Archiv für den Monat: April 2020

Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht

Die postulierte digitale Bildungsrevolution frisst ihre Kinder und Familien.

Warum digitales Lernen auch in Krisenzeiten nur ein Notstopfen bleibt.

Jochen Krautz

Prof. Dr. Jochen Krautz lehrt Kunstpädagogik an der Bergischen Univesität Wuppertal und ist Präsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Krisenzeiten sind Zeiten, in denen interessierte Kreise gerne versuchen, aus der Not Profit zu schlagen. Dieser Profit kann materieller oder ideologischer Natur sein. Im Falle der Corona-Krise gerieren sich die bekannten Befürworter der „Digitalisierung von Bildung“ als solche ideologischen und materiellen Krisengewinnler. Nun scheint endlich bewiesen, wie dringlich die Umstellung von Schule und Hochschule auf digital gestütztes Lehren und Lernen sei. Und seitens der Politik entblödet man sich nicht, dies auch noch zu forcieren.

Corona-Krise als Change-Instrument für Digitalisierung

So äußerte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, die selbst keine eigene Fachexpertise in beiden Bereichen nachweisen kann, auf die Frage, ob sich nun räche, „dass wir die Digitalisierung an den Schulen verschlafen haben?“: „Die Corona-Krise bietet Deutschland in Sachen digitaler Bildung eine große Chance: Wir können einen echten Mentalitätswandel schaffen. Wir sehen, wie nützlich digitale Lernangebote sein können. Alle sind jetzt bereit, es einfach mal auszuprobieren. Ich sehe eine neue Aufbruchsstimmung. (…) Aber auch nach der Krise muss die Digitalisierung der Schulen energischer vorangetrieben werden.“[1] Damit macht sie deutlich, worum es geht: Die Krise soll als Instrument genutzt werden, um Mentalität, also Einstellungen, Werte und Überzeugungen aufzuweichen und für den „Wandel“ zu öffnen. Dazu soll Euphorie erzeugt werden, die dann auch nach der Krise aufrechtzuerhalten und zu perpetuieren sei.

Damit referiert Karliczek lupenrein den Dreischritt des Change-Managements: Um Menschen manipulativ in ihren Überzeugungen zu verändern, erzeugt oder nutzt man eine Schocksituation, der eine Verunsicherung in den eigenen Überzeugungen bewirkt (unfreezing). Darauf forcieren Change-Agenten die Euphorie für das Neue, betonen dessen Alternativlosigkeit und geißeln alle Kritiker als rückständige Bedenkenträger (moving). Und schließlich soll der „Wandel“ verstetigt werden, so dass es keinen Weg dahinter zurück zu geben scheint (refreezing).[2] Die darin liegende antidemokratische Anmaßung wird der Ministerin kaum bewusst sein, da sie doch eher Diskurse reproduziert, von denen sie selbst beständig bombardiert wird. So etwa auch von „Mr. PISA“ Andreas Schleicher, der mit maoistisch-kulturrevolutionärer Rhetorik glänzt: „Das Land kann beim digitalen Lernen jetzt einen Riesensprung nach vorn machen.“[3]

Was das Arbeitsblatt nicht kann und die Eltern überfordert

Doch selbst Herr Schleicher gesteht gleich darauf ein: „Schule im Homeoffice (ist) dauerhaft keine gute Idee. Lernen ist ein Prozess, der viel mit der Beziehung von Lehrern und Schülern zu tun hat. Und für diese Beziehung braucht es echten Kontakt.“

Aber auch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Warum also braucht Lernen – und wir präzisieren – bildendes Lernen Schule und Unterricht in Realpräsenz? Warum sind Eltern damit auf Dauer grundsätzlich überfordert?[4] Und warum können dies auch Lehrerinnen und Lehrer beim besten Willen nicht über digitale Kommunikation leisten und Lernprogramme entsprechender Konzerne erst recht nicht?

Das liegt in der Natur des Arbeitsblattes, das per Mail als pdf ins Haus kommt, der im Chat kommunizierten Aufgabe, der im Download von Verlagen (generös kostenlos) verfügbaren Selbstlernmaterialien und auch avancierter interaktiver Lernprogramme. Sie alle können wie deren Vorläufer im „programmierten Lernen“ der 1970er Jahre nur schrittige Anweisungen geben, die aber keinen interpersonalen Dialog und keine empathische Resonanz ermöglichen. Die Techniken können so tun als ob und ein „Feedback“ vorsehen, das aber nicht auf die Verstehensvorgänge des einzelnen Schülers Bezug nehmen kann. Arbeitsmaterialien solcher Art sind also zunächst materialisierter Frontalunterricht der schlechten Art, wie man ihn dem Klassenunterricht der Schule gerne und zu Unrecht unterstellt: Hier wird doziert, auswendig gelernt, ggf. geübt und abgefragt. „Lernen“ heißt hier Informationsentnahme, -verarbeitung und ggf. -anwendung.

Mit nun auftretenden tatsächlichen Verstehensproblemen wenden sich die Kinder an ihre Eltern. Diese sind jedoch mit der Unterstützung schnell überfordert, weil ihnen die fachliche, didaktische und pädagogische Expertise fehlt, auf die Verstehensprobleme ihrer Kinder sachadäquat und altersgerecht einzugehen. Denn dazu müsste man das fachliche Problem nicht nur selbst beherrschen, sondern in seiner Problemstruktur verstanden haben, um es didaktisch auf die notwendigen fachlichen Voraussetzungen und Problemlagen analysieren zu können; man müsste Wege des fachlichen Verständnisses und auch Missverstehens kennen, deren mögliche Gründe einschätzen können und beim Kind mit Blick auf bisher Gearbeitetes und durch Gespräche eruieren, welchen fachlichen Grund eine Schwierigkeit hat. Zugleich müsste man die individuelle Lernhaltung des Kindes, den persönlichen Hintergrund und seine Lerngeschichte in diesem und anderen Fächern einschätzen, um dann sowohl fachlich wie didaktisch und pädagogisch angemessenen reagieren zu können.

