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Die „Anbandelungswut“ der Kompetenz

Unanständiger Unterricht

Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz über die Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz. Doch braucht es dafür jeweils ein eigenes Unterrichtsfach?

NZZ, 14.05.2019, Konrad Paul Liessmann

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

Ist heute von Schule und Bildung die Rede, sind große Worte unvermeidlich. Immer geht es gleich um Exzellenz und Spitzenplätze, um das Beste für unsere Jugend, um flächendeckende Digitalisierung, um die großen Herausforderungen, um die Kompetenzen für das 21. Jahrhundert und das dritte Jahrtausend.

Apropos Kompetenzen: Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat jüngst davon gesprochen, dass «Kompetenz» unter unseren zeitgeistigen Begriffen derjenige ist, der die größte «Anbandelungswut» entwickelt hat. Ungeniert und hemmungslos verbindet sich die Kompetenz mit allen nur denkbaren Substantiven, von der Sprachkompetenz bis zur Reflexionskompetenz, von der Lesekompetenz bis zur Medienkompetenz, von der Sozialkompetenz bis zur Kommunikationskompetenz, von der Teamkompetenz bis zur Selbstkompetenz, von der Bürgerkompetenz bis zur Zukunftskompetenz reicht dieser halbseidene Reigen. Solch verbale Promiskuität ist in der Tat obszön, und anständige Menschen sollten das Wort Kompetenz, in welcher Verbindung auch immer, nicht mehr in den Mund nehmen.

Die eigentliche Unanständigkeit aber lauert hinter diesen Phrasen. Sie besteht im Glauben, dass Schule, Unterricht und Bildung junge Menschen umfassend auf die Zukunft vorbereiten und ihnen alle Fähigkeiten vermitteln könnten, die gebraucht werden, um die kommenden Herausforderungen anzunehmen. Und deshalb werden neue Kulturtechniken propagiert – Coding –, missliebige Inhalte entsorgt – die Kunst der alten weißen Männer –, neue Fächer oder Fächerbündel eingeführt – Ernährung, Medien und Klima – und moderne Lernformen verordnet – interaktiv, digital und ohne lästige Lehrperson.

Bilden bedeutet ganz wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu können.

Hinter all dem Wortgetöse, dem die pädagogische Praxis zum Glück nur selten folgt, steckt ein grundsätzlicher Irrtum. Da kein Menschen weiß, was die Zukunft bringen wird, ist es schlechterdings verantwortungslos, dieses Unwissen zum Maßstab und zur Zielvorstellung für die Formen und Inhalte des Unterrichts zu machen. Das führt nur zu Scharlatanerie und falschen Propheten. Es geht nicht darum, herauszufinden, welche Bildung wir für das 21. Jahrhundert benötigen, sondern darum, jene Bildung zu vermitteln, die notwendig ist, um zu verstehen, warum die Welt so geworden ist, wie sie nun einmal ist. Bilden bedeutet ganz wesentlich, Errungenschaften weitergeben zu können. In ihrem Zentrum stehen die Leistungen der Vergangenheit.

Statt eine dubiose Zukunftsoffenheit zu propagieren, sollte man lieber darüber nachdenken, was von dem, was Menschen bisher an Wissen und Erkenntnis, an Kunst und Kultur, an Ethos und Moral, an Methoden und Technologien entwickelt haben, aus guten Gründen erhalten, bearbeitet, vermittelt und unterrichtet werden kann. Das hat nichts mit Traditionspflege oder starrem Festhalten an Überholtem zu tun, sondern mit den notwendigen Voraussetzungen für ein bewusstes und mündiges Leben in einer nicht gerade einfachen Welt. Die Vergangenheit ist ein Fundament, aber keine Norm.

Vielleicht aber sollte man das Verhältnis von Zukunft und Bildung zumindest versuchsweise überhaupt einmal radikal umdrehen. Wie wäre es, wenn man die Bildung nicht an der Zukunft, sondern die Zukunft an der Bildung misst? Es gibt großartige Entwürfe einer Erziehung zur Mündigkeit, zur moralischen und ästhetischen Sensibilisierung des Menschen, zur Humanisierung der Affekte, zu einem Streben nach Weisheit und Einsicht, die dafür herangezogen werden könnten. Man sollte auch einmal darüber nachdenken, wie eine Welt beschaffen sein müsste, die solchen Bildungsansprüchen genügte. Bildung benötigt keine Kompetenzen; sie benötigt Selbstbewusstsein.

Zum Beitrag:  NZZ, 14.5.2019, Konrad Paul Liessmann, Kolumne, Unanständiger Unterricht

Lernerfolgsfaktoren

Pädagogische Beziehung – Der Geheimcode für Lernerfolg

Trotz medialer Digitalisierung bleiben Lehren und Lernen analoge Prozesse. Die Unterrichtsforschung lenkt aktuell den Blick auf den unterschätzten Aspekt der Lehrer-Schüler-Beziehung. Ihre Qualität gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung – und an ihr lässt sich arbeiten.

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten war 35 Jahre Gymnasiallehrer in Köln. Heute berät er Schulen in punkto evidenzbasierte Unterrichtsqualität, veröffentlicht pädagogische Sachbücher (siehe nebenstehende Bücherliste und unter LINKS) und schreibt u.a. für ZEIT-online und SPIEGEL-online.

Die Digitalisierung der Schule ist in aller Munde. Nichts, was sich dadurch nicht bessern soll: die Leistungen der Schüler, ihre Motivation, vielleicht gar die Bildungsgerechtigkeit. So schwärmte ein Didaktiker kürzlich davon, dass Tablet und Internet nicht lediglich neue Werkzeuge seien. Der wahre Mehrwert digitaler Medien bestehe keineswegs darin, alte Ziele schneller zu erreichen, sondern vielmehr „völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen“. Die heraufziehende „Kultur der Digitalität“ tauche „die gesamte Gesellschaft in eine neue Denk-Nährlösung, in der auch solche Begriffe wie „Lernen“ und „Wissen“ neue Bedeutungen erhalten“.
Klingt schier überwältigend – aber stimmt eigentlich, was so einnehmend daherkommt? Steht mit der Digitalisierung wirklich eine Bildungsrevolution ins Haus? Wird man schulisches Lernen in 10 Jahren allen Ernstes nicht mehr wiedererkennen? Hellsehen kann sicher niemand – man wird beobachten müssen, wie sich die Dinge entwickeln. Der aktuelle Forschungsstand weist jedenfalls in eine andere Richtung.

