvor.

Rund 27% der Schülerinnen und Schüler in Berlin erreichen im Bereich Lesen und Zuhören – in Orthografie sind dies 46% und in Mathematik 34,5% – nicht das für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft erforderliche Mindestniveau. Ihnen fehlen basale Grundkenntnisse!

Die Erkenntnis der Präsidentin nach bereits sieben PISA-Runden: „Nach Pisa ist viel zu wenig passiert“. Eine Lösung für die Schülerinnen und Schüler sieht sie in den digitalen Medien. Nachfolgend die Entgegnung eines Berliner Lehrers.


Sehr geehrte Frau Präsidentin Prien!

Mit großem Interesse habe ich Ihr Interview im Tagesspiegel vom 30. Oktober gelesen. Die Frage „Braucht jedes Schulkind ein Tablet“ beantworteten Sie mit „Ja, jedes Kind braucht ein Endgerät“, um dann auf Finanzierungsfragen einzugehen.
Über diese (teure) Aussage ohne pädagogische Begründung, ohne wissenschaftliches Fundament war und bin ich doch sehr überrascht, insbesondere wegen Ihrer prominenten und einflussreichen Position und Ihrer ausführlichen Hinweise zuvor, dass Eltern mit ihren Kindern viel sprechen und ihnen vorlesen sollen, persönliche Bindungen und Vorbilder demnach der Kern sind, „basal“ und „unverzichtbar“, wie Sie betonen. Später beklagen Sie die Skepsis von Lehrern gegenüber Lernstandserhebungen und die mangelnde Akzeptanz von Förderprogrammen, deren Nutzen wissenschaftlich erwiesen sei, und fordern deren Verwendung verbindlich.
Ich kenne keine einzige seriöse Studie, die für Kinder oder Jugendliche in der Pubertät einen (nachhaltigen) positiven Effekt von Tablets in Bezug auf Allgemeinbildung in der bzw. durch die Schule oder auf die Primär- oder wenigstens Sekundärtugenden nachweist, schon gar nicht bei Kindern im Grundschul- oder Kindergartenalter, auf die sich das Interview fokussiert. Die Corona-Jahre haben doch unterstrichen, dass der Computer eben nicht die Lösung fürs Erlernen unserer Kulturtechniken ist – im Gegenteil! Die durchschnittlichen Bildschirmzeiten von Kindern und Jugendlichen legen nahe, dass hier wohl kein Nachholbedarf besteht.
Mitnichten bin ich ein Feind digitaler Medien, nutze sie im Unterricht, aber sie bleiben eben vermittelndes Element, sind nicht Selbstzweck – und ganz sicher nicht die eierlegende Wollmilchsau der Bildung in der Schule.
Ein pauschales Ja der Präsidentin der Kultusministerkonferenz zu Endgeräten in der (Grund-) Schule oder gar bereits im Kindergarten vermittelt aber gerade den Eindruck, durch Tablets für jedes Schulkind (prompt) Erfolge erzielen zu können. Sie sagen zu Beginn des Interviews selbst: „In der Bildungspolitik gibt es keine kurzfristigen Erfolge, sondern es helfen nur langfristige Strategien.“
Wie lauten die Strategien und deren wissenschaftliche Begründungen durch unabhängige Forscher?

Mit freundlichen Grüßen,
Thilo Steinkrauß


Thilo Steinkrauß ist Fachbereichsleiter für Mathematik am Herder-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg
www.herder-gymnasium.eu

Siehe dazu auch den Beitrag:
Überwachungstechnologie in der Schule als KMK-„Bildungskonzept“ – Kritische Anmerkungen zu den Vorstellungen der Kultusministerkonferenz zum „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“.