All das können Eltern gewöhnlich nicht – und sie müssen es auch nicht können. Dafür sind Lehrerinnen und Lehrer da, dafür gibt es Schule und Unterricht. Dafür absolvieren Lehrkräfte ein langes Fachstudium, dafür erwerben sie pädagogische Expertise, dazu sammeln sie reflektierte Erfahrung in diesen Situationen, und deshalb können sie nach Jahren solche Prozesse im laufenden Unterrichtsgeschehen einer ganzen Klasse in Sekunden erfassen, abwägen, entscheiden und umsetzen. Eben das macht Unterrichten so anspruchsvoll und mitunter anstrengend – noch vor allen sonstigen Herausforderungen. Und zugleich ist das für die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer der eigentliche Grund ihres pädagogischen Engagements.

Legen wir nochmals den ambitionierten Wochenplan mit Arbeitsblättern, Lösungs- und Reflexionsbögen sowie Lerntagebuch und Leistungsportfolio daneben: Kinder sollen all das nun alleine leisten? Arbeitsblätter sollen dialogisch auf ihr Verstehen und Nichtverstehen eingehen? Feedbackbögen sollen ermutigen, ermahnen, Verständnis zeigen, mit Klarheit oder Humor zurück zur Sache leiten? Videochats sollen das gemeinsame und dialogische Hören, Sehen, Vorstellen, Überlegen, Nachdenken, Ideenfinden und –verwerfen in einer realen Klassengemeinschaft ersetzen? Das wird auch keine K.I. in Gestalt von Lehrrobotern jemals können.

Doch Eltern bemerken schmerzhaft, dass nun erstmalig die postulierte digitale Bildungsrevolution ihre Kinder und Familien frisst. Auch der „große Sprung nach vorn“ des großen Vorsitzenden endete in der Zerschlagung von kultureller Tradition, in der Entwurzelung von Millionen Menschen und einem ökonomischen Desaster. Brauchen wir das erneut im Gewand des schicken iPads?

Unterricht muss Verstehen anleiten

Die Schule ist deshalb ein geeigneterer Ort für die formulierten Aufgaben, weil im guten Falle der Unterricht die Sache in sozialer Gemeinschaft erschließt.[5] Unterricht, der auf Bildung zielt, versucht mit didaktischen und pädagogischen Mitteln, die Schülerinnen und Schüler zum selbstständigen Verstehen einer Sache anzuleiten.[6] Selbstständiges Verstehen ist aber nicht gleichzusetzen mit der vermeintlich selbstständigen Erledigung von wie digital auch immer übermittelten Arbeitsaufträgen oder gegoogelten Informationen. Damit ist die Sache noch nicht erschlossen, d.h. in ihren Gründen verstanden: Entscheidend ist nicht nur, dass eine mathematische Rechnung richtig ist, sondern warum sie das ist. Die Inhaltsangabe einer Fabel ist nur Voraussetzung, um ihren Gehalt zu interpretieren. Ein historisches Datum sagt noch nichts über dessen Bedeutung für uns heute. Ein biologisches Faktum zu benennen, heißt noch nicht seine Relevanz für Mensch, Tier, Welt und Wissenschaft verstanden zu haben. Und ein Kunstwerk zu beschreiben, sagt noch nichts über dessen historischen und gegenwärtigen Sinn.

Verstehen meint also Sinnverstehen. Sinn meint dabei den Sinn der Sache und den Sinn für uns, die Lernenden. Was geht uns das an? Was bedeutet uns das? Erst dann kann Lernen bildend wirken. Und erst dann löst Schule den in den Verfassungen als Bildungsauftrag verankerten Anspruch der Aufklärung ein, dass junge Menschen lernen sollen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, also Selbsterkenntnis und Urteilskraft erwerben, und dass sie Werte wie Mitmenschlichkeit, Achtung und Friedfertigkeit als Haltungen ausbilden und begründen können – mit einem Wort: dass sie mündig werden.

Daher operieren Digitalisierungsbefürworter immer mit einem ungeklärten und reduktionistischen Lernbegriff, denn „digitales Lernen“ kann immer nur die Schrumpfform dieses Anspruchs sein. Es läuft letztlich darauf heraus, aufgrund von Reiz und Reaktion Informationen zu beschaffen, auszuwerten, zusammenzustellen, anzuwenden und/oder auswendig zu lernen. Das sind alles unverzichtbare und legitime Teilprozesse schulischen Lernens. Aber eben nur der notwendige Teil, um verantwortliche Selbstständigkeit im Denken und Urteilen, im Sagen und Handeln zu bilden. Dies aber ist per digitalen Medien nicht erreichbar. Auch wenn man diesen Reduktionismus nachsichtig dem Marketingeifer der Digitalbegeisterten zuschreiben mag, so ist er doch unpädagogisch, antiaufklärerisch und widerspricht dem Bildungsauftrag der Verfassungen.

