„Wir sollten Schluss machen mit PISA“

Datum: 18.06.2015
„PISA gefährdet unser Bildungssystem“
Interview (heute so aktuell wie am 2.12.2013) mit Bildungsforscher Volker Ladenthin von Jens Wernicke

Jens Wernicke fragt den Bildungsforscher Volker Ladenthin, Universität Bonn, was er an den Ergebnissen der fünften PISA-Studie auszusetzen hat.
Volker Ladenthin:  Zum einen misst PISA die deutschen Schulen nicht an den Kriterien, die in Verfassung, Schulgesetzgebung und Lehrplänen als Ziele derselben ausgegeben sind. „Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.“ So steht es beispielsweise im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen. Bisher haben die PISA-Macher aber nicht nachgewiesen, dass ihre Kriterien derlei Ziele unterstützen. Vielmehr wird immer deutlicher, wie sehr die PISA-Kriterien das Erreichen dieser Ziele behindern.
Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt. Die gesetzten Kriterien haben sich dabei keiner breiten und wissenschaftlichen Diskussion über das, was Schule überhaupt soll und will, versichert. Ohne Auseinandersetzung mit dem Stand der Wissenschaft, mit bestehenden Schul- und Bildungstheorien, und auch nicht gemeinsam mit Lehrer- oder Elternverbänden werden die Kriterien der OECD, die übrigens niemand hierzu legitimiert hat, dies zu tun, nun einfach als Maßstäbe gesetzt. So etwas war bisher in der Wissenschaft unüblich. (…)

Wie setzt PISA die eigenen Kriterien für das, was Bildung ausmachen soll, durch?
Um das zu realisieren, was man will, überzeugt PISA nicht Erzieher und Lehrer vor Ort und klärt Eltern auf, wie dies demokratisch üblich wäre. Stattdessen verordnen die nationalen Verwaltungen im Auftrag der EU den Kitas, Schulen und Unis immer mehr und immer häufiger internationale Tests, durch welche die nicht gefügigen Teilbereiche blamiert und somit zur Anpassung gedrängt werden. „Blaming and naming“ heißt das in der Verwaltungssprache.
Und um derlei Bloßstellungen etwa mittels der PISA-Rankings zu vermeiden, passen sich die Kitas und Schulen den fremdgesetzten Kriterien an – auch gegen eigene Überzeugungen. So werden heute politisch Ziele top-down durchgesetzt, ohne dass die Beteiligten – Lehrer, Erzieher, Eltern – auch nur den Hauch von Mitbestimmung hätten hierbei. Und die Tests selber, also die sollen auch gar nicht „Qualität“ messen, dazu sind sie auch weder geeignet noch gedacht, sondern internationale Normen durchsetzen.

Was haben Sie denn gegen Normsetzungen?
Ganz einfach: Dass diese unser Bildungssystem zunehmend darauf reduzieren, Menschen nur noch für kurzfristige und begrenzte Zwecke auszubilden, und nicht mehr als Menschen und ganze Personen zu bilden. Wenn sich dies aber durchsetzt, verlieren unsere Kinder genau jene Eigenschaften, die uns zu einer starken Nation gemacht haben: Kreativität, Individualität, Innovationslust, Selbstbewusstsein und Verantwortung. (…)

zum Artikel:  Wirtschaftswoche, 2.12.2013, Jens Wernicke, „PISA gefährdet unser Bildungssystem“

siehe auch:  PROFIL, Juni 2014, Gastbeitrag Volker Ladenthin, PISA, Wir bestimmen die Probleme

Kompetenzorientierung: Es geht um Anpassungsfähigkeit

Datum:  17.06.2015
Kompetent, aber denkfaul?
Früher beherrschte man sein Fach, heute ist man kompetent. Der Begriff „Kompetenz“ hat Karriere gemacht. Wer kompetent ist, verfügt über Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Aber das stimmt nicht, sagt Professor Jochen Krautz von der Bergischen Universität Wuppertal und erläutert, warum das so ist.
Interview: Hartmut Volk, Südtiroler Wirtschaftszeitung (SWZ)