IQB-Bildungstrend 2021

Bildung ohne Wirkung – kontinuierlicher Absturz

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin, 28.10.2022

Für den „Bildungstrend 2021“, durchgeführt vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin[1], wird der Stand bei Schülerinnen und Schülern im Abstand von fünf Jahren repräsentativ untersucht. 2021 haben 26.844 Schülerinnen und Schüler der vierten Jahrgangsstufe in 1.464 Grundschulen aus allen 16 Bundesländern teilgenommen. Vorweg:

Die Viertklässler von heute stehen in Deutsch und Mathematik schlechter da als je zuvor.

Nach 2011 und 2016 hat der IQB-Bildungstrend 2021 zum dritten Mal untersucht, inwieweit Viertklässlerinnen und Viertklässler die bundesweit geltenden Bildungsstandards[2] der Kultusministerkonferenz (KMK) in den Fächern Deutsch (die Kompetenzbereiche „Lesen“, „Zuhören“ und „Orthografie“) und Mathematik für den Primarbereich erreichen.

Die Testergebnisse werden fünf verschiedenen Kompetenzstufen zugeordnet:
Unter Mindeststandard, Mindeststandard, Regelstandard, Regelstandard Plus und Optimalstandard.

Erläuterungen von Mindeststandard, Regelstandard, Kompetenzstufen

Abb. aus: https://www.isq-bb.de/wordpress/wp-content/uploads/2016/06/VERA-3_Bericht2015_BE.pdf

Als durchschnittliche Erwartung an die Leistungsstände von Schülerinnen und Schülern am Ende der Jahrgangsstufe 4 gilt der Regelstandard (Kompetenzstufe III). Über die dort beschriebenen Kompetenzen sollen Schüler/-innen am Ende der Jahrgangstufe 4 durchschnittlich verfügen. Unterhalb des Regelstandards werden zwei weitere Kompetenzstufen definiert. Der Mindeststandard (Kompetenzstufe II) beschreibt ein Minimum an Kompetenzen, über die alle Schüler/-innen am Ende der Jahrgangsstufe 4 verfügen sollten. Die Gruppe der Schüler/-innen unter Mindeststandard (Kompetenzstufe I) erreicht diese Mindestanforderungen nicht. Diesen Schülerinnen und Schülern fehlen basale Kenntnisse, um den erfolgreichen Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule zu bewältigen. Ihnen sollte bei der Kompetenzentwicklung besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

Dies fordert auch Norbert Maritzen, langjähriger Direktor des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung und Mitglied des Berliner Beirats für Qualität in einem Interview: „Mindeststandards sind zu verstehen als eine Bringeschuld des Staates, die ausnahmslos für jedes Kind eingelöst werden muss. Die immer noch skandalös hohen Anteile von Kindern und Jugendlichen, die in bestimmten Domänen Mindeststandards verfehlen, zeigen, dass dieser Anspruch derzeit nicht erfüllt wird. Mindeststandards würden eine Grenze festlegen, deren Unterschreitung nicht hingenommen werden darf. Das müsste dann massive Konsequenzen für die Bereitstellung von Unterstützung haben.“[3]

Die Ergebnisse sind alarmierend

Die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik haben sich bei Kindern in der vierten Klasse dramatisch verschlechtert. Die Ergebnisse sind alarmierend und sie zeigen, dass in fast allen Bundesländern die Leistungen nachgelassen haben, allerdings in deutlich unterschiedlichem Umfang.

Die Ergebnisse für Berlin

  • Lesen: 27,2 Prozent der Schülerinnen und Schüler verfehlen den Mindeststandard, erfüllen also nicht die Mindestanforderungen. 48,5 Prozent, d.h. nicht einmal die Hälfte erreichen den Regelstandard. Den Optimalstandard erreichen 6,9 Prozent.
  • Zuhören: 27,1 Prozent der Kinder verfehlen den Mindeststandard. Nicht einmal die Hälfte, nämlich 48,4 Prozent, erreichen den Regelstandard, 7,1 Prozent den Optimalstandard. Berlin bildet mit Bremen hier das Schlusslicht.
  • Orthografie: 46,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler verfehlen den Mindeststandard (Bundesweit sind dies 30,4 Prozent). 29,8 Prozent erreichen den Regelstandard, 3,4 Prozent den Optimalstandard. Auch hier stehen Berlin und Bremen ganz hinten im Ländervergleich.
  • Mathematik: 34,5 Prozent der Kinder verfehlen den Mindeststandard, erfüllen also nicht die Mindestanforderungen. 41,6 Prozent erreichen den Regelstandard, 6,7 Prozent den Optimalstandard. Das ist das schlechteste Ergebnis zusammen mit Bremen.