Schule ist ein sozialer Raum

Die besondere Qualität solchen Verstehens ist dabei gebunden an das soziale Miteinander von leibhaftigen Personen. Es kann sich nur bilden, wenn sich Menschen wechselseitig wahrnehmen, wenn eine Klassengemeinschaft an einer Sache gemeinsam arbeitet, wenn Ideen entstehen, geäußert, diskutiert, begründet oder verworfen werden, wenn gezeigt, erklärt, mit Händen und Füßen vorgemacht und veranschaulicht wird, wenn zugleich gestritten und versöhnt wird, wenn Auseinandersetzungen geklärt, ein sozial konstruktiver Umgang angeleitet und die Klassengemeinschaft zu Kooperation, gegenseitiger Hilfe und Friedfertigkeit angeleitet wird. Kurz: Wenn im Vollsinne unterrichtet wird.[7]

Denn Unterricht bedeutet im Kern das Teilen und Mitteilen von Vorstellungen einer Sache.[8] Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich mit all den Mitteln, dass Schülerinnen und Schüler eine sachgemäße, aber doch immer auch individuell geprägte Vorstellung eines Sachverhalts bilden. Sie versuchen, diese Vorstellungsbildungen der Schüler zu verstehen, greifen sie auf, entwickeln sie weiter, leiten den Austausch der Schülerinnen und Schüler untereinander an und führen das gemeinsame Denken wieder zielführend zusammen, um gemeinsame Erkenntnisse zu formulieren. Insofern ist der Klassenraum ein Raum gemeinsam geteilter Vorstellung, in dem sich die Personen dialogisch miteinander und mit der Sache verbinden. Ja, in gewisser Weise entsteht ein Atommodell in Chemie, eine Raumvorstellung in Geografie, eine Formel in Mathematik oder eine Harmonie in Musik erst in und durch die gemeinsame Vorstellungsleistung. Darin wird Kultur konkret lebendig und von den Schülerinnen und Schülern je individuell reformuliert. Unterricht ist also – bei allem, was man aus soziologischer Sicht ansonsten über die Gründe und Probleme von Schule anführen mag – der spezielle Ort, an dem Menschen ihr kulturelles Leben weitergeben und neu befruchten. Diese spezifische Qualität des Klassenunterrichts kann ein isoliert zu bearbeitender Wochenplan und das digital vereinzelte Arbeiten prinzipiell niemals einholen. Dies spricht nicht gegen sachlich begründetes zeitweises Arbeiten in individuellen Lernformen oder mit digitalen Arbeitsmitteln – aber für deren sekundäre Bedeutung und v.a. gegen deren Verabsolutierung.

In dieser Hinsicht ist so verstandener Unterricht in sozialer Bezogenheit zudem immer auch ein Ort sozialen Ausgleichs, denn er spricht alle jungen Menschen gleichermaßen als lernfähige und bildsame Personen an. Daher ist aus pädagogisch-anthropologischer, lerntheoretischer und inzwischen auch empirischer Sicht klar, dass die Isolierung von Schülerinnen und Schülern in atomisierten Lernsettings die soziale Spaltung forciert. Darauf hat Hermann Giesecke schon früh hingewiesen:

„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. Sozial selektiert wird bereits mit dem ersten Schultag. ‚Offener Unterricht‘, überhaupt die Demontage des klassischen, lehrerbezogenen Unterrichts, die Wende vom Lehren zum Lernen und damit die übertriebene Subjektorientierung, die Verunklarung der Leistungsansprüche, Großzügigkeit bei der Beurteilung von Rechtschreibschwächen (…) hindern die Kinder mit von Hause aus geringem kulturellen Kapital daran, ihre Mängel auszugleichen, während sie den anderen kaum schaden. (…) Das einzige Kapital, das diese Kinder (Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien) von sich aus – ohne Hilfe ihres Milieus – vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie eine Schule, in der der Lehrer nicht nur ‚Moderator‘ für ‚selbstbestimmte Lernprozesse‘ ist, sondern die Führung übernimmt und die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.“[9]

Rückkehr zu Schule und Unterricht

Es ist eine bittere Nebenwirkung des derzeit notfallmäßigen Home-Schoolings, dass dieser Effekt sozialer Spaltung jetzt noch verstärkt werden wird. Daran sind überforderte Eltern in keiner Weise schuld. Umso wichtiger ist aber nach der Rückkehr in den schulischen Normalbetrieb, dass Eltern und Lehrkräfte als Lehre aus der Krise gemeinsam fordern,

  • dass nicht mehr, sondern weniger digitalisiert wird,
  • dass Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Kollegien ihre Unterrichtsformen überdenken,
  • dass Universitäten und die zweite Lehrausbildungsphase Nachwuchslehrkräften wieder in die vollständige Kunst zu unterrichten theoretisch und praktisch einführen,
  • dass Ministerien den Schulen entsprechende Hinweise geben
  • und die Politik jene Digitaladventisten in die Schranken weist, die Corona für ihr Ostern und Pfingsten hielten.

Wenn dann nach der Bewältigung der Krise noch Geld verfügbar ist, das man in den Schulen nicht für dringende Dinge braucht wie etwa Lehrpersonal, Unterstützungsangebote für durch Home-Schooling benachteiligte Schüler, für Bücher, Sporthallen, Kunstwerkstätten, Musikinstrumente, Schulgebäude, funktionierende WCs und dichte Dächer – dann kann man Schule digitaltechnisch auf Grundlage von Open-Source-Lösungen und abgekoppelt vom Internet [10] sowie mit Stellen für Systemadministratoren ausstatten und es den Pädagoginnen und Pädagogen überlassen, wie damit pädagogisch, fachlich und didaktisch sinnvoll umzugehen ist. Denn es geht nicht um die Interessen der Hard- und Softwareindustrie, sondern es geht diesmal tatsächlich um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin.

