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„Ich lese nur, wenn ich muss“

Sie mögen den Satz nur, wenn er kurz ist

Laut der neuen Pisa-Studie hält jeder dritte Jugendliche in Deutschland das Lesen für reine Zeitverschwendung/Von Heike Schmoll, Berlin

Deutsche Schüler gehören zu den größten Lesemuffeln bei der Pisa-Studie. Das dürfte auch daran liegen, dass sie das Lesen einfach zu schlecht beherrschen. Wenn jeder fünfte 15 Jahre alte Jugendliche nur einfache Satzkonstruktionen ohne Nebensätze und mit schlichten Aussagen versteht, macht es natürlich keine Freude, komplexe Texte zu lesen – schon gar nicht freiwillig. Die Schüler liegen beim Lesen zwar über dem OECD-Durchschnitt, lesen aber erheblich schlechter als Schüler in Estland, Kanada und Finnland. Zum hundertsten Geburtstag hat sich Finnland selbst eine Nationalbibliothek geschenkt.

In Deutschland liest die Hälfte der Jugendlichen nicht zum Vergnügen. 50,3 Prozent der 15 Jahre alten Jugendlichen stimmen der Aussage zu „Ich lese nur, wenn ich muss“. Bei den Jungen sind es sogar 60,6 Prozent, bei den Mädchen 36 Prozent. 34,2 Prozent aller deutschen 15-Jährigen sehen das Lesen als Zeitverschwendung und 54,5 Prozent lesen nur, um Informationen zu bekommen, die sie brauchen. All diese Werte sind deutlich ungünstiger als im OECD-Durchschnitt. Nur 26,5 Prozent bezeichnen Lesen als eines ihrer liebsten Hobbys. Dieser Wert liegt deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 42 Prozent […]

Nur eine sehr kleine Gruppe von fünf Prozent der 15 Jahre alten Jugendlichen liest täglich zwei Stunden zum Vergnügen. Die meisten Schüler lesen nur für die Schule und in der Schule, außerhalb kaum.

Die Förderung der Lesemotivation und des Leseverhaltens müsse in der Vorschulzeit beginnen und dann über die gesamte Schulzeit fortgeführt werden, schreiben die Forscher. Die Koordinatorin der deutschen Pisa-Erhebung, die Mathematikprofessorin Kristina Reiss von der TU München, verwies auch auf die Lesefähigkeit am Ende der Grundschulzeit.

Wer am Ende der vierten Klasse nicht sicher lesen könne, lerne das auch nicht bis zum 15. Lebensjahr, zumal die weiterführenden Schulen nicht darauf vorbereitet seien, Lesetechniken zu vermitteln.

Deutlich mehr Lesemuffel

Im Vergleich zur letzten Pisa-Studie mit dem Schwerpunkt Lesen aus dem Jahr 2009 ist der Anteil der Lesemuffel in Deutschland noch einmal erheblich gestiegen. Warum die ohnehin schon gering ausgeprägte Lesefreude in den vergangenen neun Jahren noch einmal stark abgenommen hat, ist unklar. Durch die digitalen Möglichkeiten, das Lesen im Internet, Websites, Suchmaschinen und soziale Medien haben sich auch die Aufgabenformate bei Pisa verändert. Der Leseprozess ist zumeist in übergeordnete Handlungsziele eingebettet – es geht nicht nur darum, Informationen zu finden, sondern auch um Textverstehen, Kombination und Schlussfolgerungen sowie um die Einschätzung von Glaubwürdigkeit und Qualität des Textes und das Bewerten von Form und Inhalt, also um Lesen im Internet. Auch die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit war zu leisten, Widersprüche sollten entdeckt werden. Getestet haben die Forscher auch die Leseflüssigkeit. Die Tests wurden am Computer ausgeführt und nahmen etwa zwei Stunden in Anspruch. Beim Online-Lesen haben sich in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen ergeben. So hat das Chatten an Beliebtheit noch zugenommen und übertrifft die E-Mail, die stetig an Bedeutung verliert. Diese Veränderungen sind in allen OECD-Staaten zu beobachten. Nur jede fünfte Schule in Deutschland hat bisher ein Konzept zur Kooperation von Lehrern beim Einsatz digitaler Medien, nur 13 Prozent der Schulleitungen planen für ihre Lehrer Zeit ein, um einen Unterricht mit diesen Medien entsprechend vorzubereiten.

