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Handys im Unterricht – ein klares NEIN!

Eine OECD-Studie von 2024 kommt in dieser Frage zu einem klaren Ergebnis: Smartphones senken nicht nur die Lernleistung der Schülerinnen und Schüler, sondern stören auch das Sozialklima. Ein Verbot von Smartphones in Schulen wird empfohlen. In einigen Ländern, wie etwa Frankreich, Italien, Großbritannien und Brasilien, wurde dies bereits umgesetzt. Deutschland gehört nicht dazu. Die Entscheidung wird den einzelnen Schulen überlassen. Dabei weisen die Studien klar in eine Richtung: Je näher das Smartphone, desto geringer die Aufmerksamkeit und desto geringer ist die Lernleistung.

Die deutschen Schülerinnen und Schüler schneiden in internationalen Bildungsvergleichen derzeit eher mäßig ab. Das Ergebnis der letzten OECD Pisa-Studie: Besonders bei der Leseleistung waren deutsche Schüler schlechter als noch in den Jahren zuvor. Bildungsforscher Olaf Köller wird im NANO-Beitrag konkret: „Wir haben heute die Situation, dass drei von zehn Schülerinnen und Schülern, die 15 Jahre sind, eigentlich nicht lesen, schreiben und rechnen können, das heißt 30 Prozent. Das sind in absoluten Zahlen 250.000.“[3] Das bedeutet: Jährlich entlässt die Schule 250.000 Jugendliche mit „geringer Literalität“ („Funktionale Analphabeten“)[4]!

In der OECD-Studie heißt es explizit:

„Eine Maßnahme, die nachweislich Wirkung zeigt, ist ein Verbot von Smartphones in der Schule. PISA-Daten deuten darauf hin, dass solche Verbote wirksam sein können, wenn auch viel von der Durchsetzung abhängt.“[5]

Überraschend waren allerdings manche Presseberichte zu den Ergebnissen dieser Studie. Norbert Häring berichtete auf apolut.net am 11.6.2024: „Medien verdrehen Warnung der OECD zu Smartphones“[6].

Der SPIEGEL, so Häring, schaffte auf Basis der Meldung der Deutschen Presse-Agentur dpa das Kunststück, den Tenor der Studie in der Überschrift komplett umzudrehen. Das Magazin titelte: „OECD empfiehlt gezielten Einsatz von Handys im Unterricht“[7] und textete im Vorspann: „Schülerinnen und Schüler, die ständig aufs Handy starren, kommen nicht zum Lernen. Aber wenn Mobiltelefone gezielt im Unterricht eingesetzt werden, kann das sogar den Lernerfolg steigern. Das zeigt eine OECD-Studie.“

Anzumerken ist, dass die OECD nicht von „Mobiltelefonen“, sondern von „digitalen Geräten“ spricht, die nützlich für den Unterricht sein können. Die von dpa inspirierten Medienberichte machen daraus, dass die Nutzung von Smartphones im Unterricht den Lernerfolg steigere. Dabei macht die OECD-Studie auf Seite 6 unter der Überschrift „Der Kampf gegen die Ablenkung“[8] ganz ausdrücklich klar, dass (private) Smartphones am wenigsten als Unterrichtsinstrumente geeignet sind, weil die Schüler mit diesen multifunktionalen Geräten sehr viel anderes tun als lernen und dadurch vom Unterricht abgelenkt werden.

Andreas Schleicher, Leiter der Abteilung Bildung der OECD dazu in NANO: „Was wir sehen ist, dass die Bildungssysteme, die ein Handyverbot haben, weniger Schwierigkeiten haben. Da gibt es weniger Ablenkung, da gibt’s auch weniger soziale und emotionale Defizite. Das kann man schon klar sagen.“[9]

NANO berichtet weiter: Das Ablenkungspotential von Handys im Unterricht ist in der Wissenschaft unstrittig. 36,9 Stunden verbringen Jugendliche in Deutschland jede Woche am Smartphone. Umgerechnet fünf Sunden lang hängen die Befragten also täglich am Handy. Die Hälfte erhält mindesten 237 Benachrichtigungen pro Tag, 60 davon gehen während der Schulzeit ein.

Klaus Zierer und Tobias Böttcher von der Universität Augsburg haben die Erfahrungen vieler Lehrkräfte mit Smartphoneverboten gesammelt. Sie kommen im Beitrag von NANO zum selben Urteil wie die OECD-Studie.

Tobias Böttcher: „Die Veränderungen, die zu beobachten waren, die betreffen in erster Linie das soziale Klima, also den Umgang der Schülerinnen und Schüler untereinander. Wir gehen davon aus, dass das Sozialklima die Voraussetzung ist für die Lernleistung, die die Schülerinnen und Schüler letztendlich erbringen können.“[10]

Die Augsburger Erziehungswissenschaftler untersuchten die Auswirkungen solcher Smartphoneverbote anhand von fünf internationalen Studien aus Norwegen, Spanien, Tschechien, England und Schweden.

Klaus Zierer: „Die zentrale Beobachtung infolge eines Smartphoneverbotes war, dass sich die Pausen komplett verändert haben. Die Interaktion zwischen den Schülerinnen und Schülern waren ja andere, sie haben miteinander gespielt, sie haben miteinander gesprochen und gleichzeitig konnte festgestellt werden, dass das Phänomen Cybermobbing, das in den letzten Jahren immer mehr zunimmt, in den Schulen zurückgedrängt worden ist und damit die Schule wieder mehr zu einem Lebensraum für Kinder und Jugendliche geworden ist.“[11]

NANO berichtet weiter: Erstaunlicherweise beurteilte ein Großteil der Schülerinnen und Schüler ein Smartphoneverbot im Nachhinein als positiv. Den Ergebnissen der Augsburger Pädagogen zufolge ist aber ein alleiniges Verbot nicht ausreichend. Allein schon, weil Smartphones fester Bestandteil der Alltagskultur sind. Ein solches Verbot muss pädagogisch begleitet werden, um einen verantwortungsvollen Umgang mit der Technik zu fördern. Aber die Smartphones müssen raus aus der Schule!