Die Fußnoten zu den Anmerkungen des Autors sind in der PDF-Datei nachzulesen. https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/04/Krautz-Bildendes-Lernen-braucht-Schule-und-Unterricht-pdf.pdf siehe auch: www.bildung-wissen.eu

Gefahren von Youtube, Whatsapp, Facebook & Co.

„Tausende Programmierer zielen auf dein Hirn“

Tech-Experte Tristan Harris gibt Tipps zur Nutzung von Social-Media und Smartphones im Alltag und warnt vor den Gefahren für Minderjährige.

Tagesspiegel, 08.02.2020, Oliver Voß

Tristan Harris hat das Center für Humane Technology gegründet. Schon während des Studiums am Stanford Persuasive Technology Lab beschäftigte sich Harris mit den psychologischen Effekten von Softwaredesign. Zu seinen Kommilitonen gehörten die späteren Instagram-Gründer Kevin Systrom und Mike Krieger. Auch Harris gründete ein Start-up namens Apture, das 2011 von Google gekauft wurde. Er arbeitete dann für den Suchmaschinenkonzern und sorgte dort zwei Jahre später intern mit einer Präsentation für Wirbel. Darin skizzierte er seine Sorge, die Google-Entwickler würden dazu beitragen, dass immer mehr Menschen immer stärker durch Dinge wie die Benachrichtigungsfunktionen von Apps abgelenkt würden. 

Herr Harris, Sie beschäftigen sich mit negativen Folgen der Technologieplattformen. Wie sollten wir Smartphones und soziale Netzwerke nutzen?

Es geht mir nicht darum, wie wir selbst die Dinge nutzen, sondern wie die Technologie gestaltet ist und die Geschäftsmodelle funktionieren. Wir sind dadurch alle ständig abgelenkt, narzisstisch, ständig empört und desinformiert. Die Welt wird durch die Aufmerksamkeitsökonomie immer verrückter und neigt sich immer stärker zu den Extremen, zu Hassrede und Verschwörungstheorien. Das bringt uns in digitales Mittelalter, wo die Leute immer mehr Zweifel daran haben, was wahr ist, und zerstört das Vertrauen in den Gesellschaften.

Wie können wir lernen, die eigene Aufmerksamkeit besser zu steuern?

Es ist sehr schwer. Sobald man Facebook, Twitter oder Youtube öffnet, ist das meist der Anfang vom Ende. Denn auf der anderen Seite des Bildschirms sitzen Tausende Programmierer, zielen auf dein Hirn und kalkulieren, was die ideale Sache ist, die sie dir zeigen und vor deinem Hirn baumeln lassen können. Das ist eine unfaire, asymmetrische Interaktion. Das Beste wäre daher, soziale Medien gar nicht zu benutzen, wenn man es vermeiden kann. Aber für jemanden, der eigene Botschaften verbreiten und damit viele Menschen erreichen möchte, wie Journalisten, aber auch unsere Organisation, ist das sehr schwer. Wir alle sind daher die nützlichen Idioten, die unbezahlten Uber-Fahrer in der Aufmerksamkeitsökonomie.

Haben Sie trotzdem Tipps zum bewussteren Umgang?

Was man tun kann, ist, Social Media nicht auf dem Telefon, sondern nur am Computer zu nutzen. Oder sich danach auszuloggen, sodass man sich wieder anmelden muss – das erzwingt eine bewusstere Nutzung. Außerdem sollte man alle Benachrichtigungen abstellen.
Wenn es um Probleme von richtiger Abhängigkeit geht, ist es weniger eine Frage, was man mit seinem Telefon macht, sondern mit seinem Leben. Haben wir Dinge, die uns wirklich erfüllen? Dann sollten wir dazu greifen statt zum Telefon. Die eigentliche Lösung eines Suchtproblems ist nicht Nüchternheit, sondern wirkliche Verbindungen im Leben.

Was sollten Eltern ihren Kindern erlauben und was nicht?

Es gibt neue Forschungen von Jonathan Haidt, demnach ist es eine gute Praxis, Kindern bis 13 Jahren gar keine eigenen Smartphones zu geben. Das Problem ist aber, dass sich Eltern verpflichtet fühlen, ihre Kinder Telefone nutzen zu lassen. Denn wenn alle Freunde damit kommunizieren, müssen sie es auch, um nicht ausgeschlossen zu sein. Man muss daher die Eltern ermutigen, diese sozialen Normen zu verändern. Man muss in der Gruppe Schulprinzipien finden.

Warum finden Sie Smartphones bei Kindern so problematisch?

Die Gamification der Identität und des Selbstwertgefühls auf Basis von Likes und Followern im Alter zwischen etwa zehn und 14 Jahren ist so schädlich, dass wir sie nicht erlauben sollten. Das ist eine sehr verletzbare Phase des Lebens, in der die Kinder ihre Identität entwickeln. Doch die Lektion aus den Filtern der Smartphone-Apps lautet: Andere Leute mögen dich, aber nur wenn du einen Filter nutzt, der dich schöner erscheinen und anders aussehen lässt, als du eigentlich aussiehst. Das verankert unrealistische Erwartungen an Aussehen und Identität.

Is this the world we live in?

Ich will Technologie aber nicht grundsätzlich verteufeln, Computer sind übrigens großartig. Es geht um das Design von Smartphones und sozialen Netzwerken, die unsere Aufmerksamkeit manipulieren.

Was raten Sie in Bezug auf Videospiele?