Die Autorinnen und Autoren des IQB-Bildungstrends haben berechnet, dass der Kompetenzunterschied zwischen dem Land mit dem höchsten (Bayern) und dem Land mit dem niedrigsten Mittelwert (Bremen und Berlin) bis zu einem Schuljahr Lernzeit in Lesen und Zuhören entspricht. Bei Orthografie umfasst die Spanne etwa zwei Drittel eines Schuljahres und in Mathematik drei Viertel eines Schuljahres. Bremen und Berlin sind weiter im Ländervergleich die Schlusslichter.

Dass in unseren Schulen eine immer größere Schülergruppe heranwächst, die von sozialem Abstieg und von Ausgrenzung bedroht sind, hat mehr mit fehlender frühkindlicher Bildung in Familie und Kita, Dauerreformen, Lehrermangel, unzureichend ausgebildeten Lehrkräften und einer immer heterogener werdenden Schülerschar zu tun als mit Hinweisen auf Corona-Quarantänen, Testzeitraum oder Flüchtlingszahlen.

Wie sind jedoch die Reaktionen aus Berlin zu den Ergebnissen der Studie? Ein Sprecher der Senatsbildungsverwaltung erklärte: Man habe den Handlungsbedarf „bereits vor längerer Zeit klar erkannt“ und deshalb vieles auf den Weg gebracht.[4]

Die Ergebnisse sprechen – wie schon in den letzten Jahren – eine andere Sprache! So heißt es bereits im Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie (2017): „Kompetenzarmut ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen des Berliner Schulsystems“.[5]

Zur offensichtlichen Schulmisere in Berlin beschrieben Experten aus der Schulpraxis im Tagesspiegel vom 09.09.2019 ihre Position zur Berliner Schulpolitik: „Uns eint – trotz unterschiedlicher Positionen im Einzelnen – die Sorge, ja Fassungslosigkeit über den desaströsen Zustand der Berliner Schule und damit über das Versagen der Bildungspolitik über Jahre hinweg mit vorhersehbaren fatalen Ergebnissen. Die lange Liste der Versäumnisse, der falschen Entscheidungen und aktionistischen Ablenkungsmanöver hat jetzt ein Ausmaß erreicht, das wir als erfahrene Schulexperten, die seit langem vielfach auf die sich abzeichnenden Probleme hingewiesen haben, einfach nicht mehr hinnehmen können. Wir haben unsere Verantwortung nicht mit dem Ruhestand oder an der Schultür abgegeben – sie bleibt. […] Im Fokus müssen wieder die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte stehen, nicht zuerst ein ideologisch fixierter Glaube an bestimmte pädagogische Rezepte, die Befriedigung von Interessenvertretungen, die Sorge um den politischen Machterhalt oder gar um den eigenen Posten.“[6]

Offenbar ist die Politik nicht gewillt, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, und sieht die fundamentalen Risiken nicht, die damit für unsere Gesellschaft einhergehen – ein Ausmaß an Ignoranz, das uns noch teuer zu stehen kommen wird.


[1] Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Bericht: IQB Bildungstrend 2021
[2] Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen: Bildungsstandards in folgenden Fächern
[3] Das Deutsche Schulportal, 24.06.2022, Der lange Weg zu bundesweiten Bildungsstandards, Interview von Florentine Anders mit Norbert Maritzen, der am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) Berlin die Weiterentwicklung der Bildungsstandards leitet.
[4] Tagesspiegel,18.10.2022, Früher war alles schlauer
[5] Ergebnisbericht zur BERLIN-Studie (2017), Bilanz nach 10 Jahren Reform der Berliner Schulstruktur „Leistungsstandards sind mit den Sekundarschulen gesunken“, S. 483.
Siehe auch zu diesem Thema: Bilanz nach 10 Jahren Reform der Berliner Schulstruktur | Schulforum-Berlin
[6] Tagesspiegel, 09.09.2019, Position zur Berliner Schulpolitik: „In Sorge über die desaströsen Zustände“.