SWZ: Herr Professor Krautz, weshalb ist die Zuschreibung ‚kompetent‘ für Sie mit Vorsicht zu genießen?
Jochen Krautz: Weil sie nicht hält, was sie oberflächlich verspricht. Jeder will heute einen „kompetenten“ Menschen als Ansprechpartner. Ob Arzt, Bankberater, KFZ-Mechaniker oder Verkäufer, alle sollen sie kompetent sein. Was soll also schlecht daran sein, wenn bereits die Schüler auf Kompetenz hin unterrichtet werden, fragt sich der Laie. Nun, schlecht daran ist, dass das in den Schulen und Universitäten eingeführte Kompetenzkonzept massiv das Bildungsverständnis verändert. Bildung zielte auf Selbstständigkeit im Denken auf der Grundlage von Wissen und Können. Die Vermittlung von Kompetenzen hingegen zielt auf vordergründiges Funktionieren, auf Anpassungsbereitschaft an globalen Wandel beziehungsweise auf das, was bestimmte Kreise dafür halten. Das ist jedoch hoch problematisch, zumal aus den Betrieben zunehmend die Klage kommt, dass dieses selbstständige Denken faktisch ab- anstatt zunimmt, wie es die Verfechter des Kompetenzkonzeptes versprechen.

Schauen wir inhaltlich noch genauer hin: Was macht Ihnen den Kompetenzbegriff in der grassierenden Verwendung so suspekt?
Den Psychologen zufolge, die den Kompetenzbegriff in seiner aktuellen Fassung erfunden haben, geht es dabei um kognitive Fähigkeiten zur anwendungsbezogenen Problemlösung. Damit fällt ein großer Teil dessen, worum es in Schule gehen sollte, schon einmal unter den Tisch. Ziel dieser Verkürzung war es schlicht, Bildung messbar zu machen. Kompetenzen lassen sich nun zwar messen, das aber nur unter Vernachlässigung aller anderen Dimensionen von Bildung. Da Kompetenzen als funktionale Fähigkeiten prinzipiell inhaltsneutral sind, wird zunehmend gleichgültig, woran ich sie erwerbe. Lesekompetenz kann ich an einem anspruchsvollen Gedicht, aber auch an WhatsApp-Nachrichten üben. So lange ist es noch gar nicht her, da galt die Auffassung, dass Goethe oder Schiller noch etwas mehr zu bieten haben als SMS-Texte, etwa Fragen nach Glück und Verantwortung, nach Lebenssinn und Empfinden für eine ästhetische Sprachform. Und genau das ist kein überflüssiges Brimborium, sondern hilft dabei, einen eigenen, verantwortlichen Ort in der Welt zu finden. Quid ad me? Was geht mich das an? Das war einmal eine didaktische Leitfrage: Wie können junge Menschen von etwas angesprochen werden? Wie können sie zu einem Verstehen, Wissen und Können kommen, das ihnen hilft, selbstbestimmt und verantwortlich durchs Leben zu gehen? Von all dem weiß Kompetenz nichts.  (…)

zum Artikel:  Südtiroler Wirtschaftszeitung, Aus- und Weiterbildung, 23/15, 12.06.2015, Hartmut Volk, Kompetent, aber denkfaul?

Das Phänomen und die Praktiken des change-managements

Datum:  05.06.2015
Dollarzeichen im Auge – Über die Ökonomisierung
der Gesellschaft
Dr. Matthias Burchardt, Universität zu Köln

Wer erklärt uns die Welt, wenn Kirche, Politik, Wissenschaft und Kunst in der Krise sind? Richtig: Das Fernsehen! Es spielt uns politische Ereignisse ins Wohnzimmer, unterhält uns in vielfältigen Formaten und manchmal möchte es uns sogar bilden. (…)

Doch geht es wirklich um Bildung oder nicht eher um Umerziehung? Es sollte zumindest nachdenklich stimmen, dass die globalen Medienkonzerne und die mächtigen Mogule im Hintergrund, wie z.B. Rupert Murdoch oder die Familie Mohn mit dem Bertelsmann-Konzern, in der Verfolgung ihrer ökonomischen Ziele für eben die sozialpolitischen, gesellschaftlichen und
kulturellen Verwerfungen mitverantwortlich sind, die sie mit den messianischen Experten in ihren Kanälen zu heilen versprechen. (…)