Ich habe als Kind auch Computer gespielt. Bei Telefonen sind die Spiele jedoch direkt neben wichtigen Kommunikationswerkzeugen, viele gehen damit schlafen und stehen damit auf. Das ist eine zu große Nähe zum Alltag und eine gefährliche Vermischung. Es ist daher besser, ein spezielles Gerät nur zum Spielen zu haben, das man nur bei bestimmten Gelegenheiten nutzt. Man muss außerdem sehr vorsichtig sein und sich fragen, ob das Geschäftsmodell des Spieleherstellers mit dem Entwicklungsstand des Kindes zusammenpasst. Wer kümmert sich wirklich um die Kinder und wem geht es nur darum, sie an den Bildschirm zu fesseln? Man sollte übrigens auch wissen, dass sehr viele Menschen im Silicon Valley ihre Kinder keine Smartphones und keine Social Media nutzen lassen.

„Wir müssen uns nur den Aufstieg der digital entrümpelten Schulen [in USA] anschauen. Dort wird es Kindern nicht erlaubt, Smartphones oder Laptops zu nutzen. Die arbeiten dort mit Büchern, mit Papier und Stift. Sehr altmodisch. Aber diese Schulen sind sehr teuer und sehr exklusiv. In einigen Fällen schickt die Silicon-Valley-Elite ihre Kinder auf diese Schulen. Was natürlich unheimlich heuchlerisch ist.“ Aus: Welt, 26.11.2019, Interview von Martin Hahn mit dem amerikanischen Historiker und Suchtexperte David T. Courtwright

Einfügen der Bilder und Kasten in den Text durch Schulforum-Berlin.

Schüler unterschätzen ihre Bildschirmzeit

Für das Zeitungs- und Schulprojekt „Gesund und sicher“ untersuchten Jugendliche des Wald-Gymnasiums, Berlin-Westend, wie viel Zeit Schüler am Handy und mit Sport verbringen.

An diesem Text und dem Projekt haben mitgearbeitet: Thea Ossenberg, Leo Boberg, Annie List, Julian Draenkow, Gregor Radtke, Jannis Stöwer, Fiona Christmann, Vivien Meggyes, Elisabeth Fenniger, Hannah-Marla Stein, Jonas Vlachy, Linus Gentz.

Tagesspiegel, 10.03.2020

„Gesund und sicher“ ist ein medienpädagogisches Projekt, das von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung mit ihren Unfallkassen und Berufsgenossenschaften im Rahmen der Präventionskampagne „kommmitmensch“ initiiert wurde. Schülerinnen und Schüler recherchieren anhand konkreter Beispiele Sicherheits- und Gesundheitsthemen in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen. Bei dem Projekt machen zehn Tageszeitungen in ganz Deutschland mit. Im Tagesspiegel erscheinen auf der Lernenseite Artikel von drei Schülergruppen. In dieser Woche schreiben Jugendliche des Wald-Gymnasiums in Berlin-Westend. Sie haben untersucht, wie viel Zeit Schülerinnen und Schüler für digitale Medien im Vergleich zu sportlichen Aktivitäten aufwenden.

Bei unserem Projekt befassten wir uns ein halbes Jahr lang im Bereich „körperliche und geistige Gesundheit“ mit der Erfassung und Deutung der Zeit, die wir Schüler täglich am Handy verbringen, im Vergleich zum täglichen Sporttreiben. Da gerade diese Themen heutzutage in Familien oft zu Streitigkeiten führen und die ständige Handy-Nutzung unserer Generation bemängelt wird, interessierten wir uns vor allem für den Vergleich mit Sport, da dieser, gerade bei den Jugendlichen, in den letzten Jahren immer weiter in Vergessenheit geraten und vernachlässigt worden ist. Wir wollten wissen, welche Bedeutung Sport und digitale Medien an unserer Schule haben und ob es hierbei auch Unterschiede zwischen den einzelnen Jahrgängen gibt.

Dafür haben wir uns als Zeitungsprojekt AG des Wald-Gymnasiums Berlin unter der Leitung von unserer Lehrerin Frau Vivien Meggyes jeden Montag zusammengesetzt und zunächst Ideen für die Untersuchung und Messung dieser Bereiche gesammelt.

Schüler machen Selbstversuche [siehe nachfolgend die Berichte zweier Schülerinnen]

Gerade weil wir alle Jugendliche sind und die meisten aus unsere Generation schon mit einem Smartphone groß geworden sind, war es für einige ausgeschlossen sich vorzustellen, ein Leben ohne Handy zu führen. Das brachte uns dann relativ schnell auf unsere erste Idee zum Thema Smartphone-Nutzung. Diese betraf die Durchführung eines Selbstexperimentes. Jeder der zwölf Teilnehmer steckte sich hierbei eigene Ziele, damit wir eine große Vielfalt an Erkenntnissen sammeln konnten. Es wurde das Sporttreiben verdoppelt, die Handy-Nutzung reduziert und letztendlich auch ganz auf das elektronische Gerät verzichtet. Dies alles geschah in einem Zeitraum von zehn Tagen, in denen wir unsere Erfahrungen dokumentierten.

Nach den Herbstferien, beim gemeinsamen Besprechen unserer Experimente, stellten wir fest, dass nur acht von uns die Herausforderung angenommen hatten. Andere hatten das Experiment nur zum Teil durchgeführt oder meinten, dass sie eh schon wenig Zeit am Telefon verbringen würden. Und auch das Sporttreiben blieb bei einigen auf der Strecke. Eine von uns hatte das Experiment lustigerweise umgedreht und so viel Zeit sie aushielt am Handy verbracht.