Zwischenruf einer Lehrerin: Unser Beruf ist extrem belastend geworden!

Entgegen aller Vorurteile ist der Lehrerberuf keineswegs geruhsam. Eine Berliner Lehrerin über die Härten ihres Jobs.

Franziska Klumpp

Der Lehrerberuf ist schön, nur bei Regen nicht, weiß die Berliner Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse aus eigener Erfahrung als langjährige Schulleiterin einer Grundschule in Berlin-Neukölln. Bei der Verbeamtungszeremonie letzte Woche, bei der seit 18 Jahren das erste Mal wieder junge Berliner Lehrerinnen und Lehrer verbeamtet wurden, bekannte sie: Nach drei Regenpausen habe sie sich hin und wieder doch gefragt, warum sie sich das eigentlich antue.

Liebe Frau Senatorin, wenn es weiter nichts wäre als verregnete Pausen! Wenn es weiter nichts wäre als Pausen, die mit Elterntelefonaten, Besprechungen, Kopieren und Organisieren verbracht werden statt in Ruhe mit einer Tasse Kaffee! Wenn es nicht mehr wäre als Arbeiten in oft heruntergekommenen Schulgebäuden und mit alten und zu wenigen Computern! Wenn es weiter nichts wäre als Klassenstärken von über 30 Schülerinnen und Schülern, davon immer mehr mit häuslichen Problemen, Lernschwierigkeiten und verschiedenem Förderbedarf! Wenn es weiter nichts wäre als ständig zunehmende Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben zusätzlich zu den 26 Unterrichtsstunden pro Woche! Wenn es nicht mehr wäre als die Vorbereitung von Prüfungen und die schier endlosen Korrekturen von Klausuren, die wieder einmal die Ferien, das Wochenende oder die letzten Nächte gekostet haben! Wenn es weiter nichts wäre als die allabendliche Unterrichtsvorbereitung, während andere Leute Feierabend haben, den „Tatort“ sehen oder einem Hobby frönen!

Die Dauerbelastung der Berliner Lehrkräfte

Wenn es weiter nichts wäre als das Fehlen jeder Aufstiegsperspektive oder die fehlender Anerkennung durch Schulleitung, Schulaufsicht und Senatsverwaltung, die Jahr für Jahr neue außerunterrichtliche Aufgaben ersinnen, ohne dass je etwas dafür wegfiele! Wenn es weiter nichts wäre als das!

Aber all das zusammen, liebe Frau Senatorin, bedeutet eine Dauerüberlastung der Berliner Lehrkräfte, die dazu führt, dass immer mehr in Teilzeit arbeiten. Denn anders ist das Pensum kaum zu schaffen, wenn man – fast hätte ich es vergessen! – neben all dem auch für jede einzelne Schülerin und jeden Schüler da sein möchte, freundlich, geduldig und einfühlsam.

Wenn man wissen möchte, wie es den Beschäftigten einer Branche geht, blättere man einfach in den Blättchen der jeweiligen Berufsverbände. Wer wirbt darin wofür? Im PROFIL, dem Magazin für Gymnasium und Gesellschaft des Deutschen Philologenverbandes, sind es vor allem Burn-out-Kliniken, die in jeder Nummer großformatig mit Verheißungen werben wie „Erschöpft und ausgebrannt? Wir sind für Sie da!“

Die meisten Lehrer haben eine Sieben-Tage-Arbeitswoche

Eine andere verspricht „Endlich wieder Ruhe finden – wir helfen bei Depressionen, Burn-out und Angst- und Stresserkrankungen“.