Klaus Zierer: „Die Studien die wir auswerten weisen uns diesen Weg und sie sagen ganz klar, die Smartphones müssen weggesperrt werden, […] sie dürfen nicht im Klassenzimmer sein. Da wir auch wissen, je näher das eigene Smartphone ist, desto geringer ist die Aufmerksamkeitsfähigkeit und desto geringer ist die Lernleistung.“[12]

Lindbergs Team hat die Studie mit 42 Probanden im Alter zwischen 20 und 34 Jahren durchgeführt. Allein die Verfügbarkeit des Gerätes senkte die Aufmerksamkeit um 15 Prozent. Für Aufmerksamkeit stehen nur begrenzte kognitive Ressourcen zur Verfügung. Das Smartphone als Psychofalle. Bereits die Anwesenheit des Gerätes produziert die Erwartung von Reizen und aktiviert dabei Elemente des körpereigenen Belohnungssystems.

Sven Lindberg: „Das passiert mittlerweile so vollautomatisch, dass das Handy gar nicht mehr angeschaltet sein muss und diese Reize kommen – sondern ich mache mir Gedanken, welche Reize ich gerade verpasse.“[15]

Alle bisher durchgeführten Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen, die eigentlich zu einem strikten Handyverbot in Schulen führen müssten. In Deutschland bleibt es nach wie vor den einzelnen Schulen überlassen.

Andreas Schleicher in NANO: „Wenn man das den Schulleitungen überlässt, da sehen wir kaum Effekte. Die Schüler finden immer Wege das zu umgehen. Wenn man das den Lehrkräften überlässt, auch das haben wir untersucht, auch das ist im Grunde weitgehend wirkungslos.“[16]

Man tut sich hierzulande schwer, Konsequenzen zu ziehen.

In der OECD-Studie „Students, digital devices and success“ heißt es dazu auf Seite 8:

„Viele Bildungseinrichtungen haben Regeln eingeführt, um das Problem der Ablenkung anzugehen, aber ihre Wirksamkeit ist minimal. Wenn die schriftlichen Erklärungen oder Regeln einer Schule zu allgemein gehalten, ungenau oder nachsichtig sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie ein effektives Lehren und Lernen mit digitalen Geräten unterstützen. Lehrer müssen auch in der Lage sein, die Regeln durchzusetzen, werden aber wahrscheinlich oft Schwierigkeiten haben, die Schüler effektiv zu überwachen, selbst wenn sie digitale Geräte in den Unterricht integrieren. Eine Maßnahme, die nachweislich Wirkung zeigt, ist ein Verbot von Smartphones in der Schule. PISA-Daten deuten darauf hin, dass solche Verbote wirksam sein können, wenn auch viel von der Durchsetzung abhängt. […] Die Daten deuten darauf hin, dass selbst in Schulen mit Verboten die Schüler Schwierigkeiten haben können, ein verantwortungsvolles Verhalten in Bezug auf die Smartphonenutzung an den Tag zu legen.“[17]  

Klaus Zierer fasst die bisherigen Erkenntnisse in „campus schulmanagement“ am 3.1.2025 zusammen: „Ein Smartphone-Verbot braucht die volle Unterstützung und Überzeugung des gesamten Kollegiums, um wirklich zu greifen. Halbherzige Maßnahmen, die nicht konsequent umgesetzt werden, kann man sich sparen. Nur mit klaren Regeln und einer geschlossenen Haltung funktioniert ein Verbot, das bestätigen auch die Studien.“[18]

Da stellt sich die Frage: Warum fehlt für ein generelles Smartphoneverbot in der Schule bisher der politische Wille?

Ein nachahmenswertes Beispiel:

Die brasilianische Zeitung „pagina12“ berichtete, dass in Brasilien die Verwendung von Smartphones an Schulen durch ein Gesetz generell verboten wurde[19]. Das Verbot betrifft öffentliche wie private Schulen auf Primarschul- und Sekundarschulebene und gilt für den Unterricht wie auch während der Pausen.

Interessant dabei ist: Es gilt auch ein Verbot für die Minister des brasilianischen Präsidenten Lula, mit ihren Smartphones an Sitzungen teilzunehmen, weil sie dadurch abgelenkt seien, so wie es in der Schule auch der Fall sei.

Abspann bei NANO: In der ganzen Geschichte der Menschheit gab es keine Entwicklung die unser Leben so rasant komplett umgekrempelt hätte wie die des Smartphones. Diese Ablenkungsmaschine ist ein Angriff auf unsere wichtigste menschliche Fähigkeit, nämlich sich auf eine Sache fokussieren zu können. Mit dieser Herausforderung können wir die Kinder nicht alleine lassen, das ist Sache der Eltern, aber auch eine staatliche Aufgabe.