Zum einen hat sich bei den Experimenten herausgestellt, dass man in seinen Tätigkeiten ohne Handy oftmals eingeschränkt ist. Alltäglich organisatorische Dinge, wie zum Beispiel Kommunikation, Wegfindung und Absprachen mit Familie und Freunden waren beschwerlich. Ständig hatte man Ängste, man könne etwas Wichtiges verpassen, weil man die „Reminder“ gewöhnt ist. Viele fühlten sich von der Welt abgeschnitten. Ohne ein Smartphone war man auf einmal ein Außenseiter, und für Außenstehende war dieses Verhalten nur schwer zu verstehen. Das größte Problem lag jedoch bei den meisten an der plötzlich auftretenden Langeweile, die viele von uns ohne Handy überkam. Freizeit ist ein Privileg, nachdem sich viele Menschen sehnen, doch ohne Handy hatte man auf einmal viel zu viel von ihr. Es fehlte uns an der Kunst der Selbstbeschäftigung, die wir, wie wir feststellen mussten, mit den Jahren an unsere Smartphones verloren hatten.

Doch auch bei dem Experiment, bei dem es um viel Handy-Benutzung ging, haben wir erschreckende Erfahrungen machen müssen. Hierzu zählte sowohl die entstehende Ungleichheit in der Kommunikation mit dem Umfeld, als auch das Auftreten gesundheitlicher Probleme. Auch hier führte die übertriebene Handy-Nutzung zur Vernachlässigung des Umfeldes. Durch die mitunter 15-stündige Handy-Nutzung am Tag wurde die Welt um einen herum ausgeblendet. Teil des eigenen Lebens, geschweige denn eines gemeinsamen Familienlebens, war man lange nicht mehr.

Jedes Experiment half dabei, uns besser mit unserem Thema identifizieren zu können. Es war eine Bereicherung für das Projekt, aber auch für uns persönlich, da wir merkten, dass auch ein Leben ohne Smartphone möglich ist und viel zu bieten hat.

Mit einem Fragebogen Sport und Medienkonsum vergleichen

Bei unserer zweiten Idee handelte es sich um eine Umfrage, mit Hilfe eines Fragebogens, der sich speziell auf den Vergleich Sport- und Medienkonsum bezog. Wir interessierten uns vor allem für den Vergleich zwischen den jeweiligen Klassenstufen, da wir davon ausgingen, dass es, trotz geringen Altersunterschieden, Unterschiede in der Handy-Benutzung und den Sporttätigkeiten geben würde. Hierfür befragten wir rund 430 Schüler unseres Gymnasiums, aus den Klassenstufen sieben bis zehn. Besonders fiel uns auf, dass wir viel Zuspruch von den Lehrern erhielten, die sich extra Zeit nahmen, damit unsere Umfragen beantwortet werden konnten. Daran konnten wir erkennen, dass unsere Lehrer dieses Thema auch als sehr wertvoll empfinden.

Ebenso wurden wir bei den Auswertungen überrascht. Je älter die Schüler waren, desto mehr Zeit verbrachten sie täglich am Handy. Nicht etwa um zu lernen oder zu kommunizieren, am meisten Zeit ging für die sozialen Medien drauf, die der Unterhaltung dienten. Es bestätigte sich unsere beim Selbstexperiment gemachte Erfahrung, dass das Handy fast nur genutzt wird, um die eigene Langeweile zu bekämpfen. Auch witzig anzusehen waren die Fehleinschätzungen der Schüler, die raten sollten, wie viel Zeit sie täglich am Handy verbringen. Danach durften sie – von den Lehrern erlaubt – ihre richtige Bildschirmzeit nachschauen und stellten alle voller Überraschung fest, dass es doch ein paar mehr Stunden am Handy waren als gedacht.

In Klasse sieben und acht treiben erstaunlich viele Schüler Sport

Trotz dieser Ergebnisse ließ sich im Hinblick auf sportliche Aktivitäten sagen, dass in den Klassenstufen sieben und acht erstaunlich viele Schüler regelmäßig Sport trieben. Mit dem Alter sanken natürliche auch diese Werte. Hierbei fiel auf, dass so gut wie kein Sport mehr in der Schule getrieben wurde. Bis auf den Schulsport und Schulwettkämpfe interessierten sich viele der Schüler nicht dafür, sich auch in den Pausen sportlich zu betätigen, ausgenommen die Fußballfanatiker unter uns. Interessant wäre es hier, mal Berlin weit zu schauen, ob es an anderen Schulen ähnlich zugeht.

Sowohl die Experimente als auch unsere Umfragen zeigten, dass das Handy in unserer Generation einen hohen Stellenwert hat und aus dem Leben der Jugendlichen nicht mehr wegzudenken ist. Dass das doch so wichtige Sporttreiben immer weiter in den Hintergrund rutscht, wird von den meisten gekonnt ignoriert. Heutzutage gelten andere Prioritäten, wie zum Beispiel gute Kontakte oder eine hohe Follower-Zahl. Doch bedeutet das, dass wir uns in unserem Leben nach unserem Smartphone richten sollten? Können wir noch weiterhin frei entscheiden, was wir gerne tun wollen und was nicht?

Die Untersuchung: Infos und Ergebnisse

An der Untersuchung „Digitale Medien vs. Sporttreiben an der Schule“ haben sich 445 Schüler des Wald-Gymnasiums beteiligt aus den 7. bis 10. Jahrgängen mit jeweils vier Klassen pro Jahrgang. Wir haben die Umfrage mit Hilfe eines selbst erstellten Fragebogens durchgeführt und unsere eigenen Beobachtungen in unserer Zeitungsprojekt AG mit Frau Meggyes später ausgewertet und diskutiert. Die Fragen bezogen sich auf den Zeitpunkt vom Erhalt des ersten Handys und deren Gründe sowie deren Verwendungsart und die Freizeitgestaltung bevor die Schüler ihr erstes Telefon bekamen. Im Bezug auf Sport wurden Zeitrahmen und Sportarten sowie Pausenverhalten im Bezug auf Sporttreiben an unserer Schule erfragt.