(…) Propaganda verliert bekanntlich ihre Wirkung, sobald sie als solche durchschaut wird. Dazu muss man allerdings zuvor den Versuch der Manipulation und Beeinflussung beim Namen nennen. Norbert Blüm, den ich hier als Paten des Gedankens anführen möchte, schreibt in seinem zeitkritischen Buch ›Gerechtigkeit‹ über bedenkliche Strömungen innerhalb des ökonomischen Feldes: »Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu
werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. (…) Aus Marktwirtschaft soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr Gebiete, sondern macht sich auf, Hirn und Herz der Menschen einzunehmen. Sein
Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt die Zentralen der inneren Steuerung des Menschen.« (Norbert Blüm 2006, Gerechtigkeit. S. 81) (…)

Ob es sich um den Umbau im Bereich Bildung, Arbeitsmarkt, Kultur, Bundeswehr oder
Gesundheit handelt – immer wieder finden sich die Dramaturgie der ›kreativen Zerstörung‹ und das Narrativ vom ›Schöner Wohnen‹, und besetzt so die demagogische Semantik des Reformbegriffs. Ganz entgegen dem Wortsinn der lateinischen Wurzel re-formare – etwas in seine ursprüngliche bzw. wesentliche Form zurückbringen – fungiert die Vokabel der ›Reform‹ heute nämlich als eine universell akzeptierte Allzweckformel zum permanenten Umbau gesellschaftlicher Wirklichkeit. Politik und Medien vermitteln den Eindruck, dass unter bestehenden Sachzwängen wie dem ›internationalen Wettbewerb‹, der ›Globalisierung‹, der
›Schuldenkrise‹, dem ›demographischen Wandel‹ oder der ›Erderwärmung‹ eine stetige Veränderung alternativlos sei. (…)

Um zukunftsfähig zu sein, müsse man alles auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls in die Sperrmüllpresse der Geschichte stecken: Soziale Sicherung, solidarische Daseinsvorsorge, humboldtsches Bildungsideal, Bürgerrechte, demokratische Verfahren, Menschenrechte,
Privatsphäre usf. erscheinen in der Perspektive der Reformer bloß noch als ein dysfunktionaler Ballast. Meine Beispiele werden sich vor allem auf den Bildungsbereich beziehen, eine Übertragung auf die anderen Politikfelder ist jederzeit möglich. Nehmen wir etwa die Schulreform im Zuge der PISAStudie oder den Umbau der Hochschulen im Namen von Bologna (…)

zum Artikel:  Gesellschaft für Bildung und Wissen, Dr. Matthias Burchardt, Universität zu Köln, Dollarzeichen im Auge, SWR2 Wissen: Aula, 6.10.2013, 8.30 Uhr


Ergänzungen zu den Anmerkungen des Autors zu Change-Management:
In der im Artikel erwähnten Broschüre „Change Management, Anwendungshilfe zu Veränderungsprozessen in der öffentlichen Verwaltung“ (www.bmi.bund.de) ist zu lesen:

Unter Change Management versteht man die systematische Planung und Steuerung von Veränderungen z. B. von Organisationsstrukturen oder Prozessen.(…)

Change Management stellt den Menschen als entscheidenden Faktor für den Erfolg in den Mittelpunkt. Zur Erhöhung der Akzeptanz werden insbesondere psychologische Faktoren berücksichtigt. Durch Veränderungsmanagement kann außerdem ein Kulturwandel erreicht werden (…)

Was muss ein Change Manager tun?
….Auswirkungen des Wandels abschätzen und zu erwartende und auftretende Widerstände identifizieren und gegensteuern (…)

Die gezielte Auswahl des Zeitpunkts reduzierte die Anzahl zu überzeugender Beschäftigter und damit möglicher Widerstände (…)

Damit Veränderungsprojekte ernst genommen werden, müssen sie vom Willen zur Durchsetzung der Veränderung getragen sein. (…)

Die Energie, die Willenskraft und die Unterstützung für den Wandel müssen (auch) von der Behördenleitung bis zum erfolgreichen Abschluss vorhanden sein. (…)

Sie [die Führungskräfte] sind es, die die Beschäftigten „ins Boot holen“ müssen. (…)

