Archiv für den Tag: 22. August 2018

„Schulstart im Krisenmodus“ – Die Bildungsdefizite fallen erst später auf!

In sieben Tagen zum Lehrer

In Berlin haben die meisten neu eingestellten Lehrer kein entsprechendes Studium absolviert. Vor allem die Schulen in Brennpunktvierteln trifft das. Von Heike Schmoll

Noch im Juni fehlten der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) mehrere hundert Lehrer. Nun seien die Lücken gefüllt, sagte sie wenige Tag vor Beginn des neuen Schuljahrs am Montag. Ein Grund zur Freude ist das jedoch nicht. Denn es handelt sich um eine heikle Notlösung. Von 1240 neu eingestellten Grundschullehrern erfüllen nur 362 die Anforderungen an einen ausgebildeten Elementarpädagogen. 389 sind Quereinsteiger, die berufsbegleitend das Referendariat durchlaufen sollen und die Mehrheit von 489 sind sogenannte Lovls (Lehrer ohne volle Lehrbefähigung). Das seien Kandidaten, die ein Fachstudium absolviert und teilweise auch Unterrichtserfahrung etwa an Universitäten hätten oder Lehrer aus Willkommensklassen, sagt Scheeres. Doch seit wann qualifiziert universitäres Lehren zur Alphabetisierung und zum Elementarunterricht? Die „Lovls“ werden zunächst für ein Jahr befristet eingestellt, über die Entfristung entscheidet der zuständige Schulleiter. Quereinsteiger müssen einen Master-, Diplom- oder Magisterabschluss in mindestens einem Fach haben, das einem Schulfach mit einem besonders hohen Bedarf entspricht. Sie werden in einem unbefristeten Angestelltenverhältnis eingestellt. Da Berlin nicht verbeamtet, werden einige Lehrer möglicherweise auch in andere Bundesländer abwandern. Der Direktor des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel, Olaf Köller, sagte dieser Zeitung, es sei offenkundig, dass dem Senat „die Unterrichtsversorgung wichtiger ist als die Unterrichtsqualität“. Zugleich warnte er davor, Probleme mit der Lehrerversorgung mit „unqualifiziertem Personal“ lösen zu wollen, weil die unzureichend ausgebildeten Lehrer für Jahrzehnte in der Schule verharrten und verbesserungswürdigen Unterricht hielten. Köller schlug vor, die bundesweit etwa 20 Schüler umfassenden Grundschulklassen um jeweils vier Schüler zu erhöhen, wenn damit der Unterricht durch eine ausgebildete Grundschullehrkraft gesichert werden könnte. Dass dieser Vorschlag wenig wahlkampftauglich ist, weiß der Bildungsforscher.

Es sei absurd, meint Köller, dass Grundschullehrer einerseits fünf Jahre lang studierten und die Länder andererseits glaubten, Quereinsteiger in wenigen Tagen mit Crashkursen das grundlegende Handwerk vermitteln zu können, das schon die Voraussetzung für ein Referendariat bilden soll. In Berlin jedenfalls dauert der Crashkurs nur sieben Tage. In den ersten acht Wochen wird ihnen ein erfahrener Lehrer, etwa ein Pensionär, zur Seite gestellt, doch das wird nicht reichen, um mit Störungen und anderen Problemen des Schulalltags professionell umzugehen, ohne selbst dabei unterzugehen. Der Elternverband in Berlin hat an die Bildungssenatorin appelliert, wenigstens in den ersten beiden Klassenstufen nur Profis einzusetzen, doch das wird ein frommer Wunsch bleiben. Die vorhandene Zahl der ausgebildeten Grundschullehrer reicht dafür nicht.