Digitale Lerneffekte auf dem Prüfstand

So besagt die XXL-Metastudie „Visible Learning“ des Neuseeländers John Hattie (2009/2017): Im Vergleich zur durchschnittlichen Lernprogression von Schülern (Effektstärke 0,4) bleiben die Lerneffekte durch Digitalisierung (mit Ausnahmen) leicht unterdurchschnittlich. Nicht Medien und Ressourcen sind entscheidend, sondern der Aktivierungsgrad der Schüler und die Lehrerimpulse zu gründlicher Stoffdurchdringung. Ob etwa jeder Schüler einen eigenen Laptop hat, ist relativ unbedeutend (0,16); wenn jedoch interaktive Lernvideos den Unterricht ergänzen, kann dies recht hilfreich sein (0,54). Auch im naturwissenschaftlichen Unterricht gibt es anscheinend Wichtigeres als IT-Einsatz (0,23), während sich bei besonderen Förderbedarfen digitale Hilfsmittel als förderlich erweisen (0,57).

Das lässt zumindest vermuten: Der analoge (weil anthropologisch bedingte) Flaschenhals beim Lernen lässt sich weder umgehen noch ignorieren; durch ihn muss zunächst hindurch, wer in der Welt halbwegs mündig ankommen will, auch in der zunehmend digitalisierten. Deshalb titelte ja der Medienwissenschaftler Ralf Lankau: „Kein Mensch lernt digital“. Das Potential des neuen Handwerkszeugs für die Schule ist dabei unbestritten. Üben und Anwenden können für Schüler reichhaltiger und individueller werden, Einsichten lassen sich vielfältiger vertiefen, es gibt mehr Möglichkeiten für Feedback und Kollaboration. Ein vollkommen anderes, etwa selbstgesteuertes Erarbeiten neuer Zusammenhänge aber ist bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil: Das pädagogische Mantra der Eigenverantwortlichkeit hat im Licht der Empirie arg an Ansehen verloren.

Pädagogische Beziehung – altmodisch oder neuer Hit?

Dagegen lenkt Hatties riesige Datenbasis über Lehr-Lern-Effekte den Blick auf etwas gerne Unterschätztes: „Die Lehrer-Schüler-Beziehung gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung von Schülern.“ Oder wie der Neurowissenschaftler Joachim Bauer so formuliert hat: „Der Mensch ist für den anderen Menschen die Motivationsdroge Nummer Eins.“ Als Kurzformel für die Schule: Unterricht ist vor allem Beziehungssache!

Es hängt nämlich ungemein stark vom Beziehungsklima der Lehrkraft ab, ob ich mich als Schüler auch an schwierige Sachverhalte herantraue oder aber vorzeitig aufgebe, ob ich mich auch mit lästigen Themen beschäftigen mag, ob ich meine Müdigkeit oder den Ärger mit meinen Tischnachbarn vorübergehend vergessen kann.

Umgekehrt beeinflussen Menschenbild und Kontaktfreudigkeit der Lehrkraft auch die eigene Berufszufriedenheit. Ob man immer wieder mit den verschiedensten Schüler gut zurechtkommt, ob Unterrichten einem auch nach Jahrzehnten noch Freude macht – das hängt stark davon ab, ob man junge Menschen in all‘ ihrer Unfertigkeit und Wildheit grundsätzlich mag (auch und gerade die „Schwierigen“); ob man sich für sie individuell interessiert und in sie hineinversetzen kann; ob man Lerngruppen gelassen und sicher zu führen vermag, auch durch schwierige Themen und turbulente Situationen.Potsdamer Lehrerstudie 2005

Lehrer-Schüler-Beziehung – was ist das eigentlich?

Pädagogische Beziehung ist also ein Geheimcode für Wirkerfolg wie Berufszufriedenheit, bildet aber in der Lehrerausbildung eine Art Grauzone. Dabei ist Beziehungsqualität weder Schicksal noch etwas Magisches – Lehrkräfte können auch in diesem eher emotionalen Bereich dazulernen. Zwar ist die Lehrer-Schüler-Beziehung imer persönlich geprägt, sie sollte aber zugleich professionellen Charakter haben. Schüler brauchen die Lehrperson als mitmenschliches Gegenüber beim Lernen – sie wollen als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen, unterstützt und geführt werden.

Konkret drückt sich das etwa darin aus, dass man an seinen Schülern interessiert ist und jeden auf seine Art schätzt; dass man Beiträge der Schüler aufgreift und vertiefende Rückfragen stellt; dass man die Stärken und Schwächen einzelner Schüler kennt und entsprechend anerkennen oder ermuntern kann; dass man außerhalb des Unterrichts auch für Persönliches ansprechbar ist; auch, dass man alle Abläufe im Klassengeschehen mitbekommt, eigene Fehler eingestehen kann, möglichst wenig ärgerliche oder abwertende Affekte zeigt. Nicht gemeint ist hingegen, Schülern der quasi „beste Freund“ sein zu wollen.

Das Geheimnis guter Klassenführung

Aber ich hab‘ doch 30 ganz verschiedene Schüler – wie kann ich da zu jedem Einzelnen in Beziehung treten? Und das womöglich sechsmal am Tag? Glücklicherweise haben Lernende gleich welchen Alters etwas Gemeinsames: Sie sind innerlich auf die kompetente Lehrperson ausgerichtet und wollen deren Beachtung und Bestätigung erfahren. Der Lehrer muss nur darum wissen – und seine Rolle als gute Autorität un-ver-schämt spielen. Wenn diese Beziehung stimmt, dann reisst man eine Lerngruppe einfach mit, auch bei Hitze, auch durch öden Stoff. Wirkungsvolles classroom management ist also nichts Technisches, sondern beruht auf einer inneren Haltung des Anführens – sie wirkt in jeder Äußerung, durch jede Entscheidung.

Kann man das denn lernen?

Diese zwischenmenschliche Dimension lässt sich nicht per Rezeptsammlung erwerben, aber im Berufsleben enorm ausbauen. Sie ist indes auch empfindlich, leicht hemmbar, schnell störanfällig. Berufsanfänger sind oft unsicher, ob die Schüler sie ernstnehmen; routinierte Lehrer leiden unter Lehrplanstress. Aber auch persönliche Eigenheiten einer Lehrkraft können stören: Perfektionismus etwa, oder eine allzu distanzierte Art; oder wenn sie um die Anerkennung von Schülern ringt oder Konflikte mit ihnen vermeiden will, sich also führungsscheu verhält.