Beschäftigte werden durch die Veränderung unmittelbar persönlich betroffen, positiv wie negativ. Neben positiver Neugier können auch Ängste und ggf. Widerstände ausgelöst werden. Sie müssen möglichst frühzeitig erkannt werden, um geeignete Werkzeuge einzusetzen. (…)

Bei Veränderungsvorhaben, die politisch vorgegeben werden, hat die Notwendigkeit zur Veränderung den Charakter eines Auftrages, der erfüllt werden muss. (…)

Können Widerstände schon im Vorfeld antizipiert werden, müssen geeignete Maßnahmen zur Überwindung entwickelt werden. Dies können „sanfte“ Methoden der Kommunikation und Überzeugungsarbeit sein, aber bei anhaltendem Widerstand können diese Widerstände auch mittels einer Leitungsentscheidung gelöst werden. Die Anwendung von Macht sollte aber nur als letztes Mittel verstanden werden, da dies negative Auswirkungen auf das Veränderungsklima der Behörde für den gesamten Veränderungsprozess haben kann. Es muss solch ein „Machtwort“ dann konsequent angewandt und durchgehalten werden. (…)


Ergänzungen zum Change-Management aus:  Change, Reform und Wandel,
Jens Wernicke interviewt Matthias Burchardt, Telepolis, heise online, 03.06.2015

(…) Jens Wernicke: Hätten Sie vielleicht ein konkretes Beispiel?
Matthias Burchardt: Ja, ich komme einfach auf die Schweiz, die ich kürzlich bereist habe, zurück. Aufschlussreich ist hier vor allem ein Dokument, das man als eine Art Leitfaden von offizieller Stelle entnehmen kann, wie man zögerliche oder widerspenstige Kollegien im Kanton Thurgau auf die Linie des „Lehrplan“ 21 bringen will.
Als erster Schritt der Auftau-Phase wird dabei angeraten, den Leidensdruck unter den Lehrern zu erhöhen – „Ziele so anspruchsvoll setzen, dass sie mit bisherigem Verhalten nicht erreicht werden können.“ – und „Das ‚Schön-Wetter-Gerede‘ (zu) unterbinden (Alles ist doch bestens …)“. Dann soll ein neues Führungsteam entwickelt und installiert werden, eine Koalition der Willigen, wenn man so will: „Zusammenstellen einer Koalition, die den Wandel verwirklichen kann. Die richtigen Leute auswählen, die richtigen Leute für die Zukunft (nicht der Vergangenheit).“ Und in dieser Dynamik aus Druck und Propaganda wird als Zielsetzung ausgegeben: „Lehrerinnen und Lehrer begeistern sich für den Lehrplan 21 und setzen ihn um“, wobei als Konfliktpotential ausgewiesen wird: „Die über 50-jährigen Lehrpersonen gewöhnen sich an nichts Neues.“ Als wäre die Transformation einer Schulkultur eine Sache von Gewöhnung und nicht des politischen Diskurses, der niemanden ausschließen darf.
Die skizzierten Strategien der Organisationsentwicklung durch Change Management dürften vielen Lehrern und Hochschulkollegen bekannt vorkommen. Insbesondere bei der Durchsetzung des Bologna-Prozesses sind auf diese Weise vielfältig Strukturen, Prozeduren und Personen verändert worden. (…)


Beispiel einer Präsentationsfolie zu obiger Beschreibung:
Change-Management im Zusammenhang mit der Einführung des Lehrplanes 21 im Kanton Thurgau, 2016–2020, Thementagung vom 8. Januar 2014

Beispiel Präsentationsfolie

„Von Gerechtigkeitsidealen und Aufstiegsphrasen beherrschte Schulpolitik“

Datum:  03.06.2015
Zur Lage der Bildung (1) – Abiturienten, bis es kracht!
von Jürgen Kaube

Noch nie war der Ansturm aufs Gymnasium so massiv wie heute. Die Folgen für Eltern, Schüler und Lehrer sind zermürbend – und die Politik weiß es besser.

Am Montag hatte die Bundeskanzlerin in Berlin zum Dialog eingeladen. Oberste Priorität hatten im Bürgergespräch die gewählten Themen:  Soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung.  Zwei Fragen wurden zum Zustand der Bildung gestellt.

