Archiv für den Tag: 8. Februar 2021

Im Schulfach Mathe erfolgreich sein

Problemlösekompetenz Mathematik – eine Crux für Verwöhnte?

Mathematik ist für viele Kinder ein Problemfach. Jedem vierten Kind droht hierzulande die Gefahr, beim Wechsel in die Sekundarstufe den Anschluss zu verlieren. Das hat einmal mehr die Studie TIMSS 2019 gezeigt. In Deutschland erreichten 25,4 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler nur die unteren zwei von insgesamt fünf Kompetenzstufen. Warum scheitern so viele Kinder am Fach Mathe? Weil sie es nicht gewohnt sind, Probleme hartnäckig zu lösen, wenn sich Erfolge nicht im Handumdrehen einstellen, meint Gastautor Michael Felten.

Deutsches Schulportal, 01.02.2021, Michael Felten

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten war 35 Jahre Gymnasiallehrer in Köln. Heute berät er Schulen in punkto evidenzbasierte Unterrichtsqualität, veröffentlicht pädagogische Sachbücher (siehe Bücherliste und unter LINKS) und schreibt u.a. für ZEIT-online und SPIEGEL-online.

Die Debatte über Qual und Qualität des Matheunterrichtes bleibt oft bei den Rahmenbedingungen und Unterrichtsmodalitäten hängen. Zwar sind volle Klassen, verkürzte Schulzeiten oder unübersichtlich gewordene Schulbücher für das Mathelernen nicht gerade förderlich. Wenn dann die Lehrkraft noch unnötig abstrakt erklärt, wenn sie zu wenig Wert darauf legt, Muster und Strukturen deutlich werden zu lassen, wenn das Unterrichtsklima weder anregend noch fehlerfreundlich ist …

Kaum thematisiert wird hingegen, dass das Fach Mathe auch eine ganz spezifische Tücke hat. Zyniker könnten ja sagen: In Englischstunden redet man nur miteinander, Deutschtexte werden oft zerredet, in Philosophie redet man mehr oder weniger gescheit im Kreis – in Mathematik aber gilt es, zu denken. Tatsächlich geht es in diesem Fach vorrangig um Logik. Richtig oder falsch sind eindeutige Kategorien und damit nicht verhandelbar. Deshalb wäre mit einer „Pädagogik der Ermäßigung“ (Fulbert Steffensky) – die Stoffmenge reduzieren, das Erarbeiten spielerischer gestalten, die Klassenarbeiten leichter machen – in Mathe auch nichts gewonnen.

Das Problem erfassen, einen Lösungsplan entwickeln und das Ergebnis beurteilen

Worin besteht eigentlich der Kern des Mathematiklernens? Der Mathematiker George Pólya charakterisierte die Stufen mathematischen Problemlösens, ob in Grundschule oder Gymnasium, so: Man muss das Problem zunächst erfassen, dann einen Lösungsplan entwickeln, diesen auch durchführen und das Ergebnis abschließend beurteilen. Für die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern gilt deshalb: „Im Mathematikunterricht ist die geistige Aktivität des Verstehens entscheidend.“ Verstehen sieht sie dabei wesentlich als „Ergebnis eines aktiven Konstruktionsprozesses auf Seiten des Lernenden“ – und nicht als eine simple „Übertragung von Wissen vom Lehrenden auf den Lernenden“.

Aktiver Konstruktionsprozess: Das hört sich gut an, ist aber genau die Crux. Schon vor 100 Jahren beobachtete Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie: „Rechnen ist für verzärtelte Kinder immer ein gefährliches Fach.“ Unter Verzärtelung verstand Adler das, was wir mittlerweile seelische Verwöhnung nennen – also nicht ein Übermaß an Bonbons, Klamotten oder Taschengeld, sondern die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen.

Irrwege verkraften und nicht vorschnell aufgeben

Das ist verständlich, wirkt aber auf Kinder leider nicht förderlich, sondern eher entmutigend, schwächend. An Stolpersteinen wachsen sie nämlich, reift ihr Selbstwirksamkeitsgefühl. So aber können sie sich daran gewöhnen, bei aufkommenden Problemen die Hände in den Schoß zu legen und auf Hilfe zu warten, entweder sofort oder jedenfalls zu früh. Und das ist in der Mathematik ein Problem, weil die Inhalte ab einem gewissen Level nicht mehr intuitiv zugänglich sind.

Je verwöhnter ein Kind ist, desto schwerer wird es sich deshalb damit tun, die für das Mathelernen geistige Aktivität aufzubringen: etwas ausprobieren, sich Vorstellungen von Situationen oder Rechenhandlungen machen, die Enttäuschung von Irrwegen verkraften, nicht vorschnell aufgeben. Ganz zu schweigen von den Grundtugenden effektiven Lernens: sich konzentrieren, auch wenn man nicht im Mittelpunkt steht; gründlich genug üben, hartnäckig bleiben, auch wenn Erfolge sich nicht im Handumdrehen einstellen. Verwöhnte Kinder aber gibt es heute viele, quer durch alle Schichten. Albert Wunsch sprach von der „Verwöhnungsfalle“ in der modernen Erziehung.

Kinder brauchen im Unterricht Anregungen, um nach Lösungswegen zu suchen

Wenn Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten mit Mathe haben, dann kann das zwar an der Lehrkraft liegen. Häufige Ursache ist aber auch das Kind selbst: seine Motivation und seine Arbeitshaltung, bisweilen auch entmutigende Vorerfahrungen in diesem Fach – oder auch nur Stofflücken oder, präziser gesagt, „nicht bewältigte fachliche Hürden“ (Wolfram Meyerhöfer). Dazu gehören die Ablösung vom zählenden Rechnen, das Verständnis des Stellenwertsystems oder die Logik der Rechenoperationen. Etwaige Intelligenzunterschiede sind demgegenüber für pädagogisches Handeln nachrangig. Zwar kann nicht jedes Kind ein Mathegenie werden, aber jedes kann jederzeit dazulernen.

Was täte Kindern also gut, wenn sie im Schulfach Mathematik erfolgreich sein wollen? Zunächst eben Eltern, die sie nicht verwöhnen, sondern ihnen schon als Kleinkind – neben emotionaler Sicherheit – vielfältige Herausforderungen und kalkulierte Belastungen bieten. Sodann Lehrerinnen und Lehrer, die unermüdlich um kognitive Aktivierung ihrer Schülerinnen und Schüler bemüht sind: ihnen Raum für mathematische Erfahrungen geben; sie anregen, eigene Lösungswege zu suchen oder Verständnishürden zu identifizieren; sie Zusammenhänge mitvollziehen lassen, aber auch Entdecktes gründlich sichern und vernetzen. Nicht zuletzt dürfen Kultusbehörden die fachlichen Erwartungen nicht unnötig niedrighängen. Denn die Forschung spricht dafür, dass anspruchsvoller, am Verstehen orientierter Matheunterricht nicht zu Lasten der schwächeren Schülerinnen und Schüler geht.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors auf Schulforum-Berlin. Erstabdruck auf dem „Deutschen Schulportal“.