Anmerkungen und Quellen durch Schulforum-Berlin:


[1] https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[2] Students, digital devices and success. OECD 2024. https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html

[3] https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[4] Menschen, die nicht ausreichende Fähigkeiten im Lesen und Schreiben haben „sind aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben.“ Dieses Problem wurde im TV-Beitrag nicht weiter thematisiert. https://www.fachstelle-grundbildung.de/funktionaler-analphabetismus.html

[5] Students, digital devices and success. OECD 2024. (S. 8): „One action that has demonstrable impact is a ban on smartphones at school. PISA data suggest that such bans can be effective, although with a lot depending on enforcement.“ https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html 

[6] apolut.net, Medien verdrehen Warnung der OECD zu Smartphones, Norbert Häring, 11.6.2024, https://apolut.net/medien-verdrehen-warnung-der-oecd-zu-smartphones-von-norbert-haering/

[7] Überschrift des SPIEGEL-Berichts: OECD empfiehlt gezielten Einsatz von Handys im Unterricht. https://www.spiegel.de/panorama/bildung/bildung-oecd-studie-empfiehlt-gezielten-einsatz-von-handys-im-unterricht-a-5e0d1bd5-99ae-4783-92a9-0ecb08d15c1a [30.01.2025]

[8] Students, digital devices and success. OECD 2024. (S. 6). https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html

[9] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[10] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[11] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[12] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[13] Handy aus, Gehirn an. Paderborner Wissenschaftler*innen veröffentlichen Studie zur Auswirkung von Smartphones auf die Aufmerksamkeit in Nature-Journal. https://www.gew-ansbach.de/data/2023/07/Uni-Paderborn_Handy_aus_Gehirn_an_2023-07-01.pdf [30.01.2025]

[14] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[15] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[16] 3sat – NANO vom 28. Januar 2025. https://www.3sat.de/wissen/nano/250128-sendung-smartphoneverbot-im-unterricht-pro-und-contra-nano-100.html [30.01.2025]

[17] Students, digital devices and success. OECD 2024. (S. 8). https://www.oecd.org/en/publications/students-digital-devices-and-success_9e4c0624-en.html 

[18] Klaus Zierer am 3.1.2025 in „campus schulmanagement. https://www.campus-schulmanagement.de/magazin/smartphone-verbote-an-schulen-was-bringen-sie-wirklich-klaus-zierer [30.01.2025]

[19] Siehe dazu: https://www.pagina12.com.ar/796695-lula-promulgo-la-ley-que-prohibe-el-uso-de-celulares-en-las- [30.01.2025]

Generation Angst

Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen.

Jonathan Haidt, 2024, Rowohlt Verlag

Aber selbst wenn Schüler ihre Mobiltelefone einmal nicht checken, beeinträchtigt allein schon deren Präsenz  ihr Denkvermögen. (S. 164f)

Die visuell orientierten Plattformen gründen allesamt auf dem von Facebook entwickelten Geschäftsmodell: Maximierung der auf der Plattform verbrachten Zeit, um die Extraktion von Daten und den Wert der Nutzer für die Inserenten zu maximieren. (S. 191)

Warum behandelt jemand seine Kunden so? Weil die Nutzerinnen und Nutzer für die meisten Social-Media-Unternehmen gar nicht wirklich die Kunden sind. Wenn Plattformen freien Zugang zu Informationen oder Dienstleistungen anbieten, dann meist deshalb, weil die Nutzer das Produkt sind. Ihre Aufmerksamkeit ist eine kostbare Substanz, die extrahiert und an die zahlende Kundschaft verkauft wird – die Werbekunden. Die Unternehmen konkurrieren untereinander um die Aufmerksamkeit und tun – wie Spielkasinos – alles, um ihre Nutzer an sie zu binden, selbst wenn sie ihnen dabei schaden. (S. 282f)

Das auf Werbung basierende Geschäftsmodell macht die Nutzer zum Produkt, das an den Haken genommen und eingeholt werden soll.

Jüngere Nutzerinnen und Nutzer sind besonders wertvoll, weil man Gewohnheiten, die man sich schon früh zulegt, oft lebenslang beibehält; die Unternehmen brauchen sie also, um die Nutzung ihrer Angebote auch in Zukunft sicherzustellen. (S. 285f)

Smartphonefreie Schulen

Als Shane Voss die Leitung der Mountain Middle School in Durango, Colorado, übernahm, litten die Schüler und Schülerinnen „unter heftigem Cybermobbing, Schlafmangel und ständigen sozialen Vergleichen“. Voss ordnete in der Schule ein Smartphoneverbot an. 76 Prozent der öffentlichen Schulen in den Vereinigten Staaten, gaben bei einer Umfrage im Jahr 2020 an, dass sie den Gebrauch von Smartphones während des Unterrichts untersagen.
Die Belege dafür, dass Smartphones in der Nähe der Schüler (Schultasche, Hosentasche…) das Lernen beeinträchtigen, sind heute so eindeutig, dass die UNESCO, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, im August 2023 einen Bericht herausgab, der sich mit den negativen Auswirkungen von digitalen Technologien, insbesondere Smartphones, auf die Bildung in aller Welt beschäftigt. Siehe dazu: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/unesco-bericht-zu-it-in-schulen-fordert-mehr-bildungsgerechtigkeit.html

Der Bericht weist darauf hin, dass es erstaunlich wenige Belege dafür gibt, dass digitale Techniken das Lernen in einem typischen Klassenzimmer verbessern. Angemerkt wird zudem, dass der Gebrauch von Smartphones mit einem verminderten Lernerfolg und vermehrten Störungen in der Klasse einhergeht. (S. 308ff)