(…) Ist es zu kritisch, wenn man das Ergebnis dieses Bürgerdialogs so zusammenfasst: Zu Bildung fällt uns nicht viel ein? Genauer: Wir finden sie irgendwie sehr wichtig, gleich nach Gesundheit, wir finden überdies, dass sie irgendwie noch viel wichtiger genommen werden müsste, aber wenn wir sagen sollen, was das denn hieße, dann sagen wir, was wir sowieso immer sagen, dass nämlich irgendwie mehr Geld hermüsste? Und dass Bildung natürlich leider Ländersache ist, dass also gerade dort über sie entschieden wird, wo das Geld fehlt.
Was in Berlin nicht zur Sprache kam, ist beispielsweise, dass das Schulsystem in Deutschland derzeit von unten aufgerollt wird. Erst, so ist die Tendenz, der inzwischen so gut wie alle Parteien folgen und jedenfalls kaum ein Bildungspolitiker scharf entgegentritt, legt man Haupt- und Realschulen zusammen, dann schafft man die Förderschulen ab und nimmt das Gymnasium ins Visier, um schließlich die integrierte Gesamtschule für eine Schulform zu halten, die alle anderen Schulformen ersetzen könne. In Niedersachsen steht es so schon im Gesetz, über analoge Absichten der nordrhein-westfälischen Schulpolitik sollte sich niemand hinwegtäuschen, von Berlin wollen wir besser schweigen, und in Schleswig-Holstein verfolgt man seit einiger Zeit ohnehin eine Lehrerausbildung, die keinen Unterschied mehr zwischen den Schulformen machen will. (…)

Das alles ist getragen von einem entschiedenen Willen, die alte Forderung „Bildung für alle“ auf dem Wege einer einheitlichen Verteilung der Abschlüsse zu verwirklichen.

Lange schon versuchen endlose Kataloge von „Kompetenzen“, die angeblich erworben und jedenfalls gefordert werden, darüber hinwegzutäuschen, was alles nicht mehr verlangt wird, von der Schreibschrift über die Rechtschreibung bis zur Kenntnis ganzer Bücher (stattdessen: Auszüge) oder älterer Vokabulare (stattdessen: Übersetzung von Droste-Hülshoff ins Tagesschau-Deutsch). Und warum wird es nicht mehr verlangt? Nicht weil es unsinnig wäre, sondern weil es Mühe macht und vermeintlich exklusive Folgen hat. Nicht alle sollen alles gleich gut können? Da sei die Schulpolitik vor. (…)

Schulpolitik erfolgt nicht, weil sich nachweisen ließe, dass sie den Unterricht verbessert, sondern insofern sie wertvoll aussieht.

Die Zahl derjenigen, die bei den Pisa-Tests das niedrigste Leistungsniveau nicht erreichte, ist deutlich höher als diejenige der Schüler ohne Abschluss. Zu Bildung fällt uns also vielleicht auch deswegen so wenig ein, weil ihr Sinn sich inzwischen oft ganz darin erschöpft, dass jemand ein Zertifikat vorweisen kann. Die Stimmen aus den Unternehmen, Verwaltungen und Hochschulen, die mitteilen, dass man dort immer weniger auf Abschlusszeugnisse gibt, bleiben unbeachtet .(…)

Womöglich ist es gerade eine von Gerechtigkeitsidealen und Aufstiegsphrasen beherrschte Schulpolitik, die den Übergang zu mehr sozialer Ungleichheit und rücksichtsloser Konkurrenz im Streben nach Abschlüssen herbeiführen wird, als sie sich albträumen lässt. Und vieles davon wird dann nur geschehen sein, weil ironischerweise ausgerechnet die Bildungspolitik meistens auf eine Weise vorgeht, die dem Begriff der Bildung widerspricht: undurchdacht.


Das Schulforum-Berlin wird über die weiteren Texte in der FAZ  „Zur Lage der Bildung“ berichten.