Mitunter mussten sich unsere Gymnasiasten der Frage stellen, wie viel Zeit sie in der Woche mit „Digitalen Medien“ auf ihren Smartphones verbringen und wie lange sie im Gegenzug in ihrer Freizeit Sport treiben. Ersteres für die „Bildschirmzeit“ ist mit Hilfe einer App am Telefon erfassbar, manche Telefone haben diese Funktion integriert. Interessant war die Beobachtung, dass die meisten Schüler ihre Bildschirmzeit um circa 10 Prozent unterschätzten. Mit dem Alter steigt der Medienkonsum. Während der durchschnittliche Siebtklässler „nur“ 18,48 Stunden die Woche am Handy verbringt, benutzt der durchschnittliche Zehntklässler 29,35 Stunden Digitale Medien an unserer Schule. Der hohe Anstieg der Mediennutzung könnte mitunter daran liegen, dass viele Schüler mit dem Alter ihre Smartphones nicht nur zum Zeitvertreib, sondern auch für Recherchen benutzen. Beim genaueren Nachfragen haben wir mitbekommen, dass digitale Medien benutzt werden, um sich über Themen zu informieren, Referate vorzubereiten und auch Hausaufgaben zu erledigen. Dennoch wird das Sporttreiben bei den Schülern in allen Klassenstufen vernachlässigt. Dies kann man deutlich bei allen Klassenstufen insbesondere jedoch an dem 9. Jahrgang erkennen. In dieser Klassenstufe wird durchschnittlich nur 1,43 Stunden die Woche Sport getrieben abgesehen vom Schulsport. Das ist eindeutig zu wenig. Das regelmäßige Sporttreiben ist wichtig, denn Körper und Geist brauchen dieses, um uns junge Menschen gesund zu halten und einen Ausgleich für die Schule zu bieten. Des Weiteren haben wir mitunter in der Umfrage erfasst, wann die Schüler ihr erstes Smartphone bekommen haben. Während 8 Prozent der befragten Zehntklässler ihr Handy nach der sechsten Klasse bekommen hatten, hatten die befragten Achtklässler alle ihr Handy schon bis zur 6. Klasse erhalten. Immer wieder sieht man kleinere Kinder mit ihren Smartphones durch die Gegend laufen.

zum Artikel im Tagesspiegel über das Projekt „Gesund und sicher“ – Schüler unterschätzen ihre Bildschirmzeit


Für Teenager unvorstellbar: Eine Woche ohne Smartphone

Für das Zeitungs- und Schulprojekt „Gesund und sicher“ hat die Schülerin Annie List des Wald-Gymnasiums, Berlin-Charlottenburg, eine Woche auf ihr Handy verzichtet. Hier ihr Bericht:

Eine Woche ohne Smartphone – für viele Teenager ist das eine unvorstellbare Situation. Auch ich nutze mein Handy viele Stunden am Tag. Es ist fest in den Alltag eingebunden und gehört zum Leben. Man ist gewissermaßen abhängig von diesem Gerät. Ob man Freunde kontaktieren, das Wetter oder auch nur die Uhrzeit checken möchte, das Handy steht immer zur Verfügung. Doch was passiert, wenn das Smartphone mal nicht zur Stelle ist? In einem Experiment will ich herausfinden, wie sich mein Alltag ohne Smartphone-Nutzung verändert. Deshalb lege ich mein Handy eine Woche zur Seite. Um zu widerstehen, kommt das Handy in eine Box, die zugeklebt wird. Und dann geht es auch schon los.

Gleich am ersten Tag fällt mir auf, dass ich erst meine Schulaufgaben und Hausarbeiten erledige, bevor ich mich ausruhe. Normalerweise wäre ich nach Hause gekommen und hätte erst einmal ein bis zwei Stunden am Handy gesessen. Nun lasse ich mir für alles mehr Zeit und arbeite ordentlicher. Ich benutze meine Armbanduhr, und um Musik zu hören, schalte ich das Radio ein. Ich erledige Dinge, die ich sonst vor mir hergeschoben hätte. Bis zu dem Punkt, an dem ich nichts mehr zu tun habe.

Was fängt man mit der freien Zeit an?

Wahrscheinlich gibt es tausend Dinge, die man machen könnte, doch mir fehlen die Ideen. Ich weiß nicht, wie ich mich beschäftigen soll, und schnell wird mir langweilig. Ich war nie wirklich kreativ, aber man sollte doch wissen, was man mit seiner freien Zeit anfängt? Dieses Problem hat sonst immer mein Smartphone behoben. Ich frage mich, wann mein Handy angefangen hat, mein Leben zu gestalten.

In den nächsten Tagen bestätigt sich mein Eindruck. Man braucht kein Social Media, doch gerade in der Schulzeit fehlt das Handy, um auch mal etwas zu googeln. Ich schaue viel Netflix, um die Langeweile etwas zu bekämpfen, was im Endeffekt ja auch nicht viel besser als Youtube & Co ist. An den Abenden verbringe ich mehr Zeit mit meiner Familie und gehe eher schlafen.

In der Mitte der Woche ist Ferienbeginn, und ich packe den ganzen Tag meine Taschen, um zu verreisen. Meine eigene Musik fehlt mir dabei sehr. Als ich bei meinen Großeltern ankomme, fühle ich mich sehr wohl ohne Handy, da ich so der Familie mehr Zeit widmen kann. Auch hier merke ich, dass mein Experiment viel Aufsehen erregt. Ich denke nicht viel über mein Handy nach, bis ich ständig auf das Thema angesprochen werde. Heutzutage ist es außergewöhnlich, kein Handy zu besitzen, was ich schockierend finde, wenn ich länger darüber nachdenke.