Die Smartphones der Schüler stecken voller Apps, die dafür konzipiert sind, die Aufmerksamkeit junger Menschen zu erregen und diese mit Benachrichtigung-Pings aus dem Klassenzimmer in die virtuelle Welt zu locken. Das ist der größte Störfaktor für Lernen und Beziehungen. (S. 311)

[D]as was sie [z.B. Eltern] tun, hat viel mehr Wirkung als das, was sie sagen; achten sie also auf ihren eigenen Umgang mit dem Smartphone. Seien sie ein Vorbild, das seine Aufmerksamkeit nicht ständig zwischen dem Smartphone und dem Kind aufteilt. (S. 333)

Kinder gedeihen, wenn sie in Gemeinschaften der wirklichen Welt verwurzelt sind, nicht in körperlosen virtuellen Netzwerken. Das Aufwachsen in der virtuellen Welt fördert Angst, Anomie und Einsamkeit. Die große Neuverdrahtung der Kindheit von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit war ein katastrophaler Fehler.

Es ist Zeit, das Experiment zu beenden. (S. 361)

Textauswahl aus „Generation Angst“ durch Schulforum- Berlin

Weitere Artikel von Johnathan Haidt: https://jonathanhaidt.com/articles/

Siehe auch: FAZ, 18.09.2024, „Depressionen sind Teil der Kindheit geworden“. Zach Rausch hat sich ausführlich damit befasst, wie soziale Medien und Smartphones auf Kinder und Jugendliche wirken. Seine Befunde sind alarmierend.

Die Wirren der „Bildungs“-Stiftungen

Im Berliner „Tagesspiegel“ vom 17.07.2024[1] kommt der Geschäftsführer der „Wübben Stiftung Bildung“, Markus Warnke, in einem Interview zu maroden Schulen, fehlenden Plätzen, Schülern, die Mindeststandards nicht erfüllen, zu Wort. Im Interview bringt er das Gespräch auf die Einführung einer „Schüler-Identifikationsnummer“ sowie auf eine „datengestützte Unterrichtsentwicklung.“

Bei der Frage: Gibt es Bundesländer, in denen durch gute Bildungspolitik Erfolge erzielt werden? antwortet er: […] „In Hamburg wird [im Gegensatz zu Berlin] alles aus einer Hand gesteuert. Da ist die Schulbehörde nicht nur für die Lehrkräfte und den Unterricht verantwortlich, sondern auch für die Ausstattung, etwa mit digitalen Geräten.“

Damit ist er bei seinem eigentlichen Thema, was er voranbringen möchte, „Die Digitalisierung der Schule“. Um den Leser und zahlenden Bürger in seinen Ausführungen zu gewinnen, fährt er fort: „Das alles kostet nicht unbedingt viel Geld, die Ressourcen sind sowieso vorhanden, sie müssen nur effizienter genutzt werden“ – und zwar nach den Vorstellungen der „Stiftungen“. Die von Warnke als Geschäftsführer vertretene „Wübben Stiftung Bildung“ ist Mitglied im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“, zusammen mit weiteren Stiftungen wie der „Bertelsmann Stiftung“, „Deutsche Telekom Stiftung“, „Vodafone Stiftung Deutschland“ u.a. Deutlich wird: Hinter diesen Stiftungen stehen mächtige Unternehmen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Warnke in dem TSP-Interview vorschlägt, dass er von Kanada die „datengestützte Unterrichtsentwicklung“ sofort übernehmen würde, um anzuschließen: „Es kann doch nicht sein, dass der Schutz von Daten wichtiger ist als das gelingende Aufwachsen unserer Kinder.“ Wie zynisch!

Das „gelingende Aufwachsen“ mit einer Unzahl an gesammelten individuellen Schülerdaten sieht nicht nur der dänische Bildungsminister Mattias Tesfaye kontrovers. Für ihn hat die viele Zeit der Kinder und Jugendlichen am Bildschirm zur „Zerstörung der Bildung“ beigetragen. „Wir waren viel zu naiv und erstaunt darüber, was die größten Technologieunternehmen zu bieten haben“.[2]

Deutlich wird: Die hinter den Stiftungen stehenden Unternehmen wollen nicht nur den Verkauf der IT-Hard- und Software, sie wollen auch an die gespeicherten Schülerdaten – Big Brother is watching you!

Wiederholend und in aggressiver Form vertreten dies Mitglieder im Stiftungsverbund „Forum Bildung Digitalisierung“[3]. So forderte bereits Jörg Dräger, bis Ende 2021 Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, eine „Pädagogische Revolution“, um die digitalen Medien der im Hintergrund der Stiftungen agierenden IT-Industrie in den Schulen unterzubringen – „Digitale“ Bildung ist ihr Geschäft, nicht Schüler-Lernhilfe!

Sørine Vesth Rasmussen von der Kinderschutzorganisation Børns Vilkår: Sie bekomme immer wieder mit, dass andere Länder sich am dänischen Modell der Digitalisierung in Schulen orientierten. „Tut das bloß nicht. Es ist eine Falle“, sagt sie. Es sei unglaublich schwer, einen Rückzieher zu machen, wenn man einmal Computer und Programme gekauft, Lehrer in deren Verwendung unterrichtet und ganze Schulsysteme in den Dienst kommerzieller Unternehmen gestellt habe.

Worum geht es? Dazu die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen: Es gehe darum, „für unsere Kinder einzustehen, bevor es zu spät ist.“

Manfred Fischer für Schulforum-Berlin


[1] Tagesspiegel, 17.07.2024, Susanne Vieth-Entus u. Saara von Alten: „Es kann doch nicht sein, dass Datenschutz wichtiger ist als unsere Kinder“.

