„Von Gerechtigkeitsidealen und Aufstiegsphrasen beherrschte Schulpolitik“

Datum:  03.06.2015
Zur Lage der Bildung (1) – Abiturienten, bis es kracht!
von Jürgen Kaube

Noch nie war der Ansturm aufs Gymnasium so massiv wie heute. Die Folgen für Eltern, Schüler und Lehrer sind zermürbend – und die Politik weiß es besser.

Am Montag hatte die Bundeskanzlerin in Berlin zum Dialog eingeladen. Oberste Priorität hatten im Bürgergespräch die gewählten Themen:  Soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung.  Zwei Fragen wurden zum Zustand der Bildung gestellt.

(…) Ist es zu kritisch, wenn man das Ergebnis dieses Bürgerdialogs so zusammenfasst: Zu Bildung fällt uns nicht viel ein? Genauer: Wir finden sie irgendwie sehr wichtig, gleich nach Gesundheit, wir finden überdies, dass sie irgendwie noch viel wichtiger genommen werden müsste, aber wenn wir sagen sollen, was das denn hieße, dann sagen wir, was wir sowieso immer sagen, dass nämlich irgendwie mehr Geld hermüsste? Und dass Bildung natürlich leider Ländersache ist, dass also gerade dort über sie entschieden wird, wo das Geld fehlt.
Was in Berlin nicht zur Sprache kam, ist beispielsweise, dass das Schulsystem in Deutschland derzeit von unten aufgerollt wird. Erst, so ist die Tendenz, der inzwischen so gut wie alle Parteien folgen und jedenfalls kaum ein Bildungspolitiker scharf entgegentritt, legt man Haupt- und Realschulen zusammen, dann schafft man die Förderschulen ab und nimmt das Gymnasium ins Visier, um schließlich die integrierte Gesamtschule für eine Schulform zu halten, die alle anderen Schulformen ersetzen könne. In Niedersachsen steht es so schon im Gesetz, über analoge Absichten der nordrhein-westfälischen Schulpolitik sollte sich niemand hinwegtäuschen, von Berlin wollen wir besser schweigen, und in Schleswig-Holstein verfolgt man seit einiger Zeit ohnehin eine Lehrerausbildung, die keinen Unterschied mehr zwischen den Schulformen machen will. (…)

Das alles ist getragen von einem entschiedenen Willen, die alte Forderung „Bildung für alle“ auf dem Wege einer einheitlichen Verteilung der Abschlüsse zu verwirklichen.

Lange schon versuchen endlose Kataloge von „Kompetenzen“, die angeblich erworben und jedenfalls gefordert werden, darüber hinwegzutäuschen, was alles nicht mehr verlangt wird, von der Schreibschrift über die Rechtschreibung bis zur Kenntnis ganzer Bücher (stattdessen: Auszüge) oder älterer Vokabulare (stattdessen: Übersetzung von Droste-Hülshoff ins Tagesschau-Deutsch). Und warum wird es nicht mehr verlangt? Nicht weil es unsinnig wäre, sondern weil es Mühe macht und vermeintlich exklusive Folgen hat. Nicht alle sollen alles gleich gut können? Da sei die Schulpolitik vor. (…)

Schulpolitik erfolgt nicht, weil sich nachweisen ließe, dass sie den Unterricht verbessert, sondern insofern sie wertvoll aussieht.

Die Zahl derjenigen, die bei den Pisa-Tests das niedrigste Leistungsniveau nicht erreichte, ist deutlich höher als diejenige der Schüler ohne Abschluss. Zu Bildung fällt uns also vielleicht auch deswegen so wenig ein, weil ihr Sinn sich inzwischen oft ganz darin erschöpft, dass jemand ein Zertifikat vorweisen kann. Die Stimmen aus den Unternehmen, Verwaltungen und Hochschulen, die mitteilen, dass man dort immer weniger auf Abschlusszeugnisse gibt, bleiben unbeachtet .(…)

Womöglich ist es gerade eine von Gerechtigkeitsidealen und Aufstiegsphrasen beherrschte Schulpolitik, die den Übergang zu mehr sozialer Ungleichheit und rücksichtsloser Konkurrenz im Streben nach Abschlüssen herbeiführen wird, als sie sich albträumen lässt. Und vieles davon wird dann nur geschehen sein, weil ironischerweise ausgerechnet die Bildungspolitik meistens auf eine Weise vorgeht, die dem Begriff der Bildung widerspricht: undurchdacht.


Das Schulforum-Berlin wird über die weiteren Texte in der FAZ  „Zur Lage der Bildung“ berichten.