Arbeitszeitstudien, wie z.B. 2020 die Studie Lehrerarbeit im Wandel (LaiW) des Deutschen Philologenverbandes belegen immer wieder, dass ein Großteil der Lehrer eine 7-Tage-Arbeitswoche hat. Nur etwa die Hälfte der Befragten gab an, eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu finden und vier von zehn Lehrkräften klagten über Schlafprobleme.

Da klingt es wie Hohn, wenn bei der erwähnten Verbeamtungszeremonie die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey die jungen Beamten auf die rot-weißen Kordeln an ihren Verbeamtungsurkunden hinwies, die ein Zeichen seien für „die Lebenszeitverbeamtung und ruhigen Schlaf“.

Dank der verfehlten Einstellungspolitik und der Sparmaßnahmen des Berliner Senats, gepaart mit permanenten „Bildungsreformen“ und ständig wachsenden Aufgaben jenseits des Unterrichts, ist der Lehrberuf in den letzten Jahrzehnten ein extrem belastender und gesundheitsschädlicher Beruf geworden.

Vor allem Lehrkräfte mit Kindern sehen sich genötigt, ihre Arbeitszeit drastisch zu reduzieren. Niemand kann 50 bis 60 Stunden pro Woche arbeiten, wenn auch eigener Nachwuchs Ansprüche an Zeit, Kraft und Zuwendung stellt. Nur die wenigsten Lehrkräfte halten bis zur Pensionierung durch, wenn sie in Vollzeit arbeiten. Aber vielleicht können sich die nun neu bestallten Beamten ja, wenn sie erst einmal im Hamsterrad Schule angekommen und bald darauf am Ende ihrer Kräfte sind, an der eigenen rot-weißen Kordel aus dem Sumpf der Verzweiflung ziehen.

Die Autorin ist seit 1999 im Berliner Schuldienst und unterrichtet an einem Pankower Gymnasium die Fächer Englisch, Deutsch und Latein. Dieser Beitrag erscheint auf der Website Schulforum-Berlin mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Er ist zuerst in der Berliner Zeitung erschienen.

»Medientheorie« in der Schule

Plädoyer für ein neues Unterrichtsfach[1]

von Nils B. Schulz

»Medientheorie« als eigenständiges Fach

Wenn man davon ausgeht, dass wir uns in einer der größten kulturellen Revolutionen seit dem Neolithikum befinden, in der sogenannten »digitalen« oder »informatischen Revolution« (über die superlativischen Begriffe mag man streiten), dann scheint es unabdingbar, dass zukünftige Lehrerinnen und Lehrer sich während des universitären Studiums mit dieser Zeitdiagnose auseinandersetzen: philosophisch, soziologisch, sozialpsychologisch, phänomenologisch (im Sinne einer Phänomenologie des Leibes). Vor allem das Referendariat müsste sich medienpädagogischen und medientheoretischen Fragen widmen; bisher geschieht dies aufgrund des Primats der Methoden- und Kompetenzorientierung nur in Ansätzen und oft zu unkritisch. Man könnte dies das Medientheoriedefizit der Lehrerausbildung nennen.