Am letzten Tag ohne Smartphone bin ich mir sicher, dass ich noch weitermachen könnte, doch ich weiß genau, dass ich gleich am nächsten Morgen mein Handy wieder benutzen werde. Der Gedanke stört mich, doch die Neugier gewinnt. Ich will unbedingt wissen, was ich in der Zeit, als ich offline war, verpasst habe. Als es dann so weit ist, schaffe ich es genau bis zum Frühstück. Danach schalte ich mein Handy wieder ein, und wie zu erwarten habe ich nichts Wichtiges verpasst. Ich genieße es, spontan erreichbar zu sein und auf Musik zugreifen zu können, aber für den restlichen Tag nehme ich mein Handy nirgends mit hin.

Wie es nach dem Experiment weitergeht

Nach dem Experiment kann ich meine Handynutzung noch eine Weile stark einschränken. Es wird erst wieder mehr, als mir langweilig ist. Jetzt benutze ich mein Smartphone genauso häufig wie vor dem Experiment. Mir fällt auf, dass ich es fast nur dann benutze, wenn mir langweilig ist. Wenn ich lernen würde, meine Zeit produktiv zu nutzen, könnte ich mein Smartphone-Verhalten stark eingrenzen. Das Handy ist nicht notwendig, aber situationsbedingt vereinfacht es das Leben sehr. Ich werde in Zukunft probieren, es öfter mal zur Seite zu legen.


„Ich wollte schauen, was bei einem übertriebenen Handykonsum passiert“

Die Schülerin Hannah-Marla Stein, Wald-Gymnasium, Berlin-Charlottenburg, hat im Rahmen des Projekts „Gesund und sicher“ ein paar Tage lang so viel Zeit wie möglich am Handy verbracht. Ein Interview:

Welchen Herausforderungen hast du dich bei unserem Selbstexperiment gestellt?
Ich habe mir vorgenommen genau das Gegenteil von dem zu machen, was unsere Lehrerin, Frau Meggyes, ursprünglich vorgeschlagen hat. So kam mir die Idee, dass es viel spannender wäre zu sehen, was passieren wird, wenn ich extrem viel Zeit an meinem Handy verbringe.

Wie lange warst du insgesamt am Handy?
Ich habe während meines Selbstexperimentes in den Ferien ganze 15 Stunden am Handy verbracht.

Womit hast du dich an deinem Handy am meisten beschäftigt?
Am Anfang war ich zunächst in den sozialen Netzwerken unterwegs, wie zum Beispiel auf Instagram und habe geschaut, welche Fotos meine Freunde gepostet haben. Irgendwann jedoch habe ich alle neuen Beiträge gesehen. Die meiste Zeit habe ich dann mit Netflix verbracht. Dort habe ich einige Filme und Serien angeschaut.

Betrachtest du dein Experiment als gelungen?
Ich habe mein Vorhaben nur für einen kurzen Zeitraum von drei Tagen durchgehalten. Danach haben sich die ersten Probleme bemerkbar gemacht, und ich musste das Experiment abbrechen.

Inwiefern ist es dir schwer gefallen so viel Zeit am Handy zu sein?
Schwer fiel es mir am Anfang nicht, da ich auch ohne Experiment viel am Handy bin. Schnell habe ich jedoch bemerkt, dass es nach einer Weile ziemlich langweilig wird.

Hast du irgendwelche Beschwerden bemerkt, nachdem du so viel Zeit am Handy verbracht hast?
Nach den ersten acht Stunden machten sich die ersten Anzeichen bemerkbar: meine Augen fingen an weh zu tun. Nach etwa zehn Stunden bekam ich zunehmend Kopfschmerzen, aber ich wollte mein Vorhaben nicht aufgeben. 

Die Kopfschmerzen wurden dann immer schlimmer und schlimmer. Als ich schon am ersten Tag 15 Stunden an meinem Handy war, musste ich das Experiment in der Form abbrechen. An den folgenden Tagen war ich dann noch 3 bis 4 Stunden am Telefon. Ich hatte extrem starke Kopfschmerzen und meine Augen fühlten sich trocken und voller Druck an. Es machten sich aber nicht nur körperliche Erscheinungen bemerkbar; Meine Laune wurde immer schlechter und ich wurde immer gereizter, je länger ich das Experiment durchgeführt habe. Auch habe ich mich um nichts und niemanden mehr gekümmert um mich herum.

Wie hat dein Umfeld darauf reagiert, dass du so viel am Handy warst?
Zunächst fanden sie die Idee gut, da es sie auch interessierte, ob sich Beschwerden bemerkbar machten. Meine Eltern fing es jedoch schnell zu nerven an, weil ich sozusagen in meiner eigenen Welt und nicht wirklich ansprechbar war. Ich habe sogar Kopfhörer aufgesetzt, um nicht einmal ihre Stimme wahrzunehmen.

Was hast du aus deinem Experiment gelernt?
Auf jeden Fall werde ich meinen Handykonsum in Zukunft erheblich einschränken und ich finde das sollten wir alle tun, da ich erlebt habe, dass es tatsächlich körperliche Schäden verursacht. Auch wenn man es selbst nicht als gefährlich wahrnimmt, bin ich mir jetzt sicher, dass eine hohe Bildschirmzeitzeit zu Langzeitschäden führt. 

Das Interview führte Fiona Christmann.