„Die Diskussion über Inklusion auf den harten Boden der Tatsachen zurückzuführen“

Datum:  25.05.2015
Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrerinnen und Lehrer
Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen Ergebnisse einer repräsentativen Lehrerbefragung

Presseerklärung Verband Bildung und Erziehung (VBE)
(…) Es ist ist bislang wenig darüber bekannt, wie die Lehrer an allgemeinbildenden Schulen selbst als – neben den Eltern und Schülern – direkt Betroffene zum Thema Inklusion stehen, welche Chancen und Probleme sie konkret sehen und welche Erfahrungen sie selbst bislang gemacht haben. Vor diesem Hintergrund hat forsa im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) eine bundesweite Repräsentativbefragung unter Lehrern an allgemeinbildenden Schulen durchgeführt, um in dieser Gruppe erstmals ein fundiertes Meinungsbild zum Thema Inklusion zu ermitteln. Im Rahmen der Untersuchung wurden bundesweit insgesamt 1.003 Lehrer an allgemeinbildenden Schulen in der Zeit vom 2. März bis 16. April 2015 in Deutschland befragt.

Auszüge der Repräsentativbefragung:

  • Bei der – offen und ohne jede Vorgabe gestellten – Frage nach den Argumenten, die gegen eine gemeinsame Unterrichtung sprechen, werden sowohl grundsätzliche (pädagogische) Argumente genannt als auch solche, die sich auf die Ausstattung der Schulen und die Qualifizierung des Personals beziehen. Der häufigste grundsätzliche Einwand betrifft das Argument, dass eine individuelle Förderung beider Gruppen bei einer gemeinsamen Unterrichtung nicht möglich sei. Weitere Argumente sind eine Überforderung der Kinder mit einer Behinderung bzw. die Benachteiligung der Kinder ohne eine Behinderung. Auch die Überforderung der Lehrkräfte wird als Gegenargument genannt.
  • Unter den Gründen gegen eine gemeinsame Unterrichtung, die sich auf die fehlenden Rahmenbedingungen beziehen, wird vor allem das fehlende Fachpersonal an Regelschulen und die dafür unzureichende Ausbildung der Lehrer genannt. Dann folgen die materielle und finanzielle Ausstattung der Schulen, die aus Sicht der Lehrer gegen eine gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung sprechen. Auch bei dieser Frage wird von einem Teil der Lehrer angemerkt, dass das Für und Wider einer gemeinsamen Unterrichtung auch abhängig ist von der Art bzw. der Schwere der Behinderung eines Kindes.
  • Die überwältigende Mehrheit der Lehrer (97 %) spricht sich dafür aus, auch bei Einrichtung eines inklusiven Schulsystems die bisherigen Förder- und Sonderschulen alle (55 %) oder mindestens teilweise (42 %) zu erhalten. Nur 2 Prozent halten Förder- und Sonderschulen perspektivisch für entbehrlich. Für einen (mindestens partiellen) Erhalt der Förder- und Sonderschulen sprechen sich im übrigen Lehrer an Schulen, in denen es bereits inklusive Lerngruppen gibt, genauso häufig aus wie Lehrer an Schulen ohne Erfahrung mit inklusiven Lerngruppen.
  • Nur 13 Prozent beurteilen das Fortbildungsangebot in ihrem Bundesland, um sich auf die Arbeit mit inklusiven Schulklassen vorzubereiten, als (sehr) gut. 77 Prozent der Lehrer beurteilen das Fortbildungsangebot hingegen als weniger (41 %) oder überhaupt nicht gut (36%). Auch in dieser Frage ergeben sich zwischen den einzelnen Schulformen oder dem Grad der eigenen Erfahrung mit inklusiven Lerngruppen nur graduelle Unterschiede.
  • 75 Prozent der Lehrer geben an, dass an ihrer Schule bereits Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet werden. In 9 Prozent der Fälle ist dies geplant, 14 Prozent geben an, dass dies nicht geplant sei.
  • Lehrer, an deren Schule es bereits inklusive Lerngruppen gibt, geben die Zahl der Kinder in diesen Gruppen im Durchschnitt mit 18 Kindern an. Die Zahl der Kinder in diesen Gruppen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird im Schnitt mit 4 Kindern angegeben.
  • 29 Prozent der Lehrer, die an Schulen unterrichten, in denen bereits inklusive Lerngruppen bestehen, geben an, dass die Klassengröße von inklusiven Klassen im Vergleich zu nicht inklusiven Klassen verkleinert worden sei. 65 Prozent geben dagegen an, dass die Klassengröße beibehalten wurde, 4 Prozent, dass die Klasse sogar vergrößert wurde.
  • 65 Prozent der Lehrer, die Schulen mit inklusiven Lerngruppen unterrichten, geben an, dass solche Gruppen für gewöhnlich nur von einer Person unterrichtet werden. 34 Prozent geben an, dass solche inklusiven Lerngruppen für gewöhnlich von zwei oder mehr Personen unterrichtet werden. Wo Letzteres der Fall ist, unterrichtet der Fachlehrer vor allem gemeinsam mit einem Sonderpädagogen (82 %), deutlich seltener dagegen gemeinsam mit einem anderen Fachlehrer (29 %), einem Assistenten (25 %) oder mit einem Lehrer in Ausbildung oder im Praktikum (18 %).
  • Nur wenige der Lehrer an Schulen mit inklusiven Lerngruppen geben an, dass es an ihrer Schule Maßnahmen zur Unterstützung bei der Bewältigung von möglichen physischen oder psychischen Belastungen durch die inklusive Unterrichtung gebe (7 %). 87 Prozent der Lehrer geben an, dass es keine derartigen Unterstützungsmaßnahmen gebe.