Was den Schulunterricht anbetrifft, verfolgt das KMK-Strategiepapier dezidiert eine integrative Strategie: Alle Fachcurricula müssen ihren »Beitrag« zur Vermittlung der »Kompetenzen in der digitalen Welt«[2] leisten. Eine andere bzw. zusätzliche Option wäre die Etablierung eines neuen Schulfachs »Medientheorie« oder – wie die Bremer Informatik-Professorin Heidi Schelhowe vorschlägt – »Digitale Medien«[3]. Entwicklungspsychologisch wäre es sinnvoll, dieses Fach ab dem 7. Schuljahr zu unterrichten; und überhaupt sollte der Unterricht der Grundschule weitestgehend bildschirmfrei sein.[4] Das Fach »Medientheorie« würde einen neuen Studiengang erfordern, der Lehrerinnen und Lehrer sowohl in Informatik als auch kulturwissenschaftlich und medienphilosophisch ausbildet. Der Vorteil wäre, dass medientheoretische Fragen in der Schule systematisch entwickelt werden könnten. Das jetzige integrative Konzept ist dazu prädestiniert, kognitive Dissonanzen zu produzieren; denn die unterschiedlichen digitalen Nutzungsstrategien der Lehrkräfte konfrontieren die Schülerinnen und Schüler zuweilen mit unkommentierten oder sich diametral widersprechenden Überzeugungen und Verhaltensweisen. Gäbe es das Fach »Medientheorie« als gemeinsam geteilten Bezugshorizont, so könnten Schülerinnen und Schüler ihr dort erworbenes Wissen nutzen, um Digital-Projekte in anderen Fächern und Kursen »medienmündig« (Paula Bleckmann) zu beurteilen. Wenn also der Englischlehrer unkritisch ein Instagram-Projekt durchführt oder die Geschichtslehrerin für die Internetrecherche am interaktiven Whiteboard »Google« als Suchmaschine benutzt, wären die Schülerinnen und Schüler in der Lage, sich dazu reflektiert zu verhalten und zum Beispiel über trackingsichere Alternativen zu diskutieren.

Ein etwas anders konzipiertes Fach, das auf die Kolonisierung der Lebenswelt mit digitalen Geräten reagiert, schlug der Mainzer Philosoph und Kognitionswissenschaftler Thomas Metzinger schon 2006 vor. Metzinger plädierte für eine neue »Bewusstseinskultur« und die Etablierung eines Unterrichtsfachs »Aufmerksamkeitsmanagement«[5], das auch Meditieren beinhalten sollte. Wenn auch der Management-Begriff sicherlich zu ökonomistisch ist, so versucht Metzingers Vorschlag den zunehmenden Aufmerksamkeitsdefiziten Jugendlicher entgegenzuwirken, ja überhaupt erst eine Sensibilität dafür zu schaffen, dass zum Beispiel der Social-Media-Konsum oder auch intensives Computerspielen junge Menschen manipuliert, reizüberflutet und permanent ihr limbisches Belohnungssystem aktiviert. Metzingers Überlegungen sprechen auch für eine Stärkung der Fächer »Kunst«, »Werken« und »Sport«. Der Phänomenologe Gernot Böhme nennt das »antizyklische Bildung«[6].

Den Forderungen nach einem neuen Fach wird jedoch schnell entgegengehalten, dass sich ein weiteres Fach nicht »organisieren« ließe. Die Stundentafel sei zu voll; und wahrscheinlich folgt die KMK-Strategie ja auch diesem organisationsökonomischen Argument. Man möchte an der alten Stundentafel nichts verändern, obwohl man ständig die Disruptions- und Revolutionsmetaphorik im Munde führt. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Lebenswelt führt jedoch zwangsläufig zu neuen Fächern, Zeit- und Unterrichtskonzepten; und darüber müsste man nachdenken, ohne durch das gänzliche Auflösen bestimmter Zeitrhythmen und Raumstrukturen, wie es die sogenannte neue Lernkultur mit ihrer Idee der »Lernlandschaften« konzeptualisiert, der inneren Unruhe vieler Jugendlicher  weiter zuzuarbeiten.