Hinzu kommt in Berlin, dass ausgerechnet die Brennpunktschulen die meisten Quereinsteiger aufweisen. Das Personal der Sonnen-Grundschule hat am Freitag vor dem Gebäude der Senatsverwaltung für Bildung, Schule und Familie protestiert. Denn auch im neuen Schuljahr wird der Anteil der Quereinsteiger in dieser Schule in Neukölln, die im Frühjahr einen Brandbrief veröffentlichte, bei 50 Prozent liegen. „ Es drängt sich der Gedanke auf, dass Bildung in Berlin keinen ausreichenden Stellenwert bekommt“, heißt es in dem Aufruf zur Protestkundgebung. Das Kollegium halte es für „fahrlässig, angehende Lehrer an so belasteten Schulen“ auszubilden, denn das Problem lande ohnehin wieder bei den Langzeitbelasteten, die nebenbei noch einem jungen Kollegen das Handwerkszeug und die Freude am künftigen Beruf vermitteln sollten. Das Kollegium hat deshalb schon im Mai zwei Entlastungsstunden für die Einarbeitung von Quereinsteigern gefordert.

Da sich Lehrer in Berlin auch direkt an Schulen bewerben können, sind die in den begehrten Vierteln selbstverständlich mit qualifizierterem Personal ausgestattet. Denn kein Lehramtsanwärter geht freiwillig an eine Brennpunktschule, wenn er eine Alternative hat. Von dreihundert Euro Brennpunktzulage bleibt nach Versteuerung kaum etwas übrig. Die Berichte von früheren Kollegen, die massive gesundheitliche Probleme bis hin zum Burnout hatten, tun ihr Übriges. […]

zum Artikel:  FAZ, 18.08.2018, Heike Schmoll, In sieben Tagen zum Lehrer

Berliner Pressemeldungen zum Schulbeginn 2018/19:

Berliner Zeitung, 13.08.2018, „Uns fehlt noch die Pädagogik“ Elisabeth Fleischhauer wird über Nacht zur Lehrerin, https://www.berliner-zeitung.de/berlin/-uns-fehlt-noch-die-paedagogik–elisabeth-fleischhauer-wird-ueber-nacht-zur-lehrerin-31098476

Tagesspiegel, 14.08.2018, Neustart mit Altlasten, https://www.tagesspiegel.de/berlin/schule/ausblick-aufs-neue-schuljahr-in-berlin-neustart-mit-altlasten/22908642.html

Tagesspiegel, 15.08.2018, Letzte Reserven – Was tun die Bundesländer gegen Lehrermangel, https://www.tagesspiegel.de/wissen/bildungspolitik-was-tun-die-bundeslaender-gegen-den-lehrermangel/22913094.html

TAZ, 15.08.2018, Masse statt Klasse, http://www.taz.de/!5527614/

Berliner Zeitung, 15.08.2018, Nicht mal Quereinsteiger – Nur jeder dritte neue Lehrer hat Lehramt studiert, https://www.berliner-zeitung.de/berlin/nicht-mal-quereinsteiger-nur-jeder-dritte-neue-lehrer-hat-lehramt-studiert-31112440

TAZ, 15.08.2018, Am Mangel schrauben, http://www.taz.de/!5525079/

Deutschlandfunk, 15.08.2018, Bildungsforscher: Lehrermangel noch mindestens bis 2025, https://www.deutschlandfunk.de/grundschulen-bildungsforscher-lehrermangel-noch-mindestens.694.de.html?dram:article_id=425491

Tagesspiegel, 16.08.2018, Nur ein Drittel der neuen Lehrer sind auch richtige Lehrer, https://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-schulen-nur-ein-drittel-der-neuen-lehrer-sind-auch-richtige-lehrer/22914962.html

Tagesspiegel, 17.08.2018, So schlimm ist der Lehrermangel wirklich, https://www.tagesspiegel.de/berlin/das-schuljahr-2018-19-in-berlin-so-schlimm-ist-der-lehrermangel-wirklich/22921968.html

Berliner Zeitung, 18.08.2018, Berliner Schulleiterin im Brennpunkt gibt auf – Offene Stellen können nicht besetzt werden, https://www.berliner-zeitung.de/berlin/schoeneberg-schulleiterin-im-brennpunkt-gibt-auf—doris-unzeitig-verlaesst-berlin-31129044

Berliner Morgenpost, 20.08.2018, So lief der erste Schultag in Berlin – Zum Schulstart befinden sich viele Gebäude noch in einem provisorischen Zustand. https://www.morgenpost.de/berlin/article215137441/So-lief-der-erste-Schultag-in-Berlin.html

„Der Zustand der Berliner Bildungspolitik belastet zunehmend das Fundament der Gesellschaft“