[2] FAZ, 16.07.2024, Julian Staib: Die Kinder Retten, bevor es zu spät ist. Kaum ein Land ist so digital wie Dänemark. Doch nun ruft die Regierung zum Kampf gegen soziale Netzwerke auf und will an den Schulen zurück zu Büchern, Papier und Stift. Immer mehr Länder in Europa und Übersee ziehen die Notbremse bei der Anwendung digitaler Technik in Schulen.

[3] Zu den Aktivitäten der „Bildungs“-Stiftungen siehe auch: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildungsgipfel-zwischen-wunsch-und-wirklichkeit.html

Die Bedeutung des Lehrers

Die Physikerin und Nobelpreisträgerin Anne l´Huillier berichtet in einem Interview im Tagesspiegel vom 26.3.2024 zum Thema: „Eine Frauenquote erzeugt nicht automatisch Gerechtigkeit“ über Vorurteile, Vorbilder und die ungewollten Konsequenzen positiver Diskriminierung. Zum Thema „Vorbilder“ zwei Fragen und die Antworten aus dem Interview:

Wer hat Ihnen Physik beigebracht?

Ich hatte in verschiedenen Phasen meines Lebens gute Lehrer, die eine große Rolle gespielt haben. Im letzten Jahr des Gymnasiums hatte ich eine sehr gute Lehrerin in Mathematik. Und dann hatte ich gegen Ende meines Studiums gute Dozenten in Atomphysik, wegen derer ich überhaupt erst in mein Forschungsgebiet gegangen bin. Das waren Claude Cohen-Tannoudji und Serge Haroche, beide haben später Nobelpreise bekommen. Sie waren hervorragende Lehrer, die das Fach wirklich interessant machten und mich inspirierten, mehr erfahren zu wollen.

Es gab in Deutschland nach der letzten Pisa-Studie eine große Diskussion darüber, warum es vielen Lehrern nicht gelingt, Schüler mitzureißen und zu begeistern. Was hat die Menschen, die Sie geprägt haben, zu guten Lehrern gemacht?

Ihr Enthusiasmus. Als ich hier in Lund zur Professorin ernannt wurde, habe ich in meiner Antrittsrede gesagt:

Man lehrt nicht was man weiß, sondern was man ist. Der Grundgedanke ist, dass nichts den Lehrer als Person ersetzen kann. Man kann nicht auf dieselbe Weise unterrichten, indem man auf einen Computer schaut, sondern man muss mit einer Person sprechen. Und diese Person lehrt viel mehr als nur das Fach, sondern auch ihre Persönlichkeit, die die Schüler beeinflusst.

Aus: https://www.tagesspiegel.de/wissen/physik-nobelpreistragerin-anne-lhuillier-eine-frauenquote-erzeugt-nicht-automatisch-gerechtigkeit-11217106.html

Beschimpfen, Beleidigen, Bloßstellen – Jedes sechste Schulkind erlebt Cybermobbing

Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022[1]


Hintergrund: Mobbing ist eine spezifische Gewaltform, die sich dadurch auszeichnet, dass sie wiederholt und mit der Absicht zu schädigen ausgeübt wird. Zwischen den beteiligten Schülerinnen und Schülern besteht ein Machtungleichgewicht, welches es den Gemobbten schwer macht, sich allein und ohne Hilfe Dritter gegen das Mobbing zur Wehr zu setzen. Das Machtungleichgewicht zwischen Lernenden kann beispielsweise durch unterschiedliche körperliche Größe und Stärke, aber auch durch Aspekte wie die soziale Eingebundenheit entstehen. Mobbinghandlungen können beispielsweise Beleidigungen, Schläge, Tritte, das Verbreiten von Gerüchten oder soziale Ausgrenzung umfassen. Tritt das Mobbing medial vermittelt auf (z.B. über soziale Netzwerke oder Chatgruppen), wird es Cybermobbing genannt. (S. 46f)

Zent­rale Besonderheiten des Cybermobbings im Vergleich zum schulischen Mobbing außerhalb des digitalen Raumes lie­gen darin, dass die gemobbten Lernenden beim Cybermob­bing oft nicht wissen, wer das Mobbing ausübt. Diese Ano­nymität kann das Machtungleichgewicht, welches zwischen Mobbenden und Gemobbten besteht, noch weiter erhöhen. (S. 47)

Die tägliche Nutzung digitaler Medien und dabei insbesondere die häufige sozi­ale Interaktion im digitalen Raum kann das Risiko für Mob­bing (sowohl traditionell als auch medial vermittelt) erhö­hen. (S. 48)

Die Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) ist als Querschnittstudie angelegt, die alle vier Jah­re im Schulsetting stattfindet und Schülerinnen und Schü­ler im Alter von ca. 11, 13 und 15 Jahren (mittlere Abwei­chung von 0,5 Jahren) befragt. In Deutschland sind diese Altersgruppen überwiegend in den Jahrgangsstufen 5, 7 und 9 vertreten. In der HBSC-Studie wurden in Deutsch­land bisher in den Schuljahren 2009/10, 2013/14, 2017/18 sowie im Kalenderjahr 2022 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in allen 16 Bundesländern befragt. (S. 49)

Aus der Erhebungswelle 2022 liegen Daten von N = 6.475 Lernenden an 174 Schulen vor (50,3 % Mädchen, 47,5 % Jungen, 1,7 % Heranwachsende, die sich als gender-divers identifizieren. (S. 49) In Bezug auf die Ausübung von Mobbing berichteten Lernende an Sekundarschulen häufiger als Lernende an Gymnasien und Hauptschulen davon, andere in der Schule gemobbt zu haben. Lernende an Gymnasien gaben seltener als Lernende an Gesamt- und Sekundarschulen an, andere online gemobbt zu haben. (S. 54)