Generell nimmt man als Lehrerin oder Lehrer Unterrichtsstörungen schnell persönlich: Man denkt dann, diese Schülerin fragt immer so komisch, die kann mich sicher nicht leiden; oder jener Schüler will mir mit seinen dauernden Witzen die Stunde kaputt machen; oder keiner schätzt meine aufwändigen  Vorbereitungen. Und dann wird man schlecht gelaunt – oder schießt gar mit Kanonen auf Spatzen. Tatsächlich möchte das Mädchen vielleicht nur zeigen, welch tolle Gedanken sie sich zum Thema macht; und der Junge könnte von eigenen Verständnisschwierigkeiten ablenken wollen. Alfred Adler, Pionier der pädagogischen Tiefenpsychologie, hat wichtige Anregungen gegeben, wie man Störungen als subjektive Lösungen durchschauen – und ungünstige Energie in nützliche Bahnen lenken kann.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Beitrag aus: https://www.goethe.de/de/spr/mag/21537868.html Das Goethe-Institut e. V. ist eine weltweit tätige Organisation zur Förderung der deutschen Sprache im Ausland, zur Pflege der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und zur Vermittlung eines umfassenden Deutschlandbildes durch Informationen über das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben.

Lehrer müssen Autoritäten sein – nicht autoritär

Wissen, wo es lang geht

Wer in den Lehrerberuf startet, ist meist noch jung – darf sich aber nicht mit den Schülern verbrüdern oder ihr Kumpel sein wollen. Nur ausgestattet mit einer gesunden Autorität, können Lehrer ihren Auftrag erfüllen: Heranwachsenden Orientierung auf dem Weg ins Leben zu geben.

Peter Maier, Gymnasiallehrer und Mentor beleuchtet die Hintergründe

Schüler brauchen Klarheit und Orientierung

Zu einer menschlichen und lebendigen Pädagogik gehört es, als Lehrer klar und konsequent zu sein, selbst wenn die Schüler dies vordergründig als garstig und abweisend empfinden sollten. Es ist wohl die pädagogische Kunst schlechthin, als Lehrer einen klaren Weg zu finden zwischen echter Autorität (Ausstrahlung) und autoritärem Gehabe. Schüler besitzen dafür empfindliche Sensoren und können durchaus unterscheiden, ob diese Ausstrahlung des Lehrers überzeugend oder nur vorgespielt ist.

Sie wünschen sich zu Recht einen Lehrer mit echter Autorität, der sie beachtet, liebt, ernst nimmt, fördert, unterstützt und den sie gleichzeitig respektieren können. Auch sollte er neben fachlichem Wissen echte Empathiefähigkeit besitzen. Gleichzeitig erwarten gerade Jungs, dass ein Lehrer sich durchsetzen und überzeugend Grenzen setzen kann, falls diese von der Klasse oder von einzelnen Schülern in Frage gestellt werden. Indem Heranwachsende die Autorität des Lehrers testen, loten sie zugleich aus, wie weit sie selbst gehen können. Dies gehört zur Pubertät im Allgemeinen und zum „Spiel“ des Unterrichts zwischen Schülern und Lehrern im Besonderen.

Der Lehrer muss Grenzen setzen können

Die Grundlage für einen guten (Fach-) Unterricht ist eine geklärte Beziehung zwischen den einzelnen Schülern, der ganzen Klasse und dem Lehrer. Beide Ziele des Bildungskanons – die Wissensvermittlung und die gleichzeitige Begleitung der Schüler bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung – können nur erreicht werden, wenn der Grundsatz „Erziehung durch Beziehung“ konkret Wirklichkeit wird. An dem Lehrer liegt es, dass sich innerhalb der Schulstrukturen ein pädagogischer Raum öffnet, in dem Fachunterricht stattfinden, die einzelnen Schüler individuell gefördert und ein möglichst gutes Arbeitsklima herrschen kann.

Eine Grundvoraussetzung dafür ist jedoch, dass der Pädagoge selbst im Tiefsten seiner Persönlichkeit erwachsen geworden ist. Nur dann kann er die „Königsaufgabe“ erfüllen, die mit seinem Beruf verbunden ist: seinen Schülern Orientierung geben, ihnen ein Vorbild bei ihrer eigenen Persönlichkeitsentfaltung zu sein und sie dabei kompetent zu begleiten. Zu dieser Rolle gehört auch die Fähigkeit, einzelnen Schülern oder ganzen Klassen [Klassengemeinschaft] klare Grenzen setzen zu können.

Das Erwachsenwerden erfordert Begleitung und Orientierung

Manche Schüler schreien förmlich danach, durch den Lehrer solche Grenzen zu erleben, weil sie sie zu Hause vermissen – sei es, weil ihre Eltern überfordert oder selbst noch nicht ganz erwachsen sind; weil ihre Eltern aus falsch verstandener Liebe zu viele Zugeständnisse machen oder sie es schlicht versäumt haben, ihnen respektvolles Verhalten anzuerziehen. […]

Lehrer müssen Autoritäten sein – nicht autoritär

Kuschelpädagogik ist besonders in Jungenklassen der falsche Ansatz, wenn klare Ansagen und harte Grenzziehungen erwartet werden. Die Schüler haben es verdient, dass diese Grenzen vom Lehrer auch gesetzt werden.

Es ist eine verständliche, oft aber eine falsche Haltung, sich als Lehrer von den Schülern auf der Nase herumtanzen zu lassen, nur um sich bei ihnen ja nicht unbeliebt zu machen. Genau das Gegenteil ist meist der Fall: Die Schüler verlieren den Respekt vor dem Lehrer.

Es sollte nicht das Ziel der Pädagogen sein, von den Schülern geliebt zu werden oder sich mit ihnen gar zu „verbrüdern“. Diese wollen in der Regel gar keinen Kumpel als Lehrer. Sie wollen ihn vielmehr respektieren können als ein erwachsenes Gegenüber, an dem sie sich orientieren und reiben können, der sie ernst nimmt, auch indem er Verstöße ahndet oder Konsequenzen zieht, wenn über die Stränge geschlagen worden ist.

Als Lehrer trage ich die Verantwortung für den Unterricht und für die mir anvertrauten Schüler. Darum ist es meine Pflicht, stets „Chef/in im Ring“ zu bleiben – in meiner inneren Autorität und auch wörtlich gesehen im Klassenzimmer.