»Medientheorie« als Zusatzkurs

In Berlin gibt es seit einigen Jahren immerhin die Möglichkeit, in der Oberstufe sogenannte Ergänzungs- bzw. Zusatzkurse einzurichten. Ein solcher Kurs kann ein »Medientheorie«-Kurs sein, wie ihn zum Beispiel das Robert-Havemann-Gymnasium in Pankow anbietet. Er erstreckt sich über zwei Halbjahre. Zunächst entwickeln die Schülerinnen und Schüler einen Medienbegriff, der im Laufe des Kurses konkretisiert wird, und zwar aufgrund von Lektüren grundlegender Texte der Medientheorie – meistens mit Blick auf das digitale Medium, das die Lebenswelt der Jugendlichen am intensivsten bestimmt: das Smartphone. Leitend ist Dietmar Kampers Formulierung, dass Technik immer janusköpfig ist. Für die Digitaltechnik heißt das, dass man sowohl Steuermann (gr. »kybernetes«) als auch Gesteuerter, »Anhängsel« (Theodor W. Adorno) der Kybernetik ist. Der Kurs thematisiert vor allem Gefahren eines digitalen Überwachungskapitalismus: das Gesteuert- und Kontrolliert-Werden. So kompensiert der »Medientheorie«-Kurs die zuweilen eindimensionalen Methoden anderer Unterrichtsfächer, die den Einsatz von Digitaltechnik weder fachdidaktisch noch datenschutzrechtlich reflektieren.

Die Schülerinnen und Schüler des »Medientheorie«-Kurses analysieren YouTube-Videos, erörtern sozialpsychologische Fragen der Social-Media-Kommunikation, vergleichen digitale und analoge Medien, setzen sich mit den Snowden-Veröffentlichungen und Fragen der Datensicherheit auseinander – auch praktisch. Einige Themen können als Projektarbeiten durchgeführt werden, die dann in eine kleine Ausstellung münden. So engagieren sich die Schülerinnen und Schüler selbst am »Projekt der Aufklärung«. Man vergisst schnell, dass die jetzigen Abiturienten 2013 erst neun Jahre alt waren. Sie hören den Namen »Snowden« in diesem Kurs oft das erste Mal.

Auch wurden in der Vergangenheit immer wieder Exkursionen unternommen: ins Filmmuseum oder ins Kino, um den Desktop-Film »Searching« zu sehen und ihn anschließend im Unterricht zu analysieren, oder zu dem alternativen E-Mail-Unternehmen „Posteo“ in Berlin-Kreuzberg, wo unter anderem die Vor- und Nachteile des Fairphones und ökologische Fragen des Digitalkonsums erörtert wurden, oder auch zu akademischen Vorträgen wie beispielsweise dem »Urania«-Vortrag Shoshana Zuboffs über »Surveillance Capitalism and Democracy«.

Da der Kurs ein sogenannter Zusatzkurs ist, bietet er die Möglichkeit, auf Schülerwünsche einzugehen. Meist sind sie an einer Auseinandersetzung mit dem Thema »Künstliche Intelligenz« interessiert, dem man sich über Spielfilme wie »Ex machina« oder »Matrix« annähern kann. So ist Filmanalyse eigentlich immer ein zentrales Thema des zweiten Halbjahrs. In gewisser Weise wohnt dem »Medientheorie«-Kurs so etwas wie eine kontingente Weiterbildungsstruktur inne, da Schülerinteressen zu einem gemeinsamen Erschließen neuer Themenfelder führen – wie im vergangenen Jahr »Clickbating« oder die medienkritische Aufarbeitung der »Drachenlord«-Berichterstattung, die zugleich das Phänomen des Cybermobbings in den Fokus rückte.

Was zuletzt nicht mehr funktioniert hat, ist eine gemeinsame Offline-Phase von drei (ursprünglich fünf) Tagen; zu abhängig sind die Jugendlichen von der Handynutzung – auch weil viele schulinternen Informationen digital abgerufen werden. Dabei war eine Auswertung dieser Phase in früheren Jahren sehr interessant. Manche Schülerinnen und Schüler beendeten das Offline-Dasein schon nach zwei Stunden: Sie hielten die Abstinenz nicht aus. Dann rückt das Suchtthema ganz konkret in den Fokus. Viele sprachen von unheimlicher Langeweile – ein philosophisch, vor allem phänomenologisch, sehr ergiebiges Thema. Mehr als drei Schüler oder Schülerinnen haben die Offline-Phase nie durchgehalten.