zum Artikel:  VBE Pressemitteilung und FORSA-Umfrageergebnisse zum Thema: Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrerinnen und Lehrer, 18.05.2015

weitere Artikel zu Inklusion:   Seitenleiste unter „Schule und Inklusion“

Bildung ist keine Ware – Kein TTIP-Abkommen!

Bild:  Schulforum-Berlin

Bild: Schulforum-Berlin

Datum:  18.05.2015
Hochschulrektorenkonferenz zu TTIP: Bildung ist keine Ware

Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) fordert, Bildung aus dem geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership), explizit auszunehmen. Bildungsdienstleistungen werden dort nicht als öffentliche Aufgabe („public services“) definiert.

Die Europäische Union verhandelt zurzeit mit der US-Regierung über ein Freihandelsabkommen (TTIP). Verhandlungsführer ist die EU-Kommission. Ziel der TTIP-Verhandlungen ist es, die Handels-, Investitions- und öffentlichen Beschaffungsregeln transatlantisch zu harmonisieren. Mit dem Abschluss des TTIP-Abkommens werden die Mitgliedstaaten der EU einen Teil ihrer Souveränität abgeben, denn eine staatliche Regulierung ist in Sektoren, die dem Freihandel unterliegen, nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich. Dienstleistungen der so genannten Daseinsvorsorge sind aktuell von den TTIP-Verhandlungen nicht grundsätzlich ausgenommen. So sind Bildungsdienstleistungen in der Logik von Freihandelsverträgen keine öffentliche Aufgabe („public services“). (…)

Ergänzend zur Erklärung der Europäische Universitätsvereinigung (EUA) erhebt nun die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) gegenüber der EU-Kommission, aber auch gegenüber der deutschen Bundesregierung und den Ländern die Forderung, den Bereich der Hochschulbildung ganz aus den Verhandlungen herauszunehmen, da beiderseits des Atlantiks kulturell verankerte gegensätzliche Auffassungen über die Rolle von Staat und Individuum und ihrer Verantwortlichkeit für die Bildung bestehen. Während in Deutschland und weiten Teilen Europas Bildung, Kunst und Kultur als gesellschaftliche Aufgaben anerkannt sind, deren Finanzierung in der Verantwortung der Gesellschaft liegt, wird Hochschulbildung in den USA als eine Privatinvestition des Individuums angesehen. Die Inkompatibilität dieser beiden Bildungsverständnisse ist daher Ausgangspunkt für die Forderung, den Bildungssektor aus den Regelungen des Freihandelsabkommens auszunehmen und so auf Dauer in Deutschland eine stärkere Kommerzialisierung der Bildung im Sinne einer individuell zu finanzierenden Dienstleistung zu verhindern. (…)

zum Artikel:   Entschließung der 18. Mitgliederversammlung der HRK am 12. Mai 2015 in Kaiserslautern, Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP): Die Bildung aus den Verhandlungen ausschließen