Verbreitung von schulischem Mobbing und Cybermobbing im Jahr 2022

Knapp 14 % der befragten Heranwachsenden gaben an, 2022 in der Schule gemobbt worden zu sein und/oder andere gemobbt zu haben. Damit machte 2022 ungefähr jede bzw. jeder siebte Lernende direkte Mobbingerfahrungen. Bedenkt man, dass Mobbing nicht nur diese direkt betroffenen Ler­nenden, sondern auch alle, die Mobbing in ihrer Klasse beobachten und erleben, negativ beeinflussen kann, unterstreicht dieser Befund, dass Mobbing nach wie vor für viele Kinder und Jugendliche ein alltägliches Problem ist. (S. 58)

Die Betrachtung der Mobbingverbreitung nach Schul­formen zeigt, dass Mobbing an allen Schulformen stattfin­det. Lernende an Gymnasien berichteten 2022 tendenziell weniger Mobbing als Lernende an anderen Schulformen. Lernende an Hauptschulen berichteten besonders häufig davon, online gemobbt worden zu sein. Die Erfahrung, selbst gemobbt zu werden, wurde aber an allen Schulfor­men angegeben. Dies steht in Einklang mit früheren Unter­suchungen und illustriert, dass Maßnahmen zur Mobbingprävention und -intervention an allen Schulformen bedeutsam sind. (S. 59)

Aufgrund der COVID-19-Pandemie hat die Frage nach der Entwicklung der Mobbingverbreitung von 2017/18 bis 2022 besondere Relevanz. Die vorliegenden Befunde legen aber nahe, dass die Pandemie zu keinen bedeutsamen Ver­änderungen in der Verbreitung des schulischen Mobbings geführt hat. […] Die Verbreitung des Cybermobbings hat jedoch zuge­nommen. Der Anstieg betrifft dabei vor allem 13-jährige Lernende und Jungen. Die Zeit, die Kinder und Jugendliche mit Online-Medien verbringen, hat 2022 weiter zugenom­men. […] Da das schulische Mobbing nicht abgenommen, aber das Cybermobbing zugenommen hat, ist die Mobbingpro­blematik insgesamt im Vergleich zu 2017/18 im Jahr 2022 größer. (S. 60)

Schlussfolgerungen:

Die vorliegende Studie zeigt, dass Mobbing für viele Kinder und Jugendliche eine alltägliche Erfahrung ist. Insgesamt sind die Fortsetzung und weitere Implemen­tierung von Anti-Mobbing-Maßnahmen an Schulen unumgänglich, um Mobbing und der damit verbundenen Gewalt [2] erfolgreich entgegenwirken zu können. Entsprechende Maßnahmen sollten neben den Lernenden selbst auch die Lehrkräfte und das ganze System Schule adressieren. Dabei sollten den Lehrkräften verschiedene erfolgreiche Anti-Mobbing-Strategien vermittelt werden, die sie situationsspezifisch auswählen können und sie soll­ten darin bestärkt werden, auf ihr eigenes pädagogisches Handeln auch bei Mobbingvorfällen zu vertrauen. […] Schülerinnen und Schüler soll­ten innerhalb ihrer Klassen ermutigt werden, den gemobb­ten Lernenden beizustehen und den mobbenden Lernenden damit motivierende positive Rückmeldungen zu entziehen. […] [G]eschulte und verfügbare Schulsozialarbei­terinnen und Schulsozialarbeiter können dazu beitragen, schulweite Anti-Mobbing-Maßnahmen durchzuführen und somit Lehrkräfte entlasten und Ansprechpersonen für Schü­lerinnen und Schüler darstellen. […] Zudem müssen Heranwachsende Ansprechpersonen haben, an die sie sich vertrauensvoll wenden können, wenn sie negative Erfahrungen online machen oder in der Schule oder online gemobbt werden oder Mobbing beobachten. (S. 62)


[1] Aus:  Fischer SM, Bilz L (2024) Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022. J Health Monit 9(1): S. 46–67. DOI 10.25646/11871  https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JHealthMonit_2024_01_HBSC.pdf?__blob=publicationFile, S. 46-67

[2] Aus: TSP, 25.3.2024, „Ein falscher Blick führt sofort zum Knall“: Berliner Schulleiter berichten über die Gewalt an ihren Schulen (tagesspiegel.de)

In Berlin verzeichnet die Kriminalstatistik bei Gewaltdelikten an Schulen für das Jahr 2023 einen Anstieg um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Drei Schulleiter und eine Schulleiterin berichten über Gewaltdelikte an ihrer Schule:

„Bei jeglicher Gewalt in der Schule gilt die Prämisse: Alles muss zur Strafanzeige gebracht werden, auch Kleinstvorfälle. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass ihr Tun unmittelbare Konsequenzen hat. Das Verfahren ist dreischrittig. Es besteht aus klaren Regeln, klarer Kommunikation, sofortigen Strafen. Damit soll schon der Versuch von Grenzüberschreitungen im Keim erstickt werden. […] Was kann die Politik tun? Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört die Frühförderung: Je besser vorbereitet die Kinder eingeschult werden, desto geringer ihr Frust und die Gefahr, dass sie diesen in Gewalt umsetzen.“

„Die Zündschnur von einer kurzen verbalen Auseinandersetzung bis zur handfesten Schlägerei ist kürzer geworden. Offenbar kennen die Kinder in dem Augenblick keine andere Möglichkeit, zu reagieren.“

„Wir erstatten auch Meldungen im Rahmen des Kinderschutzes, wenn wir den Eindruck bekommen, dass in der Familie Videospiele oder TV-Formate konsumiert werden, die die Kinder noch gar nicht sehen dürfen. Mit dieser Herangehensweise haben wir wirklich ganz gute Erfahrungen gemacht.  Für uns ist auch wichtig herauszufinden, welche Rolle Gewalt in der Familie spielt. Mitunter wollen sie den Blick in die Familie gar nicht zulassen. Viele sind aber unwahrscheinlich dankbar, wenn das Problem erst mal auf dem Tisch ist und ihnen Hilfe angeboten wird.“

„Bereits in der ersten Klasse sitzen Kinder, die nicht mehr neugierig, kaum beschulbar sind. Die Ursache liegt in sozialer Verwahrlosung. Mit diesen Kindern wird zu wenig gesprochen, sie bekommen ein Handy in die Hand, noch bevor sie ihren Windeln entwachsen sind. So werden sie ruhig gestellt. […] Hinzu kommt häufig die unkontrollierte und unkommentierte Nutzung der (a)sozialen Medien mit ihren zum Teil menschenfeindlichen Darstellungen. […] Die häusliche Gewalterfahrung spielt ebenfalls eine große Rolle. Es gibt Kinder, die lernen zu Hause, dass Gewalt eine Lösungsstrategie ist“.


Der Leserbrief eines Gymnasiallehrers zum Thema im Tagesspiegel:

Liebe Frau Vieth-Entus!
Danke für Ihren hinterfragenden Artikel „Mehr Gewalt an Schulen | Worüber wundert ihr euch?“ im Tagesspiegel vom 19. März 2024.
Ihre Sätze
„Auf der Suche nach den Ursachen werden vor allem die Isolation während der Pandemie und die sozialen Medien als Gewalttreiber genannt.“
„Hier ist auch der Ort, an dem sich bereits Neunjährige pornografische Videos per Tiktok zuschicken oder per Cybermobbing Mitschülerinnen und Mitschülern das Leben zur Hölle machen.“

Warum aber gibt es diesen Digitalisierungshype, warum sollen dann die Schulen (oder gar die Schüler) digitalisiert werden? Sind die teuren Ideen, jeden Schüler mit einem digitalen Endgerät auszustatten und schnelles WLAN für alle in den Schulen zu installieren etc., nicht eine staatliche Subvention, eine Absegnung dieser Irrungen? Vereinsamung und asoziale Medien — Tiktok und Zocken am Handy/Tablet/Laptop/PC statt Kicken mit Kumpels, Pornos statt Bücher, Chatten und Mobbing statt persönlicher Umgang (inklusive Konflikte und deren Lösung) mit Gleichaltrigen  — nun auch auf Staatskosten in der Schule, demzufolge rund um die Uhr, sieben Tage die Woche? Roboter, künstliche (!) Intelligenz und „Lern“programme statt Menschen und Zuwendung für alle Kinder und Jugendlichen?

Ich wundere mich über gar nichts, wäre meine Antwort auf Ihre Frage.

Beste Grüße,
Thilo Steinkrauß

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?

Global Education Monitoring Report 2023. Technology in education: A tool on whose terms? Summary.

Aus der deutschen Übersetzung der deutschen UNESCO-Kommission einige Kernaussagen mit Schwerpunkt „Digitale Medien in der Bildung“:

Es gibt einen Mangel an guten, unvoreingenommenen Erkenntnissen über die Auswirkungen von digitalen Medien in der Bildung.

  • Es gibt wenige belastbare Belege für den Mehrwert von digitalen Medien in der Bildung. Die Technologie entwickelt sich schneller, als wir sie evaluieren können: Produkte aus dem Bereich der Bildungstechnologien ändern sich im Durchschnitt alle 36 Monate. Der Großteil der Erkenntnisse stammt aus den reichsten Ländern. Im Vereinigten Königreich haben 7 % der Unternehmen für Bildungstechnologien randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt, und 12 % nutzten eine externe Zertifizierung. Eine Umfrage unter Lehrkräften und Schulverwaltungen in 17 US-Bundesstaaten ergab, dass nur 11 % von ihnen vor der Einführung nach einer von Fachleuten geprüften Bewertung fragten. (S. 1)
  • Ein Großteil der Studien stammt von den Anbietern, die die Produkte verkaufen wollen. Pearson [der weltweit größte Bildungskonzern und Buchverlag, zudem Marktführer für Bildungsmedien in Großbritannien, Indien, Australien und Neuseeland, zugleich die zweitgrößte Verlagsgruppe in den USA und Kanada] finanzierte eigene Studien und bestritt unabhängige Untersuchungsergebnisse, wonach die Produkte des Unternehmens keine Effekte zeigten. (S. 1)

Kurz gesagt: Wir verfügen zwar über viele allgemeine Forschungsarbeiten zum Lernen mit digitalen Medien. Der Umfang der Forschung zu konkreten Anwendungen und Rahmenbedingungen ist jedoch unzureichend, sodass es schwierig ist, nachzuweisen, dass eine bestimmte Technologie eine bestimmte Art des Lernens fördert. (S. 7)

Warum entsteht dennoch häufig der Eindruck, dass digitale Medien die Antworten auf die großen Herausforderungen im Bildungsbereich bieten könnten?

Um den Diskurs über digitale Medien in der Bildung zu verstehen, ist es wichtig, dass wir die Sprache, mit der sie beworben werden, und die Interessen, denen sie dienen sollen, hinterfragen.

  • Wer definiert den Rahmen für die Probleme, die mit digitalen Medien gelöst werden sollen?
  • Welche Folgen entstehen daraus für die Bildung?
  • Wer präsentiert digitale Medien in der Bildung als Voraussetzung für die Transformation von Bildung?
  • Wie glaubwürdig sind solche Behauptungen?
  • Welche Kriterien und Standards müssen festgelegt werden, um den aktuellen und potenziellen künftigen Beitrag digitaler Medien für die Bildung zu beurteilen, damit wir Hype und Substanz unterscheiden können?
  • Können Forschung und Evaluation mehr sein als kurzfristige Beurteilungen von Auswirkungen auf das Lernen und potenziell weitreichende Folgen des umfassenden Einsatzes digitaler Medien in der Bildung erfassen? (S. 7)

Übertriebene Erwartungen an digitale Medien gehen Hand in Hand mit übertriebenen Schätzungen zur Größe des weltweiten Marktes. Die Schätzungen von Business-Intelligence-Anbietern für das Jahr 2022 bewegen sich zwischen 123 Mrd. und 300 Mrd. US-Dollar. Solche Berechnungen werden fast immer in die Zukunft projiziert und sagen ein optimistisches Wachstum voraus, aber sie geben keine Auskunft über historische Entwicklungen und prüfen nicht, ob sich frühere Prognosen bewahrheitet haben. Solche Berichte bezeichnen Bildungstechnologien routinemäßig als unverzichtbar und Technologieunternehmen als Enabler und Disruptoren. Wenn sich die optimistischen Prognosen nicht erfüllen, wird die Verantwortung implizit auf die Regierungen abgewälzt, um den indirekten Druck auf diese aufrechtzuerhalten, vermehrt in entsprechende Anschaffungen zu investieren. Das Bildungswesen wird dafür kritisiert, dass es sich nur langsam verändere, in der Vergangenheit verhaftet sei und in Sachen Innovation hinterherhinke. Eine solche Darstellung spielt mit der Faszination der Menschen für Neues, aber auch mit ihrer Angst, abgehängt zu werden. (S. 7)

Technologieunternehmen können einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Entwicklung entsprechender Untersuchungen haben. So finanzierte [der weltweit größte Bildungskonzern] Pearson beispielsweise Studien, mit denen unabhängige Analysen angefochten wurden, die ihrerseits gezeigt hatten, dass die Produkte von Pearson keine Wirkung hatten. (S. 11)

Studien auf der Grundlage von PISA-Daten deuten auf einen negativen Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler hin, sobald die Schwelle einer moderaten Nutzung überschritten ist. Lehrkräfte empfinden die Nutzung von Tablets und Handys als Beeinträchtigung ihrer Klassenführung. Mehr als eine von drei Lehrkräften in sieben Ländern, die an der ICILS-2018-Studie teilnahmen, stimmten zu, dass die Verwendung digitaler Medien im Klassenzimmer die Lernenden ablenkt. (S. 11f)

Bildungssysteme sollten bei der Entscheidung über die Einführung digitaler Technologien stets sicherstellen, dass die Interessen der Lernenden im Mittelpunkt eines auf Rechten basierenden Rahmens stehen. Der Fokus sollte nicht auf digitaler Infrastruktur, sondern auf den Ergebnissen des Lernens liegen. Zur Verbesserung des Lernens sollten digitale Medien die persönliche Interaktion mit Lehrkräften nicht ersetzen, sondern ergänzen. (S. 20)

Weitere Fragestellungen und Hinweise:

Die Rolle von digitalen Medien in der Bildung ist seit langem Gegenstand intensiver Debatten:

  • Sorgen sie für eine Demokratisierung des Wissens – oder bedrohen sie die Demokratie, indem sie die Kontrolle über Informationen in die Hände weniger Auserwählter legen?
  • Bieten sie grenzenlose Möglichkeiten, oder führen sie in eine zukünftige Technologieabhängigkeit, aus der es kein Zurück mehr gibt?
  • Führen sie zu einer Angleichung der Bedingungen, oder verschärfen sie die Ungleichheit?
  • Sollten sie für den Unterricht junger Kinder eingesetzt werden, oder besteht ein Risiko für deren Entwicklung? (S. 33)

Der UNESCO-Bericht „Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?“ empfiehlt, dass Technologie in der Bildung evidenzbasiert eingeführt werden sollte, also auf Grundlage von Nachweisen, dass sie geeignet, chancengerecht, skalierbar und nachhaltig ist. Mit anderen Worten: Ihr Einsatz sollte im besten Interesse der Lernenden liegen und die zwischenmenschliche Interaktion ergänzen. Digitale Medien sollten als Werkzeug verstanden werden, das unter diesen Bedingungen genutzt werden kann. (S. 33)

Technologie [in der Bildung] kann aber auch ausgrenzend, irrelevant und belastend, wenn nicht sogar schädlich sein. Regierungen müssen für die richtigen Bedingungen sorgen, um einen chancengerechten Zugang zu Bildung für alle zu ermöglichen, und müssen die Nutzung von Technologien so regulieren, dass die Lernenden vor deren negativen Einflüssen geschützt werden. (S. 33)

Weitere Informationen:

UNESCO-Bericht zu IT in Schulen fordert mehr Bildungsgerechtigkeit

Technologie in der Bildung: EIN WERKZEUG – ZU WESSEN BEDINGUNGEN?