Schließlich bietet der »Medientheorie-Kurs« einen guten Rahmen für Fragen der ästhetischen Bildung. Mediengestützte Vorträge gehören zum Schul- und Prüfungsalltag von Schülerinnen und Schülern. Jedoch ist die gestalterisch-konzeptionelle Arbeit an digitalen Folien selten Gegenstand des Unterrichts; auch deshalb, weil sich  kaum eine Lehrkraft dafür verantwortlich fühlt oder entsprechend ausgebildet ist. So versucht der Kurs Schülerinnen und Schüler für kommunikations- und designtheoretische Fragen zu sensibilisieren, die das Gestalten digitaler Präsentationen betreffen. Dabei geht es weniger um eine Anleitung zur Foliengestaltung, sondern vielmehr um ein Konzept, das Schülerinnen und Schüler unterstützt, mithilfe von Gestaltungsprinzipien und textlinguistischen Überlegungen foliengestützte Vorträge bewusst vorzubereiten und reflektiert zu beurteilen. Es handelt sich um ein offenes Konzept – mit dem Ziel, die Entwicklung der gestalterischen Persönlichkeit zurdern.[7]

Resümee

Der »Medientheorie«-Kurs ist zum einen systematisch aufgebaut, indem er zunächst anhand von theoretischen Texten – von Günther Anders und Marshall McLuhan über Vilém Flusser bis Tilman Baumgärtel – ein Begriffsvokabular entwickelt, mit dem Schülerinnen und Schüler sowohl ihren eigenen Mediengebrauch als auch weitere medientheoretische Fragen reflektieren können; zum anderen ist der Kurs offen für Themen, die Schülerinnen und Schüler aus ihrer eigenen Alltagswelt einbringen.

Würde man ein Fach »Medientheorie« ab der Klasse 7 einführen, müsste man sicherlich induktiver vorgehen und die Themen altersgemäß entwickeln. Ein Desiderat ist überhaupt ein fehlendes Schulbuch, das aktuelle medientheoretische Texte vorstellt und didaktisch aufbereitet. Ein solches Buch würde sich allein schon für das Semesterthema »Kommunikation« des Oberstufen-Lehrplans »Deutsch« anbieten; denn dieses Semester – in Berlin ist es das erste Semester der Qualifikationsphase – konzentriert sich meist auf die Analyse des Kommunikationsverhaltens mittels digitaler Medien.


[1] Die folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Kapitels »Oberstufenkurs Medientheorie – ein unterrichtspraktisches Beispiel« in: Nils B. Schulz, Erziehung zur Medienmündigkeit. Überlegungen zu einer moderaten Integration von Digitaltechnik in den Unterricht, in: Handbuch Schulleitung und Schulentwicklung, Dr. Josef Raabe Verlags-GmbH (2/2019), S.14ff.

[2] https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018 Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf (S.15f.) (abgerufen am 06.06.2022)

[3] https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/digitalisierung-bildung-bremen-schule-100.html (zuletzt abgerufen am 03.01.2019)

[4] Zum Medienkonsum von Jugendlichen und Kindern siehe grundsätzlich Paula Bleckmann, Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit Medien umgehen lernen, Stuttgart 2012 und Ralf Lankau, Was Hans nicht lernt … Kritische Statements zur Digitalisierung in der Grundschule, in: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/was-haenschen-nicht-lernt-teil-ii.html (abgerufen am 10.06.2022)

[5] Zit. nach Ingo Leipner, Die Katastrophe der digitalen Bildung. Warum Tablets Schüler nicht klüger machen – und Menschen die besseren Lehrer sind, München 2020, S.127

[6] Siehe dazu Gernot Böhme, Analog versus digital, in: ders. (Hg.), Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter, Darmstadt 2022, S. 9

[7] Siehe dazu Silke Ihden-Rothkirch/Nils B. Schulz, Digitale Folien im Unterricht. Gestaltung und Beurteilung von Präsentationen, in: »Bildungsmanagement. Starke Lehrer – Starke Schule«, Dr. Joseph Raabe-Verlags GmbH (3/2020)