Echte und verantwortliche Liebe des Lehrers zu seinen Schülern kann daher auch heißen, konsequent zu sein, klare Grenzen zu setzen und auf deren Einhaltung zu bestehen. Auch dies gehört meiner Ansicht nach zu einer wirklichen Pädagogik des Herzens. Es ist gut, neben dem lehrerzentrierten Unterricht viele andere Unterrichtsmethoden zur Verfügung zu haben und zu beherrschen: Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Projektarbeit usw. Dennoch darf ich als Lehrer auch bei diesen anderen Unterrichtsformen niemals die eigentliche Leitung aus der Hand geben.

Aus: Friedrich Verlag, Geschichte lernen, Beilage Bildung + Referendare 2/2018


Siehe auch zu diesem Thema:  Autorität ist ein Grundbedürfnis

F.A.Z. – FEUILLETON, 24.01.2019, Hannah Bethke, Korrespondentin des Feuilletons der F.A.Z. in Berlin

Wer keine Grenzen zieht, übt ungesehen Macht aus. Wo bleibt die gute Pädagogik, die Denken nicht durch Wissen ersetzt und Freiheit nicht mit Vernachlässigung verwechselt?

[…] „Lehrer sind oft nicht gestärkt genug, nein zu sagen“, erzählt eine Berliner Gymnasiallehrerin: „Schüler werden angeglichen, weil Lehrer Angst haben, Leistungen als schlecht zu bewerten.“ Wer nein sagt, dem mangele es nicht an Empathie; im Gegenteil sei es in der Erziehung empathisch, (auch einmal) nein zu sagen. Hier geht es also um notwendige Grenzziehungen in der Pädagogik, um etwas, das der Soziologe Richard Sennett so formuliert hat: „Das Bedürfnis nach Autorität ist elementar“ – nicht in Form von Unterdrückung und Repression, sondern als Instanz, die anleitet, orientiert und Sicherheit gibt. […]

In einem Unterricht, der angeblich der Freiheit der Kinder dienen soll, werden die Schüler beim Lernen allzu oft allein gelassen. Wenn sie Regeln nicht einhalten, werden sie häufig mit einer Zuwendungspädagogik eingelullt, statt Grenzen gezogen zu bekommen. Davon berichtet ein Berliner Grundschullehrer: „Wenn Schüler Mist bauen, unterbinden viele Lehrerinnen das nicht, sondern gehen zu den Schülern und sagen ganz freundlich: ,Ach Mensch, was ist denn bloß mit dir? Irgendetwas stimmt doch mit dir nicht, meinst du nicht auch? Lass uns doch mal gemeinsam ganz in Ruhe darüber reden‘.“ Das sei eine viel größere Machtausübung, als klar zu sagen, „bis hierhin und nicht weiter“. Was der Berliner Lehrer hier beobachtet, hat eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Zauberformel der (Leistungs-)Gleichheit, die nur zu haben ist, wenn die Anforderungen nach unten geschraubt und dadurch alle gleich gut werden: Unter dem Diktum des antiautoritären Lernens und Unterrichtens wird Autorität ausgeübt – und das ist sicher nicht die Art von Autorität, die Sennett als elementares Bedürfnis erkannt hat. Aus:  F.A.Z. – FEUILLETON, 24.01.2019, Hannah Bethke, Autorität ist ein Grundbedürfnis

Verfehlte Testmethoden in der Schulinspektion

Wichtige Qualitätskriterien werden vernachlässigt

F.A.Z. – BILDUNGSWELTEN, 24.01.2019, Rainer Werner

Rainer Werner war Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er ist Verfasser des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“, siehe Bücherliste. Rainer Werner hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

In Deutschland wird inzwischen alles getestet. Vom elektrischen Eierkocher bis zum Seniorenheim werden Waren und Dienstleistungen einer akribischen Prüfung unterzogen und die Ergebnisse in Test-Zeitschriften veröffentlicht. Lange haben sich Bildungspolitiker dagegen gesträubt, die Qualität der Schulen, für die sie die Verantwortung tragen, testen zu lassen. Nach der ersten Pisa-Studie 2001 und den durchwachsenen Ergebnissen deutscher Schüler war das Desinteresse an Schulqualität nicht länger aufrechtzuerhalten. Die Stunde der Schulinspektion hatte geschlagen. Inzwischen gibt es sie in allen Bundesländern. Ein Inspektionsteam aus Lehrkräften, die keinen Bezug zur jeweiligen Schule haben dürfen, besucht und bewertet in regelmäßigen Abständen die Schulen. Doch wie testet man eine Schule?

Große Schulen haben über 100 „Mitarbeiter“ und bis zu 1000 „Kunden“, die jeden Tag anwesend sind und die angebotene Dienstleistung abrufen. Die Schüler erwarten guten Unterricht und bestmögliche Schulabschlüsse, die sie jedoch nur erreichen, wenn die Schule in all ihren Facetten optimal funktioniert. Deshalb werden bei der Inspektion alle Aspekte des Schullebens auf den Prüfstand gestellt: Schulleiterhandeln, innerschulische Kommunikation, (digitale) Ausstattung, Einbeziehung von Eltern und Schülern in Entscheidungsprozesse, Schulklima, programmatische Schulentwicklung und als wichtigstes Kriterium das Kerngeschäft: der Unterricht.

In Berlin gibt es die Schulinspektion seit nunmehr zwölf Jahren. Zwei Durchgänge haben die Berliner Schulen also schon hinter sich. Im „Handbuch Schulinspektion“ finden sich die Bewertungsbögen, die der Jury als Grundlage für die Begutachtung der Schulen dienen. Betrachtet man die Bögen zu „Unterrichtsgestaltung/Lehrerhandeln im Unterricht“, stößt man auf 64 Indikatoren, die zu beobachten und zu bewerten sind. Der Unterrichtsbesuch der Tester dauert 20 Minuten, wobei es egal ist, ob sie den Beginn der Stunde erleben oder mitten in die Stunde hineinplatzen. Zur Begutachtung einer der Indikatoren bleiben dem Tester gerade einmal 18 Sekunden. Wie soll er unter diesen Testbedingungen die Qualität des Unterrichts seriös bewerten können? Und vor allem: Kann man bei solchen Kurzbesuchen den geistigen Prozess einer Unterrichtsstunde erfassen? Kritiker monieren, dass bei dieser Testmethode ausschließlich die auf den ersten Blick beobachtbaren Aspekte, also die Oberflächenmerkmale von Unterricht, erfasst werden, nicht jedoch die Tiefenstruktur, die einem gut geführten Unterricht immer zugrunde liegt.

Unter Tiefenstruktur versteht man das Zusammenspiel von interessantem Lerngegenstand, methodischer Vermittlung und kommunikativem Geschick der Lehrkraft. Es ist die größte Schwäche dieser Testbögen, dass sie fachdidaktische Erwägungen, die den Unterricht prägen, und den pädagogischen Kontext, also die soziale Problematik einer Lerngruppe, nicht zu erfassen vermögen. Wenn drei Tester die Unterrichtsqualität in zwölf Fächern bewerten sollen, urteilen sie überwiegend fachfremd. Ist der Tester ein Mathematiklehrer, werden ihm zwangsläufig die didaktischen Feinheiten in Englisch oder Latein verborgen bleiben. Trotzdem gibt er dem gesehenen Unterricht eine Note.

Im Bewertungsbogen für den Unterricht finden sich die Indikatoren „Innere Differenzierung“, „Selbständiges Lernen“ und „Kooperatives Lernen“. Schaut man sich die Inspektionsberichte Berliner Gymnasien an, stellt man fest, dass sie bei diesen Kriterien häufig nur die beiden niedrigsten Bewertungsstufen „C“ und „D“ zugeteilt bekamen. Für die Schulverwaltung gehören Binnendifferenzierung und Individualisierung zu den „fortschrittlichen“ Unterrichtsmethoden, die das „rückschrittliche“ Unterrichtsgespräch, gern als Frontalunterricht gescholten, ablösen sollen. Die „modernen“ Methoden werden so vehement gefordert, dass nicht mehr darauf geachtet wird, ob sie die Schüler bei einem bestimmten Lernstoff überhaupt zum Lernerfolg führen. Gute Lehrer wissen: Die Unterrichtsmethode hat gegenüber dem Unterrichtsgegenstand immer eine dienende Funktion. Aus der Bauhaus-Architektur kennen wir den Grundsatz „Die Form ergibt sich aus der Funktion“. Ähnlich ist es im Fachunterricht. Die Methode des Unterrichts leitet sich aus dem Lerngegenstand ab und nicht umgekehrt. Sie ist das Instrument, um einen fachlichen Gegenstand so darzubieten, dass ihn junge Menschen, denen das Thema neu ist, verstehen. Wenn ein Deutschlehrer, dem die anspruchsvolle Literatur noch am Herzen liegt, in einer 10. Klasse das Gedicht „Mondnacht“ von Joseph von Eichendorff bespricht, wird er es im gelenkten Unterrichtsgespräch erschließen, weil sich bei der Schwierigkeit des Gegenstands Gruppenarbeit oder individuelles Lernen verbieten. Mit dieser fachdidaktisch gebotenen Methode wird sich der Lehrer beim Tester aber Strafpunkte einhandeln, weil er eine von der Schulbehörde wenig erwünschte Lernmethode gewählt hat. Wird eine Methode verabsolutiert, grenzt man Inhalte, die dem Methoden-Diktat nicht gehorchen wollen, aus – zum Nachteil der Schüler. Wie weit sich didaktische Zwänge von der schulischen Wirklichkeit entfernen können, zeigt die ironische Aussage des Direktors eines renommierten Berliner Gymnasiums. In einem Brief an die Eltern schrieb er sinngemäß, seine Schule schneide in allen Bereichen blendend ab: bei Vera, beim Mittleren Schulabschluss, beim Abitur, bei Wettbewerben und bei „Jugend forscht“. Leider erzielten die Lehrkräfte diese Erfolge laut Inspektionsbericht mit der „falschen“ Unterrichtsmethode.

Noch ein weiterer Aspekt wird von den Befürwortern des selbständigen Lernens gern übersehen. Von dieser Lernmethode profitieren in erster Linie die leistungsstarken Schüler, weil sie sich gut organisieren können. Schon vor Jahren warnten Didaktiker vor der Illusion, lernschwache Kinder könnten von heterogenen Lerngruppen lernen, wenn man nur das Lernen differenziert. Ihrer Meinung nach benachteiligen die „modernen“ Lernmethoden vor allem Kinder aus bildungsfernem Milieu, weil diese den „direkt angeleiteten Unterricht“, das vom Lehrer gelenkte Gespräch, benötigen. Da das nur in relativ homogenen Lerngruppen funktioniert, wäre die in Berlin verpönte Fachleistungsdifferenzierung dringend geboten. Der Soziologe Hartmut Esser hat erst vor kurzem durch Auswertung eines umfangreichen Datensatzes nachgewiesen (F.A.Z. 15. November 2018), dass leistungsschwache Schüler in heterogenen Lerngruppen benachteiligt sind. Wenn es die Berliner Schulverwaltung mit der Bildungsgerechtigkeit ernst meint, sollte sie an den Integrierten Sekundarschulen die Differenzierung nach Leistungsgruppen zur Pflicht machen.

Wenn man Schulqualität misst, darf man auf keinen Fall die Lernergebnisse der Schüler außer Acht lassen. Die Schulinspektion müsste also die Ergebnisse der letzten Pisa-Studie schulbezogen auswerten und die Ergebnisse der Vergleichsstudien Vera-3 und Vera-8 in Deutsch, Englisch und Mathematik einbeziehen. Auch das Abschneiden der Schüler beim Mittleren Schulabschluss (MSA) und beim Abitur müsste in die Bewertung einfließen. Ein starkes Indiz für Schulqualität ist auch die Zahl der Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen. All dies misst die Berliner Schulinspektion nicht. Sie lässt damit den wichtigsten Beleg für Schulqualität, die Leistungen der Schüler, völlig außer Acht. Leidtragende dieses Versäumnisses sind die Schulen, die sich den Herausforderungen einer schwierigen Schülerschaft stellen und sie mit originellen, manchmal auch unorthodoxen pädagogischen Methoden meistern. Ihre Didaktik muss, weil sie nicht in das Raster der Schulinspektion passt, mit Abwertungen rechnen. „Leistung ist unwichtig“, sagte der Leiter einer Sekundarschule. Die Berliner Schulverwaltung sollte die Bewertungsbögen der Schulinspektion einer grundlegenden Revision unterziehen. Dabei sollte das Ziel des Unterrichts – gute Schülerleistungen – im Vordergrund stehen, nicht der Weg, den die Schulen dorthin beschreiten.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zum Artikel und seiner Website „Für eine gute Schule“

„Lernen erfordert positive Beziehungen“

Die Grammatik des Lernens

Was bei der Digitalisierung im Bildungsbereich nicht vergessen werden darf

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bildungswelten, 4.10.2018, von Klaus Zierer
Digitalisierung verändert alles. Ein Mantra, das man dieser Tage vielfach hört. Mag es für bestimmte Kontexte auch zutreffen, wie zum Beispiel für die Arbeitswelt und die Industrie, für den Bildungsbereich ist es nicht nur unzulänglich, sondern geradezu gefährlich. Denn dieses Mantra verkennt, dass die menschliche Evolution nicht mit der technischen Innovation gleichzusetzen ist. An der Grammatik des Lernens, die sich mit der Entwicklung des Homo sapiens herausgebildet hat, lässt sich dieser Fehlschluss exemplarisch an fünf Grundsätzen verdeutlichen, die vor allem im Zug einer Digitalisierung von Schule auftauchen:

Erstens erfordert Lernen Anstrengung und Einsatz: Immer wieder wird aktuell die These vertreten, dass sich Lernen durch Digitalisierung völlig verändert. An einer zentralen Grammatik des Lernens lässt sie sich widerlegen, die mit Hilfe der Vergessenskurve verdeutlicht werden kann. So wissen wir aus zahlreichen psychologischen Studien, dass der Mensch um die sechs bis acht Wiederholungen braucht, um eine Information vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu bringen. Fehlen diese Wiederholungen und die damit verbundene Anstrengung und der nötige Einsatz, so nimmt das Vergessen seinen Lauf. Der Moment des Vergessens beginnt also im Moment des Merkens. Und dies ist unabhängig davon, ob analog oder digital gelernt wurde.

Zweitens erfordert Lernen Herausforderungen: Es ist eine der beständigsten Botschaften von Technikkonzernen, dass Digitalisierung Lernen leichter macht. So schön diese These klingt, so falsch ist sie: Bildung im Allgemeinen und Lernen im Besonderen ist nichts Leichtes. Denn es schreitet über Umwege und Irrwege voran, führt nicht selten zu Misserfolg und Scheitern, erzeugt Fehler. Insofern darf es im Bildungsbereich nicht darum gehen, Lernen möglichst leichtzumachen. Es muss darum gehen, Lernen möglichst herausfordernd zu gestalten. Das Flow-Erlebnis ist der beste empirische Beleg für diese Grammatik des Lernens. Menschen erreichen dann den Zustand tiefer Zufriedenheit, wenn sie einer Aufgabe nachgehen, die sie herausfordert, und insofern die Wahrscheinlichkeit des Erfolges genauso groß ist wie die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Wenn Digitalisierung im Bildungsbereich wirksam werden soll, dann muss sie so eingesetzt werden, dass dank ihr die Herausforderung noch besser gesetzt werden kann also ohne sie.

Drittens erfordert Lernen positive Beziehungen: Es zählt zu einem der zentralen Ergebnisse der Anthropologie, dass der Mensch ein Gegenüber braucht, um sich selbst zu erkennen. Fehlt dieses Gegenüber, ergeht es einem wie Robinson Crusoe: Einsam und verlassen wird man sich fremd und verliert sich in einer Welt ohne Halt und Orientierung. Empirisch lässt sich diese Erkenntnis mittlerweile mehrfach belegen, so zum Beispiel mit dem Dumm-und-dümmer-Effekt: Menschen neigen dazu, sich in ihren Möglichkeiten zu überschätzen oder zu unterschätzen. Nur selten trifft das Bild, das man von sich zeichnet, ins Schwarze. Die Fremdeinschätzung ist wichtig, um sich daran zu reiben und sich zu hinterfragen. Insofern ist auch das – durch die Digitalisierung befeuerte – Gerede vom Lernbegleiter und vom überzogenen individualisierten Lernen wenig hilfreich, vielmehr unsinnig. Lerner brauchen nicht nur einen „guide on the side“. Sie brauchen auch und in jeder Phase ihres Lebens einen „change agent“, wie es John Hattie nennt, einen Menschen, der ihnen den Spiegel vorhält, der sie ermutigt und die Herausforderung setzt, wenn sie nicht an sich glauben, der sie aber auch bremst, wenn sie falsche Erwartungen an sich setzen. Zur Grammatik des Lernens gehören folglich Lehrer, die mit bewusstem und verantwortungsvollem Veränderungswillen agieren – wohl wissend, dass sie nur Angebote des Lernens machen können, die der Lernende nur selbst nutzen kann.

Viertens erfordert Lernen Motivation: Der Klassiker in der Diskussion um den Mehrwert der Digitalisierung im Bildungsbereich ist die These, dass durch den Einsatz von Tablets, Smartphones und Co. die Lernmotivation steigt. Empirisch ist das schön abbildbar und auf den ersten Blick zu bestätigen. Allerdings zeigt sich auf den zweiten Blick, dass diese Zunahme der Motivation nach zwei bis vier Wochen wieder abnimmt – spätestens dann, wenn Lerner merken, dass es doch nur ums Lernen geht. Und so leidet dieses Digitalisierungsargument an der Unkenntnis der Grammatik des Lernens, dass Lernen Motivation erfordert, aber im Kern und auf Dauer eben keine Motivation, die außerhalb des Lernens liegt, sondern eine, die auf die Sache gerichtet ist, die es zu lernen gilt.

Fünftens erfordert Lernen Oberflächenverständnis, um Tiefenverständnis entwickeln zu können. In Zeiten von Alexa und Siri mag für viele unstrittig sein, dass dank Digitalisierung Menschen kein Faktenwissen mehr brauchen. Wissen ist jederzeit und überall verfügbar, so dass sich Schüler voll und ganz auf die Kompetenzentwicklung konzentrieren können. Diese Argumentation verkennt den Unterschied zwischen Faktenwissen und Klugheit sowie den Zusammenhang von Oberflächenverständnis und Tiefenverständnis, wie er in der Didaktik seit jeher bekannt ist. Damit Lerner in den Bereich des Tiefenverständnisses kommen können, der als sinnstiftendes, kreatives und problemlösendes Denken das Ziel von Bildung darstellt, müssen sie ein gewisses Maß an reproduzierbarem Wissen erworben haben. Allein zu wissen, wo etwas steht und wo eine Information aufzufinden ist, reicht nicht aus. Tiefenverständnis basiert auf Oberflächenverständnis. Und damit Schüler das weiterverarbeiten können, müssen die Fakten im Kopf sein – und nicht in Rechnern.

Es könnten noch viele weitere solcher Grundsätze des Lernens angeführt werden, aber die Kernbotschaft ist sichtbar: Solange wir Menschen Menschen sind, solange bleibt Lernen Lernen. Daran wird auch eine Digitalisierung nichts ändern. Und jeder, der das behauptet und forciert, verkennt den Menschen und macht aus Menschen Maschinen. Das mag durchaus für so manchen ein Ziel sein, den Homo sapiens durch den Homo digitales zu ersetzen oder zumindest „upzugraden“ – nach dem Motto: Die Künstliche Intelligenz ist die Lösung für die menschliche Dummheit. Aber dann reden wir nicht mehr von Bildung, sondern von Programmierung. Und es zählt nicht mehr das, was ich aus meinem Leben gemacht habe, sondern das, was man aus mir gemacht hat. Wenn wir aber weiterhin von Menschen und ihrer Bildung reden, dann lohnt die Beachtung der Grammatik des Lernens.

Der Autor studierte von 1996 bis 2001 das Lehramt an Grundschulen und war von 2004 bis 2009 als Grundschullehrer tätig. Er ist seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

Weitere Veröffentlichungen:

„Das, was für einen guten Unterricht unverzichtbar ist, das gemeinsame Gespräch über die Stoffinhalte, bleibt auf der Strecke.“

Entzaubert

Am Ländervergleich schulischer Leistungen wird deutlich, dass das „längere gemeinsame Lernen“ die damit verbunden positiven Erwartungen nicht erfüllt.

5.8.2018, von Rainer Werner, Berlin

Rainer Werner war Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Er ist Verfasser des Buches „Auf den Lehrer kommt es an“, siehe Bücherliste. Rainer Werner hält Vorträge zu pädagogischen Themen und berät Schulen bei der inneren Schulreform.

Fast jeder vierte Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Diese ethnische Vielfalt bildet sich in keiner anderen Institution so sichtbar ab wie in der Schule. Kinder aus aller Herren Länder lernen gemeinsam mit deutschen Kindern. Die Vielfalt der Herkunftssprachen ist enorm. Alle Schüler bringen die geistigen und kulturellen Prägungen mit, die sie im Elternhaus und in ihrem sozialen Milieu erworben haben. Heute lautet die Gretchenfrage der Pädagogik: Wie kann man die Vielfalt an Begabungen, sprachlichem Vermögen, sozialem Verhalten und kulturellen Prägungen pädagogisch so handhaben, dass für jedes Kind das optimale Lernergebnis herauskommt. Nicht-Pädagogen, die zum ersten Mal eine quirlige Multi-Kulti-Klasse live erleben, erscheint diese Aufgabe als die Quadratur des Kreises. Sie empfinden die Lehrkraft auf einer „mission impossible“. Doch die Lehrkräfte wissen sich offensichtlich zu helfen. Darum gelingt auch der Unterricht im ganzen Land überwiegend konfliktfrei. Auf einem anderen Blatt steht jedoch die Frage, wie sich der Umgang mit der heterogenen Schülermischung in den Lernergebnissen niederschlägt.

Rot-grüne Bildungspolitiker glauben, das Erfolgsrezept für heterogene Schulklassen gefunden zu haben: im „längeren gemeinsamen Lernen“. Dieses Konzept führt das in der Grundschule praktizierte gemeinsame Lernen bis zur 10. Klasse der Sekundarstufe I fort. Die äußere Fachleistungsdifferenzierung, die Schüler nach ihren Fähigkeiten in Kurse mit unterschiedlichem Anspruchsniveau einordnet, ist dabei verpönt. Die großen Unterschiede im Lernvermögen der Schüler sollen vor allem durch Binnendifferenzierung aufgefangen werden. Die Länder, in denen  CDU/CSU in unterschiedlichen Koalitionen regier(t)en, setzen  eher auf das herkömmliche  dreigliedrige System (Bayern) oder auf ein Zwei-Säulen-Modell (Thüringen, Sachsen), das den  integrierten  Schulformen (Mittelschule, Oberschule) Fachleistungskurse vorschreibt.

Der „Bildungsmonitor“ des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln bewertet regelmäßig die Qualität der Schulen aller Bundesländer und entwickelt daraus eine Rangfolge. Auch die PISA-Studie der OECD erlaubt die Ermittlung der Schulqualität der Bundesländer. In den letzten Jahren hat sich die Rangfolge der Länder relativ verfestigt. An der Spitze liegen Bayern, Sachsen und Thüringen, am Ende Bremen und Berlin. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen, wie in diesen Ländern der Unterricht in der Sekundarstufe I gehandhabt wird. Hier werden die Weichen gestellt, ob ein Schüler die Schule mit dem Mittleren Schulabschluss (MSA) oder ohne Abschluss verlässt. Bayern hat seine Spitzenstellung seit Jahren verteidigt, weil es unbeirrt vom Zeitgeist am gegliederten Schulsystem festhält. Das Gymnasium dürfen nur Schüler besuchen, die einen Notendurchschnitt von 2,33 in den Fächern Deutsch, Mathe, Heimat- und Sachunterricht vorweisen können. Anders als in den meisten Bundesländern, wo nur der Elternwille zählt, bietet diese Notenschwelle die Gewähr dafür, dass am Gymnasium eine relativ homogene Leistungskultur vorherrscht. Dass dann die Lernergebnisse gut ausfallen, kann einen Kenner nicht verwundern.

In Thüringen und Sachsen existiert ein Zweisäulen-Modell. Neben dem Gymnasium gibt es die „Oberschule“ (Sachsen) bzw. „Regelschule“ plus Gesamtschule (Thüringen). Die beiden integrierten Schulformen „Oberschule“ und „Regelschule“ bieten zwei Bildungsgänge an, die zum Haupt- oder Realschulabschluss führen. Da die beiden Schulformen keinen gymnasialen Zug haben, ist die Schülerschaft relativ homogen. Die Gesamtschule, die es in Thüringen zusätzlich gibt, kann den Spagat zwischen Kindern mit Hauptschul- und Gymnasialempfehlung nur meistern, indem sie die Schüler, wie es an dieser Schulform seit jeher üblich ist, in Fachleistungskursen unterrichtet. Diese klare Trennung von Gymnasium und integrierter Schulform hat mit zu den guten Leistungen der beiden Bundesländer beigetragen.

Anders sieht es in Berlin aus. Neben dem Gymnasium gibt es seit 2010 die Integrierte Sekundarschule. In dieser Schulform sind auch die zahlreichen Berliner Gesamtschulen aufgegangen. Da gerade in Berlin die Heterogenität der Schülerschaft enorm ist, muss der Unterricht differenziert werden. Diese Differenzierung kann unterschiedlich realisiert werden: durch die Einrichtung von Kursen auf verschiedenen Leistungsstufen oder durch Binnendifferenzierung in gemischten Lerngruppen. Die Berliner Schulverwaltung verzichtet darauf, den Schulen die Differenzierungsmethode vorzuschreiben, die am meisten Erfolg verspricht. Stattdessen heißt es im „Berliner Schulgesetz“: „Über Beginn und Formen der Leistungsdifferenzierung entscheidet jede Schule im Rahmen ihres Schulprogramms. Eine Verpflichtung zur äußeren Fachleistungsdifferenzierung besteht nicht“. (§ 22, 4) Im wichtigen Fach Deutsch dürfen sich die Schulen sogar bis zur 9. Klasse Zeit lassen, bevor sie überhaupt leistungsdifferenziert unterrichten müssen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Kollegien, denen vor allem die „soziale Gerechtigkeit“ am Herzen liegt, für die Binnendifferenzierung entscheiden, obwohl Erfahrung und Evidenz des Unterrichts ihnen zeigen müssten, dass das Unterrichten in homogenen Lerngruppen besser gelingt.

Warum ist die Fachleistungsdifferenzierung der Binnendifferenzierung überlegen?

In den Klassen des integrierten Systems ist die Spreizung der Lernvoraussetzungen, des Vorwissens und der Lernmotivation, bei den Schülern gewaltig. Sie stellt den Lehrer vor große methodische Herausforderungen. Es ist nämlich keineswegs leicht, jeden Lernstoff so aufzubereiten, dass er allen Lernniveaus gerecht wird. Binnendifferenzierung gehört zu den schwierigsten Handwerkstechniken eines Lehrers. Und es ist ein zeitlich aufwendiges Verfahren, jedes Unterrichtsmaterial in drei Niveaustufen aufzubereiten. Viele Lehrer begnügen sich deshalb damit, Unterrichtsangebot und Schwierigkeitsgrad auf das mittlere Niveau in der Klasse abzustellen, also auf die Schüler, die die Mehrheit bilden. Die besonders leistungsstarken Schüler bekommen dann nur ungenügende Lernanreize, die leistungsschwachen erhalten nicht die Förderung, derer sie bedürfen. Dies ist leider der pädagogische Alltag an vielen Sekundarschulen.

Gruppenunterricht mit verschiedenen Anforderungsniveaus ist nur ein schwacher Notbehelf. Die Kluft im Leistungsvermögen der Schüler bleibt ja bestehen. Sie wird spätestens dann wieder offen zutage treten, wenn es gilt, die in den Gruppen gewonnenen Lernergebnisse im anschließenden Klassengespräch zusammenzuführen. Mit den unterschiedlichen Lernniveaus so umzugehen, dass alle Schüler einen Lernzuwachs erfahren, erfordert ein hohes Geschick in der Gesprächsführung. Weil dies in heterogenen Gruppen so schwierig ist, begnügen sich viele Lehrer mit der Erarbeitung des Lernmaterials in den Arbeitsgruppen. Sie hoffen, dass das Erarbeitete auch ohne Vertiefung durch die abschließende Diskussion „hängen bleibt“. Das Prinzip Hoffnung ersetzt eine wirkungsvolle Unterrichtstechnik. Das, was für einen guten Unterricht unverzichtbar ist, das gemeinsame Gespräch über die Stoffinhalte, bleibt auf der Strecke.

Es könnte so einfach sein, wenn Bildungspolitiker ihre Parteitagsmanifeste und Gesellschaftsutopien beiseiteließen und ausschließlich das Wohl der Schüler im Auge hätten. Was ist für sie das beste Lernprinzip? In welchen Lerngruppen fühlen sie sich am wohlsten? Ich habe an der Gesamtschule erlebt, wie entspannt man in den homogenen Lerngruppen unterrichten kann, die durch äußere Leistungsdifferenzierung zustande kommen. Ich habe zugleich erfahren, wie wohl sich die Schüler inmitten gleich leistungsstarker Schüler fühlen. Gerne habe ich auch in den Kursen unterrichtet, die von den besonders schwachen Schülern gebildet werden. Wenn man sich auf ihr Verständnisniveau und auf ihre Mentalität einlässt und wenn man ihnen jede mögliche Unterstützung zuteilwerden lässt, werden die Erfolge nicht ausbleiben. In diesen Lerngruppen hatte ich nie das Gefühl, gegen die „soziale Gerechtigkeit“ zu verstoßen, weil ich sie alleine, also „selektiv“, unterrichtete. Im Gegenteil: Die Schüler waren entspannt, weil sie nicht mit den „Überfliegern“ zusammen waren, deren Geistesblitze sie allzu oft als Demütigung empfanden. Und sie wussten es zu schätzen, dass der Lehrer auch ihren Ehrgeiz herausforderte. Manchmal ist soziale Gerechtigkeit dort finden, wo man sie gar nicht vermutet.

2008 startete die Kultusministerkonferenz die Kampagne „Aufstieg durch Bildung – Die Qualifizierungsoffensive für Deutschland“. Darin werden die Bundesländer aufgefordert, in ihren Schulen Voraussetzungen zu schaffen, jedem Kind in Deutschland einen Schulabschluss zu ermöglichen. Von diesem Ziel hat sich unser Land in den letzten Jahren immer weiter entfernt. 2015 betrug die Zahl der Schüler ohne Schulabschluss 5,9 Prozent gegenüber 5,7 Prozent (2014) und 5,6 Prozent (2013). Solange die Qualitätsoffensive der KMK die Unterrichtsmethoden in den schlecht abschneidenden Bundesländern nicht in den Blick nimmt, wird sich daran wenig ändern.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zum Artikel und seiner Website:  https://guteschuleblog.wordpress.com/2018/08/05/entzaubert/

Eine ganze Kleinstadt ohne Schulabschluss

Deutschlandweit summiert sich das Scheitern an der Schule zu rund 47.000 Jugendlichen. Jährlich. Anders gesagt: Das Land leistet sich in jedem Jahr die Einwohnerschaft einer kompletten Kleinstadt, die allenfalls zu Aushilfsjobs in der Lage ist. (Aus: Tagesspiegel, 13.05.2017, Werner van Bebber, Eine ganze Kleinstadt ohne Schulabschluss)

Berliner Quote der Schulabbrecher:  Jeder Zehnte verlässt die Sekundarschule ohne Abschluss – fast doppelt so viele Schüler wie im Bundesdurchschnitt.