Aufschlussreich ist, dass 15 Jahre alte Schüler an nicht gymnasialen Schulformen mehr Zeit mit digitalen Medien verbringen als Gleichaltrige am Gymnasium. Besonders viele schwache Leser finden sich – nicht überraschend – in den nichtgymnasialen Schulformen, es sind wieder deutlich mehr als bei der letzten Pisa-Studie mit Schwerpunkt Lesen, der Anteil liegt jetzt bei 29,2 Prozent.

Insgesamt liegen 21 Prozent der 15-jährigen auf den untersten Kompetenzstufen [Kompetenzstufe I], können also nur einfache Sätze und nur wenige Informationen entnehmen.

Stufe I: Oberflächliches Verständnis einfacher Texte
(Skalenwerte 335–407)
Schülerinnen und Schüler, die über Kompetenzstufe I nicht hinauskommen, verfügen lediglich über elementare Lesefähigkeiten. Sie können mit einfachen Texten umgehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Die zur Bewältigung der Leseaufgabe notwendige Information im Text muss deutlich erkennbar sein, und der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten. Es können nur relativ offensichtliche Verbindungen zwischen dem Gelesenen und allgemein bekanntem Alltagswissen hergestellt werden. Kompetenzstufen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften

In Estland liegt der Anteil der schwachen Leser bei nur elf Prozent, in Irland bei zwölf Prozent und in Finnland und Kanada bei jeweils 14 Prozent. Die Förderung besonders leseschwacher Schüler müsse über alle Schularten hinweg in Angriff genommen werden. „Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten, dass eine Unterstützung der Leistungsspitze eine zentrale Aufgabe bleibt“, schreiben die Forscher. Die Streuung, also die Unterschiede zwischen den stärksten und schwächsten Lesern, sind in Deutschland noch erheblich gewachsen. Das gilt aber selbst für Länder mit guten Ergebnissen wie Finnland. Schüler in Deutschland verfügen über das höchste Lesestrategiewissen im gesamten OECD-Vergleich, doch sie scheinen es nicht anwenden zu können. Sie wissen, dass es sinnvoll sein kann, die wichtigsten Sätze im Text zu unterstreichen und die Kernaussagen anschließend in eigenen Worten zusammenzufassen. Offenkundig wurde viel Zeit in die Vermittlung von Lesestrategien verwendet, aber wenig in Übungsphasen.

Erfreulich ist, dass die Gruppe der sehr guten Leser deutlich gewachsen ist, was vor allem für Gymnasiasten gilt. An nichtgymnasialen Schularten ist aber auch der Anteil schwacher Leser gewachsen. Die Gruppe der Spitzenleser liegt in Deutschland bei elf Prozent, in Kanada sogar bei 15 Prozent und in Estland und Finnland bei 14 Prozent. In Singapur soll sie sogar bei 26 Prozent liegen, doch dort kann es sich auch um eine Positivauswahl von Schülern handeln. Die Mädchen lesen deutlich besser als die Jungen, das gilt für alle OECD-Länder. In Deutschland nahmen an 223 Schulen insgesamt 5451 Schüler aller Schularten teil. Die Stichprobe ist repräsentativ. Mit einer Beteiligung von mehr als 99 Prozent der 15 Jahre alten Schüler ist Deutschland ein Musterland. Selbst in einem Spitzenland wie Estland liegt die Beteiligung deutlich niedriger, bei 93,1 Prozent. Es kann aber sein, dass Estland die Schüler mit Muttersprache Russisch nicht beteiligt hat – denn für sie ist Estnisch die erste Fremdsprache, Englisch kommt dann noch hinzu. Besonders niedrig ist die Beteiligung in Albanien (45,8 Prozent), in Kolumbien (61,9 Prozent) in Mexiko (66,4 Prozent) und in Kanada (86,3 Prozent).

Das Elternhaus entscheidet

Bei Pisa 2018 zeigte sich bei den Schülern mit Migrationshintergrund eine deutlich heterogenere Gruppe. Während 2009 noch viele Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion, der Türkei und Polen stammten, sind es inzwischen viele aus „anderen Herkunftsländern“, also aus Syrien, dem Kosovo und Rumänien. Während sich die Lesekompetenz von Mitgliedern der sogenannten ersten Generation von Migranten 2018 verschlechtert hat, verbesserte sich die Lesefähigkeit der zweiten Generation. Wie kaum eine andere Fähigkeit hängt die Lesekompetenz nicht nur in Deutschland mit dem sozioökonomischen und kulturellen Status der Herkunftsfamilie zusammen.

Der Leistungsunterschied im Bereich Lesekompetenz zwischen Schülern mit bildungsnahem und bildungsfernem Elternhaus ist beträchtlich und hat sich seit 2009 um neun Prozentpunkte ausgeweitet. Die privilegiertesten 25 Prozent der Schüler haben gegenüber den bildungsfernen 25 Prozent einen Leistungsvorsprung von 113 Punkten – das sind 24 Punkte mehr als im OECD-Durchschnitt.

Etwa zehn Prozent der sozioökonomisch benachteiligten Schüler haben es geschafft, zu den besten Lesern zu gehören, ebenso wie 16 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist ähnlich groß wie in der Schweiz, in Belgien, Frankreich und Luxemburg und liegt deutlich über dem OECD-Mittel. In Estland, Kanada, Norwegen, Finnland und Dänemark gelingt es deutlich besser, sozial bedingte Nachteile auszugleichen. Erfreulich ist, dass sich deutsche Schüler an ihren Schulen wohl fühlen, allerdings ist jeder sechste Schüler von Mobbing betroffen.

Wie im Lesen liegen die Jugendlichen in Deutschland auch in Mathematik über dem OECD-Durchschnitt, ihre Leistungen haben sich im Vergleich zur letzten Studie allerdings verschlechtert. In nicht-gymnasialen Schularten liegt die Gruppe der schwächsten Schüler bei 30 Prozent. In den Naturwissenschaften ergibt sich ein ähnliches Bild.


Einschub von Grafik und Tabelle durch Schulforum-Berlin:

Grafik aus: http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/PISA2018_CN_DEU_German.pdf

Die durchschnittlichen Leseleistungen sind in Deutschland nach den in der ersten Zeit – bis 2015 – erzielten Verbesserungen 2018 wieder in etwa auf das Niveau von 2009 zurückgefallen.

In Mathematik stiegen die Leistungen von 2003 bis 2012 an. Von 2012 bis 2018 fielen die Matheleistungen kontinuierlich. Die Ergebnisse von PISA 2018 waren deutlich unter jenen von 2012 und unter denen von 2003.

In Naturwissenschaften stiegen die Leistungen bis 2012 und fielen kontinuierlich bis 2018. Die mittlere Punktzahl in den Naturwissenschaften war 2018 niedriger als 2006.


Der Anteil der leistungsschwachen Schüler liegt etwa bei einem Fünftel. Wie in allen anderen Pisa-Staaten auch sind die Mädchen bessere Leser als die Jungen. Allerdings ist der Unterschied im Vergleich zum OECD-Schnitt kleiner. Das liegt daran, dass sich der Anteil der lesestarken Jungen verdoppelt hat und die Mädchen etwas schlechter wurden. In Mathematik und Naturwissenschaften indessen haben sich die Jungen erheblich verschlechtert, weshalb der Leistungsabstand zu den Mädchen geschrumpft ist. In den Naturwissenschaften sind jetzt beide Geschlechter gleich gut.

zum Artikel: F.A.Z. – POLITIK, 04.12.2019, Heike Schmoll, Sie mögen den Satz nur, wenn er kurz ist

Textauswahl in grau unterlegten Einschüben, Einfügen der Grafik und der Tabelle, Texthervorhebung im Fettdruck sowie Text kursiv durch Schulforum-Berlin.

siehe auch diesen Beitrag:
Sicher können deutsche Schüler mehr! Ein Kommentar zum mäßigen Abschneiden bei der PISA-Studie – aus Lehrersicht, von Michael Felten


Man kann alles schönreden

Aus der Pressemitteilung zur PISA-Studie, 03.12.2019, (OECD Programme for International Student Assessment, Technische Universität München):

15-Jährige auf gutem Niveau im Studienschwerpunkt Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften

PISA-Studie: Gute Ergebnisse im Lesen

15-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland können gut Texte verstehen, nutzen und bewerten. In der neuen PISA-Studie übertreffen sie mit ihren Lesefähigkeiten den Durchschnitt der Jugendlichen in den OECD-Staaten. Auch in Mathematik und Naturwissenschaften erreichen die deutschen Ergebnisse ein gutes Niveau. Allerdings ist an den nicht gymnasialen Schulen in allen Kompetenzbereichen der Anteil der Jugendlichen mit sehr geringen Fähigkeiten